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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:180] I. A. Braun: Meine Damen und Herren,
dieses X. Freudenstädter Forum zu Generationen-Solidarität in Europa moderiere ich nicht nur, sondern ich leiste auch zum erstenmal einen inhaltlichen Beitrag für die deutsche Situation. Erlauben Sie mir trotzdem, daß ich diesen Beitrag zum letzten Freudenstädter Forum mit einer auf den ersten Blick zunächst sehr persönlichen Anmerkung zum Gegenstand meiner Arbeit in diesem europäischen Feld der politischen Erwachsenenbildung beginne. Und zwar mit einem Beitrag, der in der Woche nach der Buchmesse etwas mit einigen Büchern - oder doch wenigsten Broschüren - zu tun hat. Als ich im Wintersemester 1959/60 nach zwei Jahren als Hilfsarbeiter in der Textil- bzw. Metallindustrie mein Studium der politischen Wissenschaft in Tübingen begonnen habe, da brachte ich zwar eine gewisses natürliches Interesse an der Sozialpolitik mit, aber am Lehrstuhl von Theodor Eschenburg wurde dieses Feld eigentlich als eine angestammte Domäne der Nationalökonomie betrachtet, und dazu wurde dann auch keine Vorlesung, kein Seminar und keine Anfänger-Übung gehalten. Aber irgendeinem Assistenten, der die Literaturliste für Erstsemester zusammengestellt hat, muß das dann doch bei diesem Thema irgendwie peinlich gewesen sein und er schrieb einen einzigen Titel zur Sozialpolitik hinein: Sozialpolitik und Sozialreform ein einführendes Lehr- und Handbuch der Sozialpolitik, 1957 von Erik Böttcher in der Reihe Veröffentlichungen der Akademie für Gemeinwirtschaft Hamburg herausgegeben. Geschickterweise wurde das Buch von Mohr-Siebeck in Tübingen verlegt, bei Göbel in Tübingen gedruckt und bei der Großbuchbinderei Koch in Tübingen gebunden, sodaß ich dort für nur dreizehn DM ein ungebundenes, nicht geschnittenes, nur geheftetes Exemplar erwerben konnte. (Diese ungeschnittenen Exemplare konnten aber auch ein verflixt verläßlicher Maßstab für den Studienfortschritt sein, weil man ihnen ansehen konnte, ob der Leser mit dem Text zurecht kam oder nicht; wenn nicht, hörten die aufge- [Seite der Druckausg.:181] schnittenen Seiten nach einer Weile auf!) Das ist mir mit dem Böttcher nicht passiert; im Gegenteil: in dieser wirklich knappen Einführung von 300 Seiten wurde mit Beiträgen von Erich Arndt über Karl-Martin Bolte bis zu Bruno Molitor die creme de la creme eines Faches präsentiert, das sich längst von der Nationalökonomie emanzipiert hatte. Hier wurde nicht nur Horst Jechts Gutachten Der Einfluß der Produktivitätsrente auf die langfristige Wirtschaftsentwicklung aus der Schriftenreihe des BMA vom April 1956, Elisabeth Liefmann-Kiels Beitrag Rentenreform und Lohnpolitik aus den Gewerkschaftlichen Monatsheften vom Mai 1956 und Wilfried Schreibers im August 1956 in der Schriftenreihe des Bundes Katholischer Unternehmer erschienene Denkschrift Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft wieder abgedruckt, die alle drei miteinander die gedanklichen Grundlagen für die große Rentenreform von 1957 mit der dynamischen Rente gelegt hatten; hier konnte man auch den bis heute unwiderlegten Satz des kurz zuvor verstorbenen Gerhard Mackenroth finden: Kapitalsammlungsverfahren und Umlageverfahren sind also der Sache nach gar nicht wesentlich verschieden. Volkswirtschaftlich gibt es aber nur ein Umlageverfahren, d.h.eben: aller Sozialaufwand wird auf das Volkseinkommen des Jahres umgelegt, in dem er verzehrt wird. Und Oswald von Nell-Breunings Thema von damals Solidarität und Subsidiarität im Raume von Sozialpolitik und Sozialreform hat mich in meiner weiteren Arbeit bis zum Vertrag von Maastricht begleitet oder verfolgt - je nachdem! Da ich diesen Zugang zum sozialpolitischen Feld als Politikwissenschaftler und nicht als Ökonom gefunden hatte, haben mich schon recht bald die historischen und ideologischen Wurzeln der Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik interessiert und ich galt bei den JUSOS hier im Land als ein Exot, weil ich ein Politikfeld bearbeitet habe, das eigentlich den Gewerkschaftern vorbehalten war und in dem Studenten nichts zu suchen hatten; aber immerhin haben sie mich zum Berater der Landtagsfraktion hochgejubelt und als solchen in einer Bildungsreihe zu Grundsatzthemen eingesetzt; und da kamen dann meine theoretischen Ansprüche an eine moderne Sozialpolitik auf die JUSOS nieder - Sie sehen: wir haben das damals [Seite der Druckausg.:182] schon so gemacht wie Gerhard Schröder heute: wir waren die Modernisierer! Das nächste Buch, das für meine Erfahrungen mit der - zunächst bundesdeutschen - Sozialpolitik sehr wichtig wurde, kam äußerlich auch recht bescheiden daher: als Bundestags-Drucksache Nr. 643 der VI. Legislatur-periode, betitelt Sozialbericht 1970 aber inhaltlich mit einem gewaltigen Anspruch: Mit diesem Bericht legt die Bundesregierung erstmalig eine zusammenfassende Darstellung von Problemen und Aufgaben der Sozialpolitik sowie das Sozialbudget 1969/70 vor. Damit wird der Anfang einer Berichterstattung gemacht, die kontinuierlich fortgesetzt werden soll. Sie orientiert sich an den Entwicklungstendenzen unserer gesellschaftlichen Ordnung und versucht, die Anforderungen an die Sozialpolitik und die anderen Bereiche der Gesellschaftspolitik herauszuarbeiten. Der vorliegende Bericht verzichtet bewusst auf eine deskriptive Darstellung und Erläuterung der gegenwärtig geltenden Systeme und Gesetze. Er geht vielmehr von der Notwendigkeit innerer Reformen aus und versucht aufzuzeigen, wo sich für eine Weiterentwicklung der Sozialpolitik neue Ansätze und Möglichkeiten ergeben. Auf dieser Basis will die Bundesregierung sozial- und gesellschaftspolitische Vorhaben entwickeln und zur Diskussion stellen. Sie folgt damit der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969. Darin hat sie angekündigt: Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass durch Anhörungen im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken. Die Bundesregierung legt den Sozialbericht dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat vor, um die gesetzgebenden Körperschaften über die [Seite der Druckausg.:183] Pläne und Vorhaben der Regierung in einem bedeutsamen Bereich der Innenpolitik zu unterrichten. Der Sozialbericht besteht aus zwei Teilen. Die Bundesregierung möchte auf diese Weise dazu beitragen, dass sich das Verständnis für die Fortentwicklung der Sozialpolitik vertieft und neue Fragestellungen und Aufgaben im Dialog zwischen den sozialen Gruppen und Verbänden in weiten Kreisen unseres Volkes und im Bereich der Sozialwissenschaften aufgegriffen werden. Dieser Ansatz einer Art Politikberatung und Politikplanung spiegelte die Erfahrung der Regierung Kiesinger, des Kabinetts der Großen Koalition von 1966 bis 69, wider: unter dem ernormen Erwartungsdruck, einerseits den Haushalt sanieren zu müssen und andererseits den Reformstau auflösen zu wollen, hatte man große Projekte, wie die Transformation der Arbeitslosenversicherung in die Arbeitsförderung oder die Reform der beruflichen Bildung zwar in bewundernswert kurzer Zeit gemeinsam gesetzgeberisch geschultert, aber man hatte doch den Eindruck, viele Entscheidungen ohne ausreichende empirische Grundlagen gefällt zu haben. Übrigens: kommt Ihnen dieses Zusammentreffen von Haushaltssanierung und gesellschaftspolitischer Modernisierung-Strategie nicht doch irgendwie bekannt vor? In der Folge blühte dann das Berichtswesen auf: vom zweiten Frauenbericht 1972 über den zweiten Familienbericht 1975 bis zum - ja - ersten Altenbericht 1993, der 1989 von Ursula Lehr als Ministerin in Auftrag gegeben worden war. Vorausgegangen war das Pilotprojekt des 1982 für die Weltversammlung der VN zu Problemen des Alterns und des Alters im Juni 1982 in Wien vom DZA unter der Federführung von Margret Dieck erarbeiteten Fachberichts zur Situation älterer Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu wird die spanische Präsidentschaft im Jahr 2002 eine Jubiläumskonferenz in Madrid ausrichten und für die deutsche Bundesregierung arbeitet eine eigens dafür eingesetzte Arbeitsgruppe den neuen Fachbericht für die Bundesrepublik Deutschland aus. Inzwischen hat der Deutsche Bundestag seit der 12. Wahlperiode jeweils eine Enquete-Kommission Demographischer Wandel eingesetzt, die bisher zwei Zwischenberichte vorgelegt hat. Und damit wären wir wieder ganz eng bei unserem Generationen-Thema. [Seite der Druckausg.:184] Doch zunächst eine allgemeine Bemerkung: diese Berichte hatten für die Arbeit der politischen Erwachsenenbildung eine enorm qualitätssichernde Funktion (um es im heutigen Jargon auszudrücken!): wir konnten zum ersten Mal einigermaßen unabhängig von der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, der Parteien und der Interessengruppen selbst Einblick nehmen in die empirischen Grundlagen für die anstehenden großen gesellschaftspolitischen Entscheidungen. Und dies wurde umso wichtiger, je kontroverser die politische Debatte wurde: die gesamte neue Ostpolitik und erst recht die Deutschlandpolitik der sozialliberalen Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt sind ohne die seit 1971 vorgelegten Berichte zur Lage der Nation mit ihren jeweiligen Materialienbänden nicht denkbar (der letzte ist 1987 erschienen). Hier wurde von den beteiligten Forschern um Peter Christian Ludz aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen die Methode des Systemvergleichs entwickelt und bis zur letzten 1985 erschienenen 3. Auflage des DDR-Handbuchs vervollkommnet. Einen breiten Raum in den Materialien nahm auch der Vergleich der sozialen Sicherung und Vergleich der Lebenslage gesellschaftlicher Gruppen wie Familien, Frauen und alte Menschen ein; wie auch in den anderen, nur auf die BRD bezogenen, Fachberichten etwa zu Frauen und Familien allmählich den Älteren eigene Kapitel gewidmet wurden. Und so lag seit dem Beginn meiner hauptamtlichen Tätigkeit bei der Gesellschaft für Politische Bildung in Würzburg im Jahr 1969 ein Schwerpunkt meiner Arbeit auf dem Gebiet des innerdeutschen Wettbewerbs der Systeme, Unterabteilung Soziales und Alter. Und dann kam der 9. November 1989 mit seiner für meine Arbeitsfelder doppelten Bedeutung: denn nicht nur die Grenze in Berlin wurde am Abend dieses Tages geöffnet; nachmittags verabschiedete der Deutsche Bundestag mit breiter Mehrheit die Rentenreform, die 1992 in Kraft treten sollte. Es war der letzte Versuch, den parteiübergreifenden Renten-Konsens von 1957 zu erneuern; danach hat Norbert Blüm seinen als Reform getarnten Leistungsabbau nur noch mit der Koalitionsmehrheit durchgesetzt - zuletzt 1997 den Rentenabschlag per demographischem Faktor. [Seite der Druckausg.:185] Dem 9. November 1989 folgte am 18. Mai 1990 der 1. Staatsvertrag zur Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zur sozialpolitischen Flankierung des wirtschaftlichen Umstellungsprozesses im Zuge der Währungsunion (Weidenfeld/Korte: Handwörterbuch zur deutschen Einheit). Hier blieben all die mühsam gewonnenen Einsichten in die systematischen Mängel der bundesdeutschen Sozialpolitik - sozusagen Früchte des Systemvergleichs - unberücksichtigt: dem vereinigten Deutschland wurde das bundesdeutsche System nahtlos übergestülpt, alle sogenannten Errungenschaften der DDR wurden getilgt; da halfen auch alle guten Ratschläge und vermittelnde Bemühungen der Sozialwissenschaftler und erprobten Systemvergleicher nichts (z. B. Böckler-Stiftung). Und so schloß sich das deutsch-deutsche Fenster zum Arbeitsfeld Generationen-Politik und Generationen-Solidarität - weggeklickt sozusagen und abgelegt in der Vorgeschichte der Einheit. Aber, wenn die Not am größten, ist die Hilfe nicht fern: Drei Wochen vorher, am 24. April 1990 hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag für einen Beschluß des Rates über gemeinschaftliche Aktionen zugunsten älterer Menschen vorgelegt, der am 16. Mai vom Rat vorläufig auch akzeptiert worden war, zu dem das EP am 11. Oktober Änderungswünsche angemeldet hatte, und der schließlich zum (Minister-)Ratsbeschluß vom 29. November 1990 führte mit dem Artikel 1: In der Zeit vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Dezember 1993 werden Aktionen auf Gemeinschaftsebene zugunsten älterer Menschen unternommen. Ich habe diese Entwicklung auf dem zweiten Freudenstädter Forum 1992 so kommentiert: Und wenn man sich dann näher ansieht, was das für Aktionen sein sollen, dann sind das nicht etwa Märsche auf Brüssel oder Streiks oder Blockaden, sondern dann heißt es: Die Aktionen haben das Ziel, durch Weitergabe von Kenntnissen, Ideen und Erfahrungen, insbesondere im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Binnenmarktes, einen Beitrag [Seite der Druckausg.:186] zu den Aktionen in die Mitgliedsstaaten zu leisten, die sich auf folgendes beziehen:
Das war im Prinzip der Inhalt dieser Aktionen. Und dann hat man auch noch gesagt, was machen wir technisch? Wir machen Aufklärung und Informationsaustausch, wir führen Studien durch und wir errichten ein Observatorium also ein Beobachtergremium, das es ermöglicht, den Betroffenen vorhandene, einschlägige Informationen z. B. aus Forschungsarbeiten zur Verfügung zu stellen. Und schließlich prüfen wir den Nutzen und die Durchführbarkeit der Einrichtung eines europäischen Netzes innovativer Modellversuche. Das sah nicht nach viel aus, aber die Geschichte hat sich inzwischen ein bißchen verselbständigt. Sie ist nämlich bei den Betroffenen in allen Ländern der Gemeinschaft auf ein völlig unerwartetes Echo gestoßen. Parlament und Kommission haben gemeint, sie müssten mal sozusagen wieder von oben herunter ein Problem in die Gemeinschaft tragen. Und dann haben sie sich gewundert, dass da eine ganze Menge Leute waren, die haben gesagt, das wissen wir, und das Problem kennen wir, und was habt ihr uns denn jetzt zu bieten? Herausgekommen ist u. a. dieses Observatorium, das regelmäßig Berichte über die Situation älterer Menschen in einzelnen Staaten in Auftrag gibt. Also Studien, wie sieht ein Sachverhalt in Irland aus, wie sieht es in der Bundesrepublik aus, usw. [Seite der Druckausg.:187] Meine Erwartung ist, dass das nicht 1993 aufhört, sondern dass dieses Informations- und dieses Forschungsnetz weiter bestehen wird und das ist ja oft bei der Politikformulierung oder politischen Beratung ganz wichtig, dass es so ein Informationsnetz gibt, das arbeitet. Das Zweite ist: es gibt einen beratenden Ausschuss aus Regierungsvertretern der einzelnen Länder, die unter dem Vorsitz der Kommission die erhaltenen Informationen in Richtung von Aktionen für die Kohäsion, den sozialen Zusammenhalt in der Gemeinschaft weiter entwickeln. Und schließlich sollte eine Verbindungsgruppe geschaffen werden, in der Vertreter aus Seniorenorganisationen sich zweimal im Jahr mit der Kommission bzw. mit dem Rat treffen und auch die Kommission dabei beraten, welche Aktionen man machen sollte, welche Forschung man unternimmt. Und ich glaube schon, dass es daran lag, dass wir plötzlich - so wie es halt gerade passte - 5 transnationale Organisationen hatten, die dann auch in dieser Verbindungsgruppe die entsprechenden Sitze besetzt haben. Was haben wir zu erwarten?
Soweit man damaliger Kommentar. Der hat sich dann zumindest in dem Punkt Bundesaltenplan als eine böse Fehleinschätzung erwiesen: Denn das war eine Alibi-Veranstaltung der Regierung Kohl und diente nur dazu, im Herbst 1995 die von der Kommission, allen anderen Regierungen und den Betroffenen-Verbänden unterstützte Fortsetzung des Programms für 01.09.95 bis 31.12.99 mit der Berufung auf das Subisidaritätsprinzip zu blockieren - gegen den empfehlenden Beschluß des Deutschen Bundesrats vom 02.06.95 und die Beschlußempfehlung des Bundestagsauschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 03.07.95. Weil die Väter der Römischen Verträge sich nicht für allwissend hielten, haben sie im Artikel 235 des Vertrages vorgesehen, daß der Gemeinschaft neue Aufgaben übertragen werden können, wenn dies durch einstimmigen Beschluß des Ministerrats geschieht: Der Vorschlag der Kommission, gemäß Artikel 235 ein Zweites Aktionsprogramm zugunsten älterer Menschen in Eu- [Seite der Druckausg.:189] ropa aufzulegen, wurde von der Bundesrepublik Deutschland in der Sitzung vom 25.06.95 als einzigem Mitgliedsstaat angelehnt und kam auch bei einem neuerlichen Versuch im Oktober nicht zustande. Als Kommission und Parlament trotzdem eine sog. Haushaltslinie für diese Maßnahmen eingerichtet haben, hat das Vereingte Königreich, unterstützt von der deutschen Bundesregierung, erfolgreich vor dem EuGH dagegen geklagt. Aber die Fritz Erler Akademie hat sich von Anfang an an den das erste Aktionsprogramm begleitenden Informations-Kampagnen der Generaldierektion V. der Gemeinschaft beteiligt und dafür ein Netzwerk von sachkundigen und - das war ganz wichtig - deutsch sprechenden Kollegen aufgebaut, das bis heute in zehn Freudenstädter Foren und in jährlich jeweils rund einem halben Dutzend weiteren Veranstaltungen zu binationalen Fragen der Generationenpolitik miteinander kooperiert hat. Vorletzte Bemerkung: Am 19. September 1988 hatte der ehemalige Innenminister von Baden-Württemberg, Professor Walter Krause, einen Vortrag vor der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Landtags von Baden-Württemberg gehalten und unter der Schlagzeile Die alternde Gesellschaft das sehr eindrücklich und verständlich skizziert, was bei den Bevölkerungswissenschaftlern unter dem Kürzel demographischer Wandel diskutiert wurde; der letzte Absatz dieses Vortrags lautete: Die Alten werden in der Gesellschaft der Zukunft viele Freiheiten erlangen, ihr Leben selbst zu gestalten. Sie werden an Einfluß gewinnen und vielleicht zur bestimmenden Kraft werden. Aber sie werden auch ein hohes Maß an Verantwortung für die Gesamtgesellschaft übernehmen müssen. Das Schicksal hat es so gefügt, daß auf das einst proklamierte Jahrhundert des Kindes ein Jahrhundert der Senioren folgen wird. Letzte Bemerkung: die erhöhte Aufmerksamkeit, die das Thema Generationensolidarität und Generationenpolitik auf dieser europäische Schiene gewonnen hatte, wurde 1991 in der deutschen Öffentlichkeit wirksam flankiert durch eine Veröffentlichung der Institute Infratest Sozialforschung, Sinus und Horst Becker im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung: Die Älteren - Zur Lebenssituation der 55- bis 70jährigen. Sie brachte Die aktiven neuen Alten als neue Trendsetter der Generatio- [Seite der Druckausg.:190] nen-Diskussion auf den Plan und endlich hatte die Fritz Erler Akademie auch in den Augen der skeptischen Kollegen eine so richtig erwünschte Zielgruppe für ihre Bildungsarbeit im Haus - der Verdacht, wir lasteten unsere Kapazitäten im Wechsel nur mit verschiedenen Altersheim-Besatzungen aus, war ganz plötzlich ausgeräumt und wurde auch nicht mehr hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen! II. Ich komme jetzt zum inhaltlichen Teil dessen, was ich heute nachmittag verhandeln wollte, nämlich zur nach wie vor deutlichen Orientierung der deutschen sozialstaatlichen Tradition an dem Bismarckschen Modell und zu der Frage, wie weit sich das inzwischen gelegt hat, bzw. ob wir diesen deutschen Sonderweg inzwischen verlassen haben. Ich will da relativ kurz, aber doch so ausführlich, wie es für das Verständnis nötig ist, auf ein paar Entwicklungen aus der Vorgeschichte unserer deutschen Sozial- und Gesellschaftspolitik zurückgreifen. Als die Probleme mit den Folgen der Industrialisierung Ende des 18., Anfang 19. Jahrhunderts in Deutschland auftraten, da gab es eine gewachsene alte Ordnung der Dinge, und das hieß: wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung, wo der Einzelne für seine (Kern)-Familie, für seine Großfamilie, für seine Gemeinde verantwortlich ist und umgekehrt die Familie für den Einzelnen, die Großfamilie für die Kernfamilie, die Gemeinde für ihre Bürger verantwortlich ist. In Deutschland gab es dann noch die Besonderheit, daß in Ostelbien an die Stelle der Gemeinde das Gut trat: Der Gutsherr war auch im Winter, wenn es keine Arbeit gab, verpflichtet, sein Gesinde zu ernähren, zu kleiden und wohnen zu lassen. Und das damalige Fürsorgesystem kannte natürlich nur Sachleistungen: Nahrung, Kleidung, Wohnung, die drei anderen Dinge, die seit 1962 im Sozialhilfegesetz stehen, Gesundheit, Bildung, Arbeit, sind eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Dieses alte System, das in der verklärten Rückschau angeblich so gut funktioniert haben soll, war natürlich nicht üppig und nicht sehr freigebig zu den Seinen. Was dieses System von den Leuten gehalten hat, mit denen es zu tun hatte, das geht hervor aus der Hamburger Armenordnung von 1788. [Seite der Druckausg.:191] Der Gegenstand unserer Armenpflege sind Leute von drei verschiedenen Classen, nemlich die Armen, die Hilfsbedürftigen und die Bettler unserer Stadt. Ein Armer in diesem Verstande des Wortes ist derjenige, der sich und den Seinigen durch seinen täglichen Erwerb nur die tägliche Nothdurft schaffen kann. Ein Hülfsbedürftiger derjenige, der mit all seinen Kräften dies nicht kann. Ein Bettler derjenige, der seine Kräfte dazu garnicht, oder nicht gehörig anwendet, und sich durch öffentliche oder private Wohltätigkeit ernährt. In einem blühenden Staat müssen viel Arme, wenig Hülfsbedürftige, und keine Bettler sein. (Zitiert nach: S.Mosdorf: Die sozialpolitische Herausforderung, Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung 16, Köln 1980) Der Punkt ist: Armut war normal; die Vorstellung, daß sich auch die einfachen Leute etwas zurücklegen könnten für Notzeiten, die ist erst in den späten Zwanzigern nach der Weltwirtschaftskrise entstanden; aber bis dahin war klar, daß die Masse der Leute arm blieben. Und auch ein anderes ganz böses Verständnis, das Sozialpolitik bis heute von christlicher Nächstenliebe deutlich unterscheidet, spricht schon aus diesem Text: es ging nicht darum, ob die Leute bedürftig waren, etwas dringend nötig hatten, sondern es ging darum, wie sie sich verhalten hatten. Ob sich jemand anstrengt oder ob er sich nicht anstrengt, das war der Maßstab. Es war also nicht eine Frage der objektiven Lage, sondern eine Frage des individuellen Verhaltens und der Beurteilung dieses Verhaltens. Das hat schon immer dazu geführt, daß die Armen erst mal genau überprüft wurden, ob sie denn auch anständige Menschen waren. Und wenn sie das nicht waren, dann entfielen sozusagen alle Ansprüche an die Gemeinschaft. Wir finden das auch heute wieder: Wenn Sie sich mal ansehen, welche Argumente gegen die Grundsicherung vorgebracht werden, dann werden Sie ziemlich schnell merken, daß es genau diese Frage ist: Wieso sollen die etwas bekommen; die hätten doch für sich sorgen können; sie haben es nicht getan, warum nicht? Das führt dann direkt hin zu einem Zitat aus Norbert Blüms Festrede zum Jubiläum des Ahlener Programms der CDU: Ahlen, 4. Februar. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) hat den Vorstoß des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) für die Einführung einer Grundrente massiv zurückgewiesen. Dies sei eine [Seite der Druckausg.:192] Prämie für Aussteiger und Faulenzer, sagte Blüm bei der Festveranstaltung anläßlich des 50. Jahrestages des Ahlener Programms der CDU. (zitiert von der Frankfurter Rundschau am 5.2.97 nach ap/dpa) Hier geht es dann nicht darum, ob jemand die Grundsicherung benötigt, sondern es geht darum, wie er sich verhalten hat: Aussteiger und Faulenzer sind von vornherein unwürdig, Sozialleistungen zu erhalten. Das ist genau die Linie von 1788, die wir vorher hatten. Vielleicht noch etwas zu der Leistungsfähigkeit des vorindustriellen Sicherungs-Systems. Da hatte ich auch so ein Urerlebnis damit. Im Herbst 1980, ein paar Monate nach der Unabhängigkeit und den ersten Wahlen in Simbabwe besuchte eine Delegation von unterschiedlichen, politisch miteinander rivalisierenden Gruppierungen von Genossenschaftlern aus Simbabwe auf Einladung des baden-württembergischen Landwirtschaftsministeriums in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung Baden-Württemberg und wir hatten sie übers Wochenende in Schömberg zu betreuen und ihnen Facts about Germany nahezubringen. Und da haben wir nicht nur über soziale Sicherung geredet, sondern wir haben auch eine Exkursion gemacht zu den Vogtsbauernhöfen. Das ist hier in der Nähe im Gutachtal ein Freilichtmuseum. Und da gibt es bei einem der Bauernhöfe das wieder aufgebaute Leibgedingehäusle, ein Haus für das Ausgedinge, also für die alten Eltern, die nach der Hofübergabe noch auf dem Hof wohnten. Und der Führer hat also gepriesen, warum diese Höfe so ganz toll sind in dieser Landschaft, weil man da im Winter unheimlich Energie spart, alle unter einem Dach. Und da hatten die Simbabwer sorgfältig zugehört und dann kamen wir gegen Ende der Führung an dieses Leibgedingehäusle. Und der Führer hat dort gesagt, da sieht man, wie gut die damalige Landwirtschaft doch ihre Alten versorgt hat und wie gut sich da die Generationen arrangiert haben. Aber da kam einer der Gäste auf die vorher so plastisch geschilderte Situation im Winter zurück und fragte, aber warum ist das Haus soviel schlechter gebaut als das, was Sie uns vorher gezeigt haben. Sollten die erfrieren? Dies nur zur Illustration der Leistungsfähigkeit des alten Systems Was dann mit dem Vordringen des Industriesystems passiert ist, war natürlich, daß das alte System zerbrochen ist. Die Leute gingen aus den Dör- [Seite der Druckausg.:193] fern weg, sie zogen in die Stadt, zur Fabrik und von dem ganzen gegenseitigen Haftungs- und Versorgungssystem blieb nur der Einzelne und seine (Kern)-Familie übrig. Die zu Hause Zurückgebliebenen haben gesagt, der geht uns nichts mehr an, der ist ja fort gegangen, von wegen Stadtluft macht frei, Bargeld lacht und so weiter. Aber die Fabrik hat nicht die Rolle der Gemeinde übernommen, sie hat auch nicht die Rolle des ostelbischen Gutes übernommen. Die Fabrik hat sich hinter der Konstruktion freier Arbeitsvertrag verschanzt und freier Arbeitsvertrag hieß: du schuldest mir Lohn, solange ich für dich arbeite, und wenn du keine Arbeit mehr für mich hast, schuldest du mir natürlich nichts mehr. Der Vertrag war ja freiwillig eingegangen worden zwischen rechtlich Gleichen, niemand war gezwungen zu kontraktieren. Es gab keine über das Arbeitsverhältnis hinausreichende soziale Verpflichtung zwischen den beiden Vertragsparteien und das führte eben zu massenhaftem Elend in den Fabrikregionen, sobald es keine Arbeit oder zu wenig Arbeit gab: der Einzelne und seine Familie konnten sich nicht mehr selber helfen. Wenn sie Hilfe von Dritten brauchten, haben die Gemeinden sich geweigert einzuspringen. Die Gemeinden haben gesagt, du bist hier fremd und du darfst hier nicht Bürger werden und Ansprüche erwerben. In Ostelbien war es das System der Schnitter: die kamen 4 Monate und mußten dann wieder in die polnischen Provinzen zurück; in der Schweiz haben wir das heute noch mit den Saisonniers. Ein Saisonnier darf 11 Monate bleiben, den 12. muß er dann wieder ausreisen, und danach tut man so, als käme er neu dazu, nur damit er keine Ansprüche z. B. an die Gemeindewohlfahrt erwirbt. Im Ganzen war das ein Prozeß, der in Schüben immer wieder zu großer Verelendung geführt hat, der gezeigt hat, daß das überlieferte alte Hilfesystem mit den sozialen Folgen des Industrialismus überhaupt nicht fertig werden konnte. Dazu ein Beispiel aus der Gegend hier: Privat-Anzeigen
Das gräßliche Unglück, daß ein großer mit Malz gefüllter Zuber im Sturz von der Höhe dem hiesigen Küfer Reutter beide Füße derart abgeschlagen hat, daß der eine Fuß sogleich amputirt werden mußte und der Schenkelbruch des anderen noch nicht eingerichtet werden konnte, veranlaßt [Seite der Druckausg.:194] mich, das Mitleiden mit der Bitte um Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Der Verunglückte ist 39 Jahre alt, verheirathet, Vater von drei Kindern, hat sich seither durch seiner Hände Arbeit fleißig und ehrlich ernährt. Mögen viele Menschenfreunde diesem Manne, der im Stande klaren Bewußtseyns mit großer Ergebung sein schweres Geschick trägt, durch liebreiche thätige Theilnahme helfen, mit Muth in die dunkle Zukunft zu blicken. Beiträge nehmen an die Herren Dekan Georgii, Kaufmann Bossert, Frau Wittwe Wagner in Tübingen, Herr Heinrich zum Ochsen allhier und der Unterzeichnete. Pfarrer Stoll (Anzeige in der Tübinger Chronik vom 22.4.1856) Wie das funktioniert, kennen wir ja heute von der internationalen Hilfe, die nach Katastrophenmeldungen aus der 3. Welt einsetzt: Große Überschwemmung, dramatische Berichte, Spendenaufrufe von allen Seiten und dann kommt die nächste Katastrophe. Allzu lange hat auch damals das Mitleiden nicht angehalten. Wenn solche Hilfe dann versiegt war, war der Küfer wieder ganz auf die Seinen angewiesen: Seine Familie hatte für ihn zu sorgen, seine Frau, seine Kinder. Sie mußten zur Not gar beweisen, daß nicht einmal Betteln hilft: In Kiebingen bei Rottenburg hat die Dorfgemeinschaft im 19.Jahrhundert noch einer Familie erst dann geholfen, als die Kinder zweimal in Reutlingen beim Betteln erwischt und eingesperrt worden waren und mit dem Strafausweis nach Hause kamen. Also das alte Netz war zu diesem Zeitpunkt einfach gerissen, hat nicht mehr funktioniert; es mußte irgend etwas Neues an seine Stelle treten. An die Stelle ist ein Modell der Sozialpolitik getreten, das die sozialen Probleme als Randerscheinungen aufgefaßt hat. Ihr Kernsatz hieß: Das deutsche Volk ist im Kern gesund, sozial und wirtschaftlich. Es waren Randerscheinungen, daß es Kranke gab, daß es Invalide gab, daß es Arbeitslosigkeit gab, daß es Witwenschaft gab. Das Modell war: es gibt überwiegend einen gesunden Kern und es gibt Randgruppen; und das Problem besteht darin, die Situation der Randgruppen zu normalisieren. Das passierte zu einer Zeit, als das Marktmodell des Manchester- Liberalismus sich voll durchgesetzt hatte, und so gab man den Leuten keine Sachleistungen, Nahrung, Kleidung, Wohnung wie im alten System, sondern man gab ihnen Geld. Denn mit dem Geld konnten sie ja das, was ih- [Seite der Druckausg.:195] nen fehlte, am Markt kaufen. Seit dem 19. Jahrhunderts war Geld zunehmend das Medium der deutschen Armenpolitik, die Sozialleistung wurde als Geldbetrag gegeben, damit sich die Leute das, was ihnen fehlte, dafür kaufen konnten - zur Not hat man dann die Verwendung mit polizeistaatlichen Mitteln kontrolliert.
Das Randgruppenkonzept bedeutete aber auch, die könnten sich eigentlich, wenn sie sich anstrengen, selber helfen; man muß ihnen nur sagen, wie sie es machen müssen. Und für diese Vorstellung, daß sie das selber könnten, sprach ja auch das wunderschöne Denkmodell, daß es zweierlei Leute gibt: die einen sind selbständig und fähig zur Eigenvorsorge, außerdem wissen sie, was sie tun müssen und wie sie es anstellen müssen; und es gibt die Unselbständigen, die sind nicht fähig zur Eigenvorsorge, die sind arm, dumm und unmündig. Denen muß man sagen, was sie tun sollen. Und zur Unterscheidung beider Gruppen diente ein einfacher Maßstab, nämlich die Höhe des erzielten Einkommens. [Seite der Druckausg.:196]
Als die Rentenversicherung eingeführt wurde, waren zunächst alle Arbeiter automatisch versicherungspflichtig und Angestellte, die weniger als 120 Mark im Jahr verdienten. Das war genau dieser Maßstab: wer drüber war, konnte sich selbst helfen, wer drunter blieb, dem mußte man sagen, was er machen muß. Diesen Maßstab haben wir heute noch bei der Krankenversicherungspflicht mit ihrer befreienden Obergrenze: wenn du ein bestimmtes Einkommen hast, kannst du alles selber regeln, mußt du dich nicht versichern. Wenn du ein bestimmtes Einkommen nicht erreichst, dann muß man dir sagen, was zu tun ist. [Seite der Druckausg.:197]
Und was wurde den Leuten gesagt? Denen wurde per Gesetz gesagt: Ihr müßt euch so verhalten, wie ihr euch ökonomisch vernünftig verhalten würdet, ihr müßt nämlich vorsorgen, d.h. einen Teil eures Einkommens auf die Seite legen. Und zu diesem Zweck werden durch den Gesetzgeber Solidargemeinschaften abgegrenzt.. Der Konstruktionsfehler, der uns bis heute verfolgt, besteht darin, daß Solidargemeinschaften für jedes Risiko gesondert gebildet werden. Risiko Invalidität, Risiko Krankheit, Risiko Alter, Risiko Verwitwung, Risiko Arbeitslosigkeit, zuletzt: Risiko Pflegebedürftigkeit. Es werden Solidargemeinschaften gebildet und es wird mit einem Versicherungszwang erreicht, daß alle Betroffenen in diese Solidarkasse einbezahlen. Die Kasse wird gespeist aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen und - vorübergehend war das gedacht - einem Staatszuschuß. Den Staatszuschuß sollte es geben, bis dieses System eine Generation durchgelaufen und die nötigen Rücklagen gebildet hätte. Aber [Seite der Druckausg.:198] diese Rücklagen waren 1918 weg, weil sie in Kriegsanleihen angelegt waren, sie waren 1929 in der Inflation weg und sie waren 1945 wieder weg. Der Arbeitgeberbeitrag ist entstanden aus der Diskussion um den gerechten Lohn. Diese Diskussion hatte Anfang des 19. Jahrhunderts damit geendet, daß man sagte, ein gerechter Lohn wird dann gezahlt, wenn niemand damit verhungert, wenn die große Zahl der Lohnempfänger damit durchkommt, dann ist genau dies der gerechte Lohn. Und dieser gerechte Lohn bezeichnete im Grunde das, was wir heute Armutsgrenze nennen. Wenn man also den Arbeitern jetzt noch einen merklichen Beitrag für diese Versicherung abnehmen würde, dann würden sie natürlich unter die Armutsgrenze gedrückt. Alle, die gerade mal auf dieser Armutsgrenze liegen, würden nun unter die Armutsgrenze gedrückt. Weil die Arbeitgeber in diesem Vertragsverhältnis aber deutlich die Leistungsfähigern sind, kann man hohe Beiträge für die Arbeiter vermeiden, wenn man auch die Arbeitgeber einzahlen läßt. Zum zweiten war auch klar, daß keine Lohnersatzleistung über der Armutsgrenze liegen würde: Der Ersatz für den Lohn muß in jedem Fall geringer sein als der Lohn. Da der Lohn aber immer gerade an der Armutsgrenze lag, hatten von vornherein alle Sozialleistungen noch den eleganten Vorteil, daß sie die Leute nicht ernährten, sondern sie dazu brachten, möglichst schnell wieder eine Arbeit zu suchen: Die berühmte Hängematte war damit automatisch ausgeschlossen. Und mit diesem System war der Staat gut dran: Der Staat hat sich rausgehalten. Der hat als Gesetzgeber nur gesagt, wie die Betroffenen sich verhalten müssen, nämlich die Armen selber und dann in Maßen noch ihre Arbeitgeber. Dabei herausgekommen ist eine horizontale Umverteilung unter den Armen: Die Selbständigen bleiben außen vor, die Besserverdienenden bleiben mit ihrem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze draußen; die Armen verteilen unter sich um, und die ganz Armen hat man dann auch ausgegrenzt durch die frühere Geringfügigkeitsgrenze, die jetzt gerade aufgehoben wurde. Im Grunde ersparte das Bismarcksche Modell dem Staat, selbst mit irgendwelchen Steuermitteln zu intervenieren. Es hatte den genialen Vorteil, daß staatliches Handeln auf der rein ordnungspolitischen Ebene blieb und den Leuten nur sagte, ver- [Seite der Druckausg.:199] haltet euch gefälligst so und so, dann erreicht ihr das staatlich gesetzte Sicherungsziel. Das ist das deutsche Grundmodell; das haben wir auch 1957 nicht verlassen: Wir haben weiterhin all diese gesetzgeberischen Schritte: eine Solidargemeinschaft abgrenzen, den Versicherungszwang und den Kassenzwang ausüben. Letztes Beispiel für diese Übung ist das Pflegeversicherungsgesetz von 1994. 1957 hat sich eigentlich nur der Modus geändert. Die Bismarcksche Alterssicherung war überhaupt nicht lebensstandardsichernd, sie war als Zubrot gedacht. Bismarck hat irgendwann in einer Auseinandersetzung mit konservativen Abgeordneten auf die listige Frage, wie hoch denn nun die Altersrenten sein sollten, sich sehr geschickt, sehr undeutlich, aber eigentlich sehr zutreffend geäußert. Er hat nämlich gesagt, die Renten müßten so niedrig sein, daß niemand verführet werde sich mutwillig in die Invalidität zu begeben, sich also eine Hand abzuhacken, um eine Rente zu kriegen. Und die andere Grenze war auch sehr hübsch: aber die Renten müßten so hoch sein, daß die Schwiegertöchter ein Interesse daran behielten, daß die Schwiegerväter im Haus bleiben - sozusagen als Bargeldbringer. Das war der Spielraum, es war überhaupt nicht daran gedacht, daß jemand davon leben könnte. Die Vorstellung war vielmehr, die leben weiterhin im Mehr-Generationen-Haushalt, da gibt es dann noch die Bergmannskuh und da gibt es dann noch den Garten oder sonst noch einen Nebenerwerb. Die Rente ist nur ein Zuschuß zum Lebensunterhalt. Das wurde dann 1957 geändert mit der Dynamisierung der Renten, mit der Anbindung der Rentenhöhe an die Lohnentwicklung. Es gab dann diese berühmte Formel für die Anpassung der Renten an die Bruttolohnentwicklung. Mein Arbeitseinkommen wird jährlich in Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens gemessen, es wird dann mit dieser allgemeinen Bewertungsgrundlage multipliziert, dann mit der Zahl meiner Versicherungsjahre und einem technischen Faktor, dem Steigerungssatz. Aus diesem mehrmaligen Multiplikationsvorgang ergibt sich dann mein Rentenzahlbetrag. Es war aber nicht nur eine neue Formel für die Dynamisierung der Renten, sondern bedeutete auch eine Prognose der langfristigen Wirtschaftsentwicklung. Das heißt, der Bundestag hat da mit breiter Mehrheit - es haben [Seite der Druckausg.:200] damals nur ein paar DP- und FDP-Abgeordnete nicht zugestimmt - eine Zukunftsprognose abgegeben, - kann man alles nachlesen in den damaligen Debatten. Die haben nämlich erstens gesagt, die Einkommen der Arbeitnehmer werden künftig enger beieinander liegen, die große Schere wird verschwinden, die Einkommensdifferenzen werden kleiner. Das zweite war, wir werden eine eher zweistellige als einstellige Wachstumsentwicklung haben, unbegrenzt auf lange Sicht. Und in dieser Wachstumsentwicklung wächst eben nicht nur die Gesamtwirtschaft, sondern es wachsen auch die Arbeitsentgelte. Die dritte Prognose war schon ein bißchen vorsichtiger, aber auch sie ist nicht eingetroffen: In einer Generation gibt es keine Unterschiede mehr im Erwerbsverhalten zwischen Männern und Frauen; alle, die arbeiten wollen, können arbeiten, und alle werden arbeiten. Das heißt auch: alle können im Alter auf im Arbeitsleben erworbene Versicherungsansprüche zurückgreifen; sollten Frauen zeitweise nicht erwerbstätig sein, blieben ihnen die abgeleiteten Ansprüche aus der Mannesrente. Nebenbei wurde in der Reform 1957 die Rentenhöhe ausschließlich an zwei Faktoren orientiert, nämlich der Höhe des erzielten Arbeitseinkommens und der Zahl der Versicherungsjahre. Alle anderen Faktoren, die seit Bismarck im deutschen Alterssicherungssystem ganz selbstverständlich waren, Sockelbeträge, Grundbeträge, Zuschläge fielen heraus - 1957 hatten wir ungefähr ein Verhältnis von 40 Prozent solcher Faktoren und 60 Prozent Beitragsorientierung. Wir haben das neu gelernt 1990: die Rentenformel der DDR hatte im Grunde noch die alte Bismarcksche Struktur, Sockelbeträge, Grundbeträge und dann nur ein schmaler von eigenen Einkommen und der Versicherungszeit abhängiger Betrag draufgesetzt. Wir haben also 1957 im Grunde gesagt, jeder ist seines Glückes Schmied, jeder kann die berühmten 45 Versicherungsjahre zusammen bringen und jeder kann ein relativ hohes Einkommen erzielen, wir brauchen deshalb keine Untergrenzen als Auffangnetz einziehen; erst mit der Rente nach Mindesteinkommen und der Anrechnung von Kindererziehungszeiten hat das bundesdeutsche System diesen radikalen Systemwechsel wieder etwas gemildert. Als dieses System am 1. Januar 1957 eingeführt wurde, lag die Versicherungsobergrenze bei 500 Mark; im Jahr davor lag die durchschnittliche [Seite der Druckausg.:201] Rente der Angestelltenversicherung bei 137,30 Mark und in der Arbeiterversicherung bei 89,70 Mark. Die Verhältnisse sind also einfach nicht mehr vergleichbar. Da hat sich also sehr viel, sehr dynamisch entwickelt. Jetzt wollen wir uns das Ergebnis dieser Entwicklung ansehen. Da sehen wir deutlich die Gewinner und die Verlierer dieser Operation von 1957. Bei den Frauen liegen 85 Prozent aller Rentenzahlbeträge unter 1500 Mark; bei den Männern liegen 73 Prozent aller Rentenzahlbeträge über 1500 Mark; also genau eine Spaltung entlang dieser Linie. Da kann man sagen, die Frauen passen eben nicht auf die Rentenformel; sie sind selber schuld, warum sind sie nicht lebenslang erwerbstätig, warum verdienen sie nicht gut, warum hören sie zwischendrin immer wieder auf? Wenn wir uns die öffentliche Wahrnehmung der Rentner in Deutschland ansehen, dann erzählt diese GLOBUS - Graphik in den Ziffern zwar, wir haben 37 Prozent Männer, 63 Prozent Frauen in der Altersbevölkerung, aber Sie sehen hier auf der Illustration natürlich zwei Männer und eine halbe Frau. Das ist die mentale Vorstellung, wer die Rentner sind. Wenn wir über so etwas reden, dann haben wir immer die falschen Leute im Sinn: Zweidrittel sind in der Situation der Rentnerinnen mit Renten unter 1.500 Mark , und ein Drittel, die Männer, ist in der Situation mit mehr als 1.500 Mark. Und dies ist wohl keine für die Gesamtgruppe der Alten sehr gelungene Operation gewesen 1957. Und woran das liegt, ist auch klar: an der Rentenformel. Gefettet ist sozusagen der Idealfall: Jemand hat immer 100 Prozent der persönlichen Bemessungsgrundlage verdient, er hat die berühmten 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahre; mit einem Steigerungsatz von 1,5% und bringt das dann auf 45 mal 1,5 mal 100gleich 67,5 Prozent. Seine Rente beträgt 67,5 Prozent der allgemeinen Bemessungsgrundlage. Bei den Männern - normale Schrift - steht aber 1998 in der persönlichen Bemessungsgrundlage durchschnittlich ein Wert von 110 und bei den Versicherungsjahren ein Wert von 39,18; wenn wir wieder die Multiplikation vornehmen, dann haben die Männer es im Durchschnitt real auf 62,69% der allgemeinen Bemessungsgrundlage gebracht. Wenn wir die Durchschnittswerte der Frauen - kursiv - einsetzen, dann haben wir bei immer noch rund 30 Prozent Lohndiskriminierung, 73 Prozent persönliche Be- (Fortsetzung Seite 203) [Seite der Druckausg.:202]
[Seite der Druckausg.:203] messungsgrundlage und nicht 45 sondern 25,57 Versicherungsjahre; und dann kommt bei der Multiplikation eben 27,3% der Allgemeinen Bemessungsgrundlage als durchschnittlicher Rentenzahlbetrag heraus. Und das ist der Grund, warum diese Unterschiede zwischen Männern und Frauen so aussehen. Und man kann nun alles mögliche am Rentensystem kritisieren, wer nicht kritisiert, daß dies ein System für Männer ist, das den Frauen nicht viel bringt, der hat nichts begriffen. Aber dieses Argument steht überhaupt nicht im Vordergrund unserer gegenwärtigen Debatte. Auch ein Hinweis auf die Größenordnungen ist da wichtig. Man kann ja nun behaupten, okay alle Frauen haben ja noch eine Witwenrente und alle Männer haben noch eine Betriebsrente. Dem ist nicht so: Die Rentenstatistik weist aus, dass 1996 im Westen 26 % und in den neuen Ländern 34 % der Rentnerinnen zwei Renten beziehen; in den alten Ländern haben 10 % aller Altersrentnerinnen einen zusätzlichen Betriebsrentenanspruch, bei den Männern sind es 50 %. Der durchschnittliche Zahlbetrag bei den Frauen beträgt 316 DM, bei den Männern 605 DM. Also die Größenordnungen verhalten sich immer noch folgendermaßen: Bei einem Gesamt-Auszahlungs-Volumen von rd. 456 Mrd. DM im Jahr 1998 für alle Formen der Alterssicherung entfielen auf die GRV (Arbeiter, Angestellte, Knappschaft) 353 Mrd., 62 Mrd. auf die Beamtenpensionen, 28 Mrd. auf Betriebsrenten, also nicht mal 10 Prozent der GRV-Werte; außerdem haben nur sehr wenige Leute solche Zusatzrenten. Wir haben im Verhältnis recht viel Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst mit einem Volumen von 14 Mrd; die Altershilfe der Landwirte bringt es 7 Mrd, die Versorgungswerke bringen es auf 3 Mrd. Der gesamte Bereich der Lebensversicherungen als Alterssicherung liegt mit 79 Mrd. gerade mal in der Größenordnung von 20 Prozent des Hauptträgers GRV. Und außerdem muß man sehen, daß die Reichweiten absolut unterschiedlich sind. Fangen wir mit den neuen Ländern an. In den neuen Ländern beträgt der Anteil der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung an der Altersversorgung sowohl bei den Männern als bei den Frauen 99 Prozent. In den alten Ländern sind es bei den Frauen nur 70, bei den Männern nur 89%, bei den Männern zum Teil deshalb, weil einige überwiegend durch die Beamtenversorgung abgedeckt sind. Auch der Doppelbezug ist nicht so häufig wie vermutet. Aber noch einmal: auch da zeigt [Seite der Druckausg.:204] sich der eigentlich springende Punkt, was man in den neuen Ländern schon lange weiß, der Kern der Alterssicherung ist die gesetzliche Rentenversicherung; alles andere ist aus der Sicht der Reichweiten und der Betroffenheit eigentlich nur Beiwerk. Wir hatten ja in der letzten Legislaturperiode das Reformkonzept von Norbert Blüm mit dem demographischen Abschlagsfaktor. Und Blüm hat ja seiner eigenen Politik so viel zugetraut, daß er gegen den Widerstand der FDP durchgesetzt hat, daß die von der Koalition gemeinsam 1997 verabschiedete Rentenreform erst am 1. Januar 1999 in Kraft treten sollte. Er wollte die endgültige Legitimation dieser Reform der alten Koalition beim Wähler suchen. Und es ist ja bekannt, daß die Sozialdemokraten angetreten sind, die Reform nicht in Kraft treten zu lassen, sondern ihre Vorschläge von 1996 umzusetzen; sie haben sich damit ja auch bei den Wählern durchgesetzt in der Bundestagswahl 1998: Wahlverhalten nach Altersgruppen
[Seite der Druckausg.:205]
Quelle:
Wenn wir das Wahlverhalten 1994 und 1998 nach Altersgruppen betrachten, dann haben wir für die Gruppe der 60 Jährigen und älteren 1994 einen Vorsprung der CDU/CSU gegenüber der SPD von 13 Prozent; 1998 ist er auf 2% geschrumpft Wenn man nach Männern und Frauen aufteilt, ging der Vorsprung bei den alten Frauen von 20,4% 1994 auf 2% zurück. Minus 18,4 Prozent und damit der höchste swing überhaupt in einer statistisch abgrenzbaren Wählergruppe. Das ist aber von den Sozialdemokraten nicht als Volksabstimmung zugunsten ihrer vor der Wahl gemachten Vorschläge bzw. zugunsten der Vorschläge, die die Dressler -Kommission zwei Jahre vorher gemacht hatte, verstanden worden, sondern als Wählerauftrag, selbstverständlich etwas ganz anderes zu machen. Unter dem Druck von Eichels Sparetat legte Walter Riester im Juli 1999 dieses Altersvorsorgepaket vor.
Rentenanpassung 2000 und 2001 entsprechend dem Anstieg der Lebenshaltungskosten im Vorjahr [Seite der Druckausg.:206] Ab 2002 wieder entsprechend der Entwicklung der Netto-Löhne
Einführung einer steuerfinanzierten und bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit
arbeitsmarktbedingte EWM-Renten werden (modifiziert) beibehalten
Und da hat er sich in der Bismarckschen Falle gefangen. Er hat nämlich gesagt, Orientierung ist, Lohnnebenkosten stabilisieren, wenn nicht gar senken, also müssen die Rentenbeiträge wie die anderen Beiträge zur Sozialversicherung auch gestoppt oder besser noch vermindert werden. Das führt, wenn man das in der Rentenversicherung macht, zu einem geringeren Rentenniveau - da gibt es ja den Streit, ob die Standardrente bei 67, 64 oder 61% liegt; jedenfalls wird es nötig, daß wir ergänzend eine kapitalgedeckte Zusatzvorsorge einführen; ab 2003 mit jährlich 0,5 Prozent des Bruttolohns, ansteigend dann bis 2,5 Prozent jährlich ab 2007. Damit können wir sozusagen das Loch, was wir durch die Senkung der Beitragssätze aufgerissen haben, decken. Und natürlich hat er in bester Bismarckscher Tradition gesagt, so müßt ihr es machen: Der Gesetzgeber sagt, ihr müßt euch zusätzlich versichern. Da hat er aber nicht mit seinen freiheitsliebenden grünen Kollegen gerechnet: Die haben dieses Zwangsmodell von vornherein abgelehnt; und aus der Pressekonferenz, in der er sein Vorsorgepaket vorgestellt hat, mußte er dann mit der Erklärung rausgehen, in der Koalition werde sein Modell noch mit den Fachleuten abgestimmt. Er mußte es dann unter dem Druck der Grünen durch ein [Seite der Druckausg.:207] Freiwilligkeitsmodell ersetzen, das mit ziemlich hohem finanziellen Aufwand an Subventionen, also von Zuschüssen bzw. Steuerersparnissen den Leuten schmackhaft machen soll, sich so zu verhalten, als hätte der Gesetzgeber ihnen vorgeschrieben, sich so verhalten. Der springende Punkt ist aber eigentlich, daß dies den Abschied von der paritätischen Finanzierung der Alterssicherung in Deutschland bedeutet, denn bei dieser Zusatzvorsorge soll es keinen Arbeitgeberbeitrag geben. Das sollte die Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber deutlich stabilisieren und es sollte eben als Ersatz für die damit verbundene Reduzierung des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente eine zusätzliche Altersvorsorge aufgebaut werden. In der Realität heißt dies, daß bei einem Arbeitnehmer/ Arbeitgeberbeitrag von 9,5 Prozent für beide, für die Arbeitgeber die Belastung stabil bleibt, für die Arbeitnehmer steigt sie auf 13,5 Prozent, also ein zusätzlicher Aufwand von 42%. Es ist dann von Seiten der Gewerkschaft argumentiert worden und es wird zum Teil noch argumentiert, zieht doch die Arbeitgeber zu diesem Beitrag auch heran. Aber da gibt es dann vom Arbeitsministerium die lustige Argumentation, das können wir doch nicht machen, denn was der Arbeitnehmer aufgrund dieser zusätzlichen Vorsorge erwirbt, sind ja vererbbare Ansprüche, also individualisierte Ansprüche, während wir mit dem Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag in der Sozialversicherung keine individualisierten Ansprüche erwerben, die vererbt werden können, sondern nur Ansprüche kollektiver Art und deshalb kann es keinen Arbeitgeberbeitrag geben. Bei der Pflegeversicherung haben wir ja nur noch diesen virtuellen Arbeitgeberbeitrag gehabt, abgegolten durch die Streichung des Buß- und Bettags außer dem Freistaat Sachsen. Das Verblüffende an diesem Vorgang ist, daß die Koalition sich eingelassen hat auf eine Argumentation, die hauptsächlich damit arbeitet, daß es ohne diese Reformen irgendwann mal in Zukunft, nämlich nach 2030 einen steilen Anstieg des Beitragssatzes geben müsse, weil da dann die Babyboomer aus den 60er Jahren in Rente gehen, da brauchen wir dann einen erheblich höheren Aufwand. Und man hat im Grunde gesagt, wir müssen 2003 etwas tun, um der Gefahr ab 2030 zu begegnen. Bei diesem Nur-Umlageverfahren wird es so ausgehen, daß wir dann das Rentenniveau stark absenken oder die Beiträge drastisch erhöhen müssen; wenn [Seite der Druckausg.:208] wir jetzt die private Vorsorge zusätzlich machen, können wir 2030 sogar ein höheres Rentenniveau insgesamt erreichen als heute. Das Problem war, daß sich Riester und andere sehr früh von der CDU in den Konsensgesprächen dazu haben drängen lassen, über die möglichen Konstellationen im Jahr 2030 Aussagen zu machen. Das war sicher ein strategischer Fehler; wir haben nämlich seit 1957 so rund alle 15 bis 20 Jahre das System recht gründlich überarbeitet, ohne es abzuschaffen: 1972 hatten wir eine Reform, die von1989 ist 1992 in Kraft getreten; es war überhaupt nicht einsichtig, warum jetzt ganz langfristig, über 30 Jahre disponiert werden sollte, denn je langfristiger desto unsicherer oder sogar unsinniger werden die Annahmen. Aber auf den Dampfer hat man sich begeben und da hat man sich dann diese Folgen eingehandelt. Im übrigen hat das Ganze auch in der Konsequenz die Wirkung, daß die Grünen nachträglich die Bundestagswahl 1998 gewonnen haben.
[Seite der Druckausg.:209]
In der linken Spalte, das waren die Aussagen der Sozialdemokraten für die nächste Legislaturperiode: Rücknahme dieses demographischen Faktors, Alterssicherung auf vier Säulen, gesetzliche, betriebliche, private und dann kam dann noch die Beteiligung am Kapitalstock. Die Rente bleibt beitrags- und leistungsbezogen, aber eigenständige Alterssicherung für Frauen und es wird ein Vorsorgefond für die demographischen Risiken von 2015 bis 2030 geben. Steuerfinanzierung der nicht durch Beiträge gedeckten Leistungen, Erweiterung des Versicherungskreises usw., schließlich soziale Grundsicherung zur Vermeidung der Altersarmut Dazu gab es bei Bündnis 90/Die Grünen drei unvereinbare Positionen: Das eine war, daß der demographische Faktor ein geeignetes Mittel sei, um [Seite der Druckausg.:210] die Kosten der Alterung der Gesellschaft fair auf alle Generationen zu verteilen - sie haben diese Blümsche Erfindung glühend verteidigt. Das zweite war: die waren der Meinung, es gebe extrem hohe Renten und die müsse man stauchen. Die waren wirklich der Meinung, daß es Renten von 7.000 Mark gäbe! Es müsse eine Umverteilung von den hohen zu den niedrigen Renten stattfinden und die heutigen Rentner müssten maßvoll an den Kosten der Modernisierung der sozialen Sicherung beteiligt werden. Als die Koalitionsvereinbarung vorlag, war von diesen grünen Kampfpositionen Demographiefaktor, Stauchung der Rentenhöhen, Beteiligung der Rentner an den Kosten der Modernisierung nicht mehr die Rede, sondern sie griff wieder auf die sozialdemokratischen Positionen zurück, und wir konnten uns beruhigt zurücklehnen. Aber seit den Schönberger Beschlüssen der Koalitionsarbeitsgruppe vom Mai 2000, sagt Kerstin Müller völlig zu Recht, alles was wir in der 12.Wahlperiode gefordert haben, ist jetzt vereinbarte Politik der Koalition. Wir haben uns da durchgesetzt.
[Seite der Druckausg.:211]
[Seite der Druckausg.:212] Und weil es ja in der Regel nicht darum geht, was ist, sondern was die Leute davon halten, hat jetzt ein Jahr Diskussion gereicht, um folgendes Meinungsbild zu produzieren. Da sind die Leute gefragt worden, was die Folgen der Rentenreform für die junge Generation seien. Daß die private Rentenversorgung den Jungen unter dem Strich mehr bringe, als wenn sie einzahlen in die öffentliche Rentenversicherung, meinen 60%; 44% Prozent sind der Meinung, dieses Modell sichere künftigen Generationen den Lebensstandard im Alter, 42 Prozent glauben das nicht. Aber trotzdem sind 62% der Meinung, daß die Jungen heftig gegenüber den Älteren benachteiligt werden. Das ist jetzt sozusagen der politische Ertrag, und wenn ich mir den mal so kurz vorstelle, wieder in swing-Zahlen umgesetzt, dann mache ich mir Sorgen. Also soweit mal zu der deutschen Diskussion. Die Schwierigkeit für uns ist, daß wir eben seit Bismarck darauf setzen, nur die abhängig Beschäftigten einzubeziehen, sie nur mit einem Teil ihres Einkommens einzubeziehen und daß wir im Grund auf die gesamtwirtschaftliche Lohnquote als alleinige Quelle der Finanzierung verwiesen sind. Alles was es an Steuerfinanzierung gibt, läuft unter der Ausrede, das betreffe versicherungfremde Leistungen, die dem System sozusagen von der Politik künstlich aufgedrückt worden sind, die die Politik deshalb auch verantworten muß Zwischenruf: Das ist keine Ausrede, das ist eine Tatsache. A. Braun: Weil man eine Steuerfinanzierung vom Grundsatz her nicht will, argumentiert man, es sei im Grunde nur der Ersatz für Leistungen, die die Rentenversicherung erbringt, ohne sie durch Beiträge decken zu können. Der Punkt ist aber eigentlich erledigt seit April 1999: der Bundeszuschuß, da brauchen wir uns nicht zu streiten, ist inzwischen höher, als die Schätzungen über den Umfang der versicherungsfremden Leistungen jemals waren. Zwischenruf: Du sprichst jetzt von der Gegenwart? Ich spreche von der Vergangenheit [Seite der Druckausg.:213] A. Braun: Ja, die sind Vergangenheit. Jetzt würde ich bloß noch gerne einen kleinen Seitenblick nach Europa werfen, weil das hier in unseren letzten 10 Jahren immer so üblich war. Ich will versuchen, es ganz kurz zu machen. Erster Punkt: Wie die Holländer heute morgen, waren die Deutschen nie Spitze, und das schon seit es die EWG gibt. Wenn es darum geht, wieviel wir für Sozialschutz in der Gemeinschaft ausgeben, dann sind wir hier guter Mittelstand, 29,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen in die Umverteilung. Als die Finnen und die Schweden noch nicht dabei waren, waren immer die Dänen an der Spitze, abwechselnd mit Holland und Frankreich in der Reihenfolge. Was den Aufwand betrifft, sind wir keineswegs Spitze, auch wenn wir es uns immer einbilden, bloß weil unser System so schön alt ist. Zur Höhe des Aufwandes muß man sagen, er ist offenbar eher durch nationale, politische Traditionen als durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestimmt. Ausgaben für soziale Sicherheit und BIP pro Kopf, 1993
[Seite der Druckausg.:214] Hier ist gegeneinander aufgetragen das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und die Höhe der Ausgaben für soziale Sicherheit in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und da zeigt sich, daß wie zu erwarten, die Griechen, die Portugiesen, die Iren, die Spanier sozusagen etwa auf gleicher Höhe liegen, aber wenn es um die Leistungsfähigkeit geht, dann ist doch dieser Unterschied nicht mehr erklärbar, oder gar, wenn bei gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit auf einer Linie die Italiener, die Deutschen und die Dänen einen ganz unterschiedlichen Aufwand treiben. Oder wenn bei selben Aufwand doch dann erhebliche Ergebnisunterschiede in der Wirtschaftsleistung pro Kopf auftreten. Es spricht vieles dafür, daß es keinen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der Fähigkeit, Sozialleistungen zu gewähren, gibt, sondern daß es sehr viel damit zu tun hat, welche Richtungsentscheidungen irgendwann einmal in der Geschichte sozialpolitischer Entscheidungen in den einzelnen Gesellschaften, in den einzelnen Staaten getroffen wurden. Also beispielsweise welcher Teil des Gesamtaufwandes für die soziale Sicherheit in die Alterssicherung geht. Da haben wir hier als Spitzenreiter die Briten mit 66,8, die Italiener mit 64 Prozent und wir haben ganz hinten die Dänen mit 36,6 Prozent oder gar die Iren mit 27,5%. Dafür gibt es auch keine Erklärungsmuster, die man an der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aufhängen könnte, aber man kann z.B. erklären, warum der Anteil in Italien so groß ist: weil die in den 70er Jahren versucht haben, ihre Arbeitsmarktprobleme konsequent über Frühverrentung zu lösen und das Rentensystem so attraktiv gestaltet haben, daß viele wirklich ausgestiegen sind, und das ist dann sehr teuer geworden und hat einen ganz großen Teil der Sozialaufwendungen überhaupt aufgefressen. Wir können aber bei solchen Betrachtungen ein paar deutliche Unterschiede feststellen, und da bin ich dann wieder bei meinem Bismarck. Wenn es darum geht, wie soziale Sicherung finanziert wird, da laufen wir ja mit der Vorstellung im Kopf herum, die Hälfte Arbeitgeber, die Hälfte Arbeitnehmer und dann gibt es vielleicht noch ein bißchen Staat. Und das ist so nicht ganz zutreffend: Real sieht es bei uns so aus, daß die Arbeitgeber mit ihren tatsächlichen und ihren sogenannten unterstellten Beiträgen, also das ist das, was sie als Lohnfortzahlung, als Urlaubsentgelt usw. leisten, 38 Prozent zur Finanzierung beitragen. Die Beschäftigten selber leisten 32 Prozent und der Staat 27 Prozent. Das ist unsere Vorstellung, [Seite der Druckausg.:215] halbe halbe und dann der Staat. Das kann ganz anders sein: In Dänemark haben wir Arbeitgeberbeiträge von 7 Prozent, Arbeitnehmerbeiträge von 10% und eine Steuerfinanzierung von 76%. Unter dem Argument Lohnnebenkosten und Konkurrenzfähigkeit ist das natürlich ein Klotz am Bein aller anderen Gemeinschaftsländer für die Konkurrenzfähigkeit ihrer Industrie, auch für die Konkurrenzfähigkeit ihrer Arbeitnehmer, wenn man so will. Auch die Niederlande haben sehr geringe Arbeitgeberleistungen, nur 20 Prozent und sie haben gleichzeitig sehr geringe Steueranteile drin; dafür zahlen aber die Begünstigten selber fast die Hälfte des Aufwandes. Das ist natürlich auch für die niederländische Industrie ein Standortvorteil. Wenn man dann vergleicht, welchen Teil der Sozialversicherungsbeitrag der Arbeitgeber an der Wirtschaftsleistung ausmacht, dann haben wir da eine Spitzengruppe Italien, Schweden, Frankreich, Finnland mit mehr als 10%, dann eine Mittelgruppe aus Deutschland, Österreich, Norwegen, Luxemburg, Griechenland so um die 7%herum, und dann die Niederlande mit 3,3%. Da ist der Vorteil für die Arbeitgeber im Polder-Modell ganz deutlich in der Konkurrenzfähigkeit z.B. gegenüber Frankreich mit einem Arbeitgeberanteil, der dort dreimal so hoch ist. Aber die deutschen Arbeitgeber schwören, es gäbe niemand, der so hoch belastet ist wie sie, und diese Behauptung ist seit Ernst Albrecht in den 80igern immer wiederholt worden. Inzwischen finde ich mich in der komischen Lage, wenn ich so eine Tabelle auflege, wo Steuern und Abgaben zusammengerechnet werden und sich dann herausstellt, daß die Deutschen nicht Spitze sind, sondern unter dem Durchschnitt der Gemeinschaft liegen und nur noch von Großbritannien und Spanien unterboten werden, dann glauben mir die Jungen das nicht. Denn seit sie hören können, haben sie gehört, die deutschen Arbeitgeber sind besonders belastet, die deutsche Sozialpolitik ist besonders teuer und wir haben große Wettbewerbsnachteile. Bei dem Versuch, den Eindruck zu erwecken, als sei das Gegenteil der Fall, sind unsere Arbeitgeber mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit ganz schön erfolgreich. Noch so ein Punkt, das soll jetzt dann mein letzter sein. Der alternierende Vorsitzende der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Lutz Freitag, hat auf der Jahres-Pressekonferenz der BfA gesagt, die Rentner tragen die Hauptlast der Reformen der letzten Jahre und dafür ist er dann fürchterlich geprügelt worden. Die Zahlen waren ja nicht interessant, sondern [Seite der Druckausg.:216] die Tatsache, daß er es gewagt hat, solche Zahlen zu nennen. Auch dafür haben wir, wenn wir uns ein bißchen europäisch umsehen, einen sehr schönen Beleg. Hier ist eine Tabelle, die zunächst das gesamte Bruttoinlandsprodukt auf die Köpfe aller Einwohner aufteilt und dann alle Rentenausgaben durch die Zahl der Rentner teilt. Dann habe ich die Rentenleistung pro Kopf und frage, welchen Teil des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf deckt die Rentenleistung pro Kopf ab. Das gibt dann einen Maßstab für die Leistungsfähigkeit des Rentensystems, für die Teilhabe der Rentner an der wirtschaftlichen Entwicklung. Da sehen wir insgesamt für die Gemeinschaft eine Entwicklung, daß sich dieser Betrag von etwas über 60% auf knapp 60% und dann wieder etwas nach oben entwickelt hat im Vergleich der Jahre 1980,1990,1993. Für Luxemburg gibt es einen Ausreißer nach oben: da war der Prozentsatz schon immer hoch, so bei 85%, ist dann weiter angestiegen und am Ende fast auf 100 Prozent geklettert. Dafür gibt es einen politischen Grund: Bei der vorletzten Wahl zum Luxemburger Landtag gab es eine Ein-Punkt-Partei. Dieser EINE PUNKT hieß 90 Prozent; sie hat nämlich verlangt, daß die Pension 90 Prozent des letzten Einkommens sein soll. Die sind so stark geworden, daß die traditionellen Koalitionen, Sozialisten und Liberale bzw. Christdemokraten und Liberale nicht mehr gingen, es gab eine große Koalition, das war die Regierung Junker, die hat dann die 90% auch durchs Parlament gebracht. Bei der nächsten Wahl war die Ein-Punkt-Partei der Rentner wieder draußen, aber ihr bleibendes Denkmal ist diese Säule in der Graphik. Wenn wir uns dasselbe mal für Deutschland ansehen, da war das ganz anders: Wir hatten 1980 noch ein Verhältnis der Renten pro Kopf an dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von knapp 70 Prozent, 1990 waren es schon weniger als 60% und 1993 waren wir noch irgendwo bei 55%. Das illustriert nicht nur diese Aussage von Lutz Freitag, sondern zeigt auch, daß dies wieder einmal ein deutscher Sonderweg war in dieser Entwicklung. Es sagt ja niemand, daß die Renten bei uns gesunken seien, es heißt nur, unser Rentensystem ist in diesen 13 Jahren weniger leistungsfähig geworden, was die Absicherung einmal erworbener Einkommenspositionen im Arbeitsleben im Alter angeht. Und auch das sollte ja eigentlich ein Grund sein, mehr Reformen in die Richtung zu machen, wie wir diese Entwicklung umkehren können, als sie noch zu beschleunigen. Aber es liegt wahrscheinlich daran, daß - wie der neue Vorsitzende des Sozialbereits mal ganz spitz aber wohl zutreffend bemerkt hat - Norbert Blüm halt ein Sozi- [Seite der Druckausg.:217] alminister war und der Walter Riester ein Arbeitsminster ist. Und das gibt eine andere Perspektive, nämlich Lohnnebenkosten senken, Beschäftigung durch Entlastung der Arbeitseinkommen schaffen, und nicht so sehr die Perspektive, den Lebensstandard von Rentnern zu sichern. Schönen Dank für die Geduld. H. Dauner: Ist die Art der Reform nicht ein Ausdruck dafür, daß die Interessengruppen, die politisch Macht haben, sich entlasten oder ein Geschäft draus machen, siehe Banken und Versicherungen zu Lasten einer politischen, kräftemäßigen Minderheit, nämlich der Rentenversicherten. Die Banken/Versicherer machen ein Riesengeschäft mit der ganzen Sache, die Arbeitgeber haben sich entlastet, die Freiberufler und die Beamten sind fein heraus, weil sie daneben laufen mit ihren Sondersystemen. Sie sind auch indirekt entlastet durch eine indirekte Belastung der anderen. A. Braun: Das ist sicher so. Machen wir mal ein Gedankenexperiment. Wenn wir unser Versicherungssystem verlassen und die Alterssicherung steuerfinanziert wäre, dann würde natürlich die Belastungsverteilung völlig anders aussehen. Nehmen wir weiter an, wir würden einen Teil als Basissicherung machen wie die Niederländer oder die Schweizer, oder wir würden gar das Ganze aus Steuern finanzieren wie die Dänen, dann wäre natürlich die Belastungswirkung, die Verteilung dieser Belastungen völlig anders als heute bei dieser Beschränkung auf die Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Das beste Beispiel dafür gibt das Gesundheitswesen. Im Gesundheitswesen haben wir, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, also an der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, in den letzten 15 Jahren ein stabiles Ausgabenniveau von etwas über 9 Prozent des BIP für Gesundheitsleistungen. Da sind wir zwar relativ hoch, andere wie die Vereinigten Staaten sind noch höher, aber diese Ausgaben halten sich stabil. Weil unsere Einnahmen sich in der Krankenversicherung aber auf die Entwicklung der Lohnquote beziehen und die gesamtwirtschaftliche Lohnquote zurückgegangen ist, heißt das, der Kuchen, von dem wir die Abgaben erheben, wird kleiner, die Beitragssätze müssen einfach steigen. Gegenüber den Löhnen und den Beitragseinnahmen steigen die Ausgaben im Gesundheitswesen überproportional. Die Ausgaben im ambulanten Bereich sind ungefähr mit der Lohnentwicklung synchron, aber die Ausgaben im stationären Bereich laufen genau parallel zur gesamtwirtschaftlichen [Seite der Druckausg.:218] Entwicklung, zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Hätten wir über die Steuern einen Zugriff auf das Wachstum des BIP, dann wäre das sehr viel eher harmonisierbar als durch unsere traditionellen Beiträge auf den Lohn, auch wenn die Arbeitgeber die Hälfte davon zahlen. Wir beschränken einfach den Zugriff auf die Ressourcen durch dieses Beitragssystem erheblich gegenüber anderen Systemen. Hans Werner Röder: Der Begriff Parität der juckt mich schon seit 50 Jahren. Auch in der Zeit, in den 60er Jahren als ich noch in der großen Tarifkommission beim Bau war. So vernünftig, wie man damals als junger Mensch war, habe ich sofort begriffen, daß der Arbeitgeberanteil doch von den Arbeitern, wie wir damals gesagt haben, und Angestellten - und nicht Arbeitnehmern - erst erarbeitet werden mußte. Also ist es doch nur ein sogenannter Showeffekt gewesen und ist es auch heute. Und wenn ich nun betrachte, daß der Arbeitgeber, wenn wir so schön rechnen, die Hälfte einbezahlt, dann nimmt er von dieser Hälfte bei seiner Steuererklärung was rein und hat faktisch doch sowieso nicht die Hälfte bezahlt. Wenn man ihm das unterstellen will. Ich halte bis heute nichts von dem Begriff Parität, warum? Weil für diese zusätzliche Rente, die der Riester jetzt im Blick hat, der Arbeitgeber nicht mehr hinzuzahlen soll. Es ist doch die Aufgabe der Gewerkschaften, dafür zu sorgen, daß man einen vernünftigen normalen Lohn kriegt und das hätten die Gewerkschaften doch auszuhandeln. A. Braun: Ich befürchte nur, die Chance der Gewerkschaften, das auszuhandeln, sind sehr unterschiedlich. Die Reaktion z.B. meiner eigenen Gewerkschaft ärgert mich fürchterlich. Der Kollege Mai äußert sich in der Rentensache außerordentlich zurückhaltend; das geht bis ins ÖTV-Magazin, wo der Anfang einer Erklärung des Hauptvorstandes zu der Rentengeschichte auf der Seite 3 steht, dann durch ein großes Bild von Walter Riester unterbrochen wird und auf der allerletzten Innenseite kommt dann erst die Fortsetzung der Erklärung des Hauptvorstandes. Was mich daran so ärgert, ist, wenn ich in einer Gewerkschaft bin, bei der der überwiegende Teil der Mitglieder über die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes in Richtung Pension abgesichert ist, dann halten die plötzlich den Mund. Und das ist der Punkt. Denn die anderen, die es brauchen, die Leute, die HBV organisiert, die haben das nicht. Und deren Vorsitzende geht [Seite der Druckausg.:219] entsprechend auch etwas lautstärker vor. Aber mein Alptraum ist, daß am Ende nur noch zwei Leute sich wehren, der eine ist der Roland Issen von der DAG und das andere ist der Kollege Schmidthenner von der IG Metall. Und alle anderen sagen, das kriegen wir für unsere Mitglieder schon geregelt, - gerade mit Eurer Tradition im Baugewerbe - machen wir mal nicht allzuviel Ärger. Und die andere Sache ist: Alle diese Maßnahmen sind ja so angelegt, daß sie die heutigen Rentner angeblich nicht mehr treffen, sondern bei denen eine Art schlechtes Gewissen hervorrufen: wenn die Argumente für die Kürzungen richtig sind, dann geht es mir ja eigentlich viel zu gut, dann bin ich mal ganz ruhig, ich gehöre sozusagen noch zu den Priviligierten und darf mich da nicht laut aufführen. Nicht, die Gruppe ist damit auch ausgeblendet aus der Diskussion, sie rührt sich ja auch nicht mehr. H. Dauner: Am Ende dieser Tagung ist ja die große Frage, was tun wir? Wir persönlich, was tun wir an der Basis. Und das heißt für mich schreien und zwar argumentativ mit differenziertem Wissen aufwarten. Sie haben einiges davon jetzt wiedergegeben. Das brauchen wir und da brauchen wir Multiplikatoren an der Basis. Ich bin sehr aktiv in der Seniorenarbeit. Ich halte immer wieder Nachmittage oder Abende. Ich staune, das ist ein schlafender Riese. Die merken gar nicht, daß ihnen das Fell über die Ohren gezogen werden soll. Also die Frage ist die Umsetzung unserer konkreten Folgerungen an der Basis. A. Braun: Ja, ich kann mich eigentlich damit rausreden, daß wir uns hier seit 10 Jahren über Vergleich von Politiken in der Gemeinschaft unterhalten, und daß die Leute, die sich an dieser Unterhaltung beteiligen, dann ihre Schlußfolgerungen eigentlich selber ziehen sollten. Ich habe keine Rezepte und habe nicht das große Vertrauen in die Mobilisierungseffekte meiner Argumente. Also Argumente müssen schon etwas näher an den nackten Interessen dran sein, um mobilisierend zu wirken. Und wie gesagt, für viele betroffene Rentner ist das alles ziemlich weit von ihnen weg. Das trifft sie nicht mehr, meinen sie. Ich würde noch gerne eine Geschichte zum Schluß erzählen, die liegt auch schon 20 Jahre zurück, auch aus einer internationalen Erfahrung. Die ÖTV hat in den 80er Jahren mal karibische Hafenarbeiter-Gewerkschafter ein- [Seite der Druckausg.:220] geladen nach Stuttgart und wie üblich, konnten sie am Sonntag nichts mit ihnen anfangen und haben sie nach Schömberg geschickt zu mir in die Akademie. Ich habe dann mit denen noch ein bißchen das deutsche Sozialsystem erläutert. Und habe unvorsichtigerweise das Rentensystem dargestellt ohne diesen systematischen Vorspann, was das eigentlich bedeutet. Und die haben sich das alles interessiert angehört, dann auch die Zahlen nochmal nachgefragt. Und der große Häuptling, der fragen durfte, denn das war bei denen ziemlich streng verteilt, der hatte dann eine Frage, nämlich, welche Immobilien und welche Aktien in Deutschland nicht der Rentenversicherung gehören. Das heißt, der hatte das Kapitaldeckungsverfahren amerikanischer Prägung vom Ergebnis her einfach auf deutsche Verhältnisse umgedacht und hat gesagt, wenn die so leistungsfähig sind, dann muß bei denen praktisch alles der Rentenversicherung gehören, sonst könnten die nicht so hohe Renten zahlen. Das war sozusagen mein Urerlebnis mit der Kapitaldeckung und ich bin immer noch ein begeisterter Anhänger des Umlageverfahrens, auch wenn jetzt irgendwelche Chicago-Boys auch an deutschen Hochschulen erzählen, das Sicherungsversprechen der deutschen Rentenversicherung für ihre künftigen Rentner sei ja im Grunde auch bloß eine Art versteckte Staatsverschuldung und die sei gigantisch. Das war eine Story statt eines Schlußworts, herzlichen Dank für die Geduld. U. Kruse: Ja, ich wollte nur sagen herzlichen Dank und hoffentlich auf Wiedersehen an einem anderen Ort. [Seite der Druckausg.:221] FREUDENSTÄDTER FORUM Solidarität der Generationen
Ein Europa der Generationen -
10 Jahre nach dem Beschluss der Gemeinschaftsorgane
Folgende europäische Experten haben Beiträge zum Freudenstädter Forum 2000 geleistet:
[Seite der Druckausg.:222= Leerseite] [Seite der Druckausg.:223-224] TeilnehmerInnenliste
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