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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 7 (Fortsetzung)]

Prof. Dr. Ruth Mattheis

Na, dann will ich mal sehen, ob ich mit der Technik zurecht komme. Bißchen näher ran, so geht es, können Sie mich bis hinten hören ? Gut. Also zunächst, Herr Braun, Ihnen vielen Dank für die freundliche Einladung. Ich bin sehr gern hierher gekommen und hoffe, daß ich ein bißchen beitragen kann zu Ihrer Veranstaltung. Das mir übertragene Thema heißt „Medizinische Zielsetzung in einer alternden Gesellschaft"; ich denke aber, es ist gut, wenn ich Ihnen mit wenigen Sätzen sage, auf welchem Erfahrungshintergrund ich dieses Thema behandle: Kriegen Sie

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keinen Schreck, ich bin in die Medizin gegangen als Kinderärztin. Bin dann aber schon Anfang, bitte...

(Zwischenruf: ..... langsam älter geworden !)

Das ist ja das Schicksal, das wir alle haben. Nein, bei mir lief das insofern ein bißchen anders, ich bin dann Anfang der 50er Jahre eigentlich durch äußere Zwänge, aber nicht zu meinem Ünglücklichsein, in den öffentlichen Gesundheitsdienst gegangen, in dem ich dann fast 35 Jahre tätig war, davon 25 Jahre in West-Berlin auf der Ministerialebene in der Senatsgesundheitsverwaltung, wie das bei uns heißt, und dort habe ich sehr lange Jahre die Gesundheitsplanung, die gesamte Planung der stationären und ambulanten Versorgung in Berlin machen müssen und bin da in dieser Stadt, die ja eine besondere Altersstruktur, also mit einem sehr hohen Anteil alter Menschen hatte, natürlich sehr schnell und sehr intensiv mit Fragen der Geriatrie in Berührung gekommen.

Ich befinde mich seit knapp 10 Jahren in dem, was ich den tätigen Ruhestand nenne, und habe mir hier einen Schwerpunkt gesetzt in der Medizinethik, darum bin ich hier auch als Angehörige der Ethikkommission der Ärztekammer Berlin ausgewiesen, bin aber weiter auch im geriatrischen Bereich aktiv. Wir sind dabei, ein modellhaftes geriatrisches Zentrum aufzubauen unter der ärztlichen Leitung von Frau Dr. Steinhagen-Tissen, die vielleicht einigen von Ihnen dem Namen nach bekannt ist, und schließlich und endlich und damit bin ich auch am Ende meiner persönlichen Mitteilung, stamme ich aus einer lang lebenden Familie und habe sowohl meine Mutter als ihre beiden alten Schwestern, die 87 bzw. 91 Jahre und 92 Jahre alt geworden sind, bis zu ihrem Tod intensiv betreut, so daß ich also auch eine ganze Menge praktische Erfahrung mit den Problemen und auch den Nöten alter Menschen habe, denke ich.

Aber nun zu meinem Thema. Daß die Menschen in der Bundesrepublik, wie in praktisch allen sogenannten Industrieländern immer älter werden, ist eine so allbekannte Tatsache, daß man schon Hemmungen hat, die immer von neuem mit Zahlen zu belegen. Und ich will Sie auch nicht mehr als nötig mit Zahlen plagen, immerhin Ihnen doch noch einmal ins Bewußtsein rufen, daß die Lebenserwartung in der Bundesrepublik sich

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in reichlich 100 Jahren mehr als verdoppelt hat. Eine Junge, der 1880 geboren wurde hatte eine Lebenserwartung von 36 Jahren, ein heute geborener Junge bzw. der, der im Jahr 2000 zur Welt kommen wird, hat eine Lebenserwartung von mehr als 72 Jahren.

Dabei ist ganz interessant, wenn man sich diesen Zeitraum von 120 Jahren ein bißchen untergliedert ansieht. Der Zuwachs an Lebensjahren im ersten Drittel dieser Periode, also 1880 und 1920, betrug 9 Jahre. Man hatte also 1880 die Erwartung auf 36 Jahre, 1920 die auf 45. Und wenn man sich die Ursachen vergegenwärtigt, so wird man sagen, die Medizin hat zu diesem Anstieg gar nicht besonders viel beigetragen. Es war die Verbesserung der Lebensverhältnisse, es war die allmähliche Verbesserung der Ernährungssituation, es waren natürlich damit im Zusammenhang stehend gewisse Möglichkeiten z.B. einer ursprünglich sehr weit verbreiteten Krankheit, der Tuberkulose, besser zu Leibe zu gehen; aber viel hat die Medizin in diesem ersten Drittel des geschilderten Zeitraumes sicherlich nicht beigetragen. Das sieht gänzlich anders aus im zweiten Drittel, also zwischen 1920 und 1960. Da kam ein Zuwachs von 20 Jahren Lebenserwartung zustande und das ist ganz leicht zu erklären, wenn wir uns vergegenwärtigen, das ist die Phase, wo Penicillin und andere Antibiotika ihren Einzug hielten, wo die Schutzimpfungen entwickelt wurden, es war also ganz, ganz wesentlich die erfolgreiche Bekämpfung von Infektionskrankheiten, die diesen großen Zuwachs in dieser Periode begründet. Und dann wie bei all diesen Entwicklungen, je weiter man kommt, umso schwieriger wird es und umso kleiner sind die Fortschritte: also was man für das letzte Drittel dieser insgesamt 120 und damit wiederrum 40 Jahre erwartet, sind noch einmal 7 Jahre Zuwachs. Da wird sicherlich die Medizin einen nicht unerheblichen Beitrag leisten, denken Sie an die Herzchirurgie, die in dieser Zeit entwickelt worden ist, aber auch an viele andere Methoden. Mir kam es darauf an zu sagen: zu Anfang mehr die Verbesserung der sozialen Verhältnisse, dann dieser große Fortschritt und Durchbruch in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten und nun versuchen wir immer weiter in kleinen Schritten nach oben zu kommen.

Daß ein solche gesteigerte Lebenserwartung - mit der im übrigen in sehr vielen Ländern ja ein Rückgang der Geburtenhäufigkeit parallel geht -

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einen erheblichen Einfluß auf die Altersstruktur der Bevölkerung hat, hoffe ich Ihnen hier deutlich auf dieser Folie deutlich machen zu können. Sie sehen 1910 in der Altersgruppe der unter 20-järhigen 40 %, der über 60-jährigen 10 %, dazwischen dann die Mittelgruppe 20 bis 60 Jahre, also die Hauptgruppe der Erwerbstätigen; Sie sehen unseren jetzigen Zustand 20, 60, 20 und Sie sehen, was nach Vorausberechnungen im Jahr 2030 auf uns zukommt: nur noch 15 % unter 20, 35 % über 60 und dazwischen die Gruppe mit 50 % im erwerbstätigen Alter. Man kann sich unschwer vorstellen, daß eine solche Entwicklung allein der Altersstruktur einhergeht mit ständig steigenden Anforderungen an das Gesundheitswesen, dessen Kosten sich in den letzten 25 Jahren mehr als vervierfacht haben, wobei wir nicht vergessen wollen, auch in anderen Bereichen sind die Kosten ständig gestiegen, aber immerhin beansprucht das Gesundheitswesen in der BRD 8 bis 9 % des Bruttosozialproduktes. Ich gebe diese Zahlen mit ein klein bißchen Zögern weiter, weil ich um die Abgrenzungsschwierigkeiten weiß, was rechnet man in das Gesundheitswesen rein, was rechnet man nicht rein, aber dies ist also eine der offiziellen Zahlen.

Eine besondere Folge der zunehmenden Alterung der Bevölkerung ist der Anstieg des Bedarfs an Pflegeleistungen. Sie sehen, der Bedarf an Pflegeleistungen steigt bis zum Alter von 65 Jahren nur ganz geringfügig und liegt unter 1 %. Das sind im wesentlichen Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen, die also zum Teil von Geburt an Pflege brauchen, dann kommt selbstverständlich ein gewisser Teil Unfallverletzter dazu; Sie sehen die Männer, die etwas mehr Unfälle haben, da steigt es zwischen 40 und 65 schon, aber dann geht es doch ziemlich rasch mit der Steigerung und bei den über 75-jährigen sehen Sie, daß ein Fünftel der Männer und praktisch ein Drittel der Frauen auf ständige Pflegeleistungen angewiesen sind. Wir kommen auf diesen Unterschied zwischen Männern und Frauen nachher noch einmal zurück.

Natürlich werden die steigenden Kosten des Gesundheitswesens nicht allein durch die zunehmende Alterung ausgelöst. Denken Sie daran: da ist einerseits die Tatsache der ständigen Fortschritte der Medizintechnik - also mich graust es im Augenblick geradezu, wenn ich von der „Minimal Invasive-Chirurgie" höre; hat man früher einen, ich sag jetzt mal, ehr-

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lichen Schnitt gemacht, um die Gallenblase herauszuholen, so muß das jetzt höchst kompliziert durch Röhrensysteme vor sich gehen, was natürlich für so und so viel Krankenhäuser bedeutet, neue Einrichtungen, neue Technik. Also die Medizintechnik ist ein ganz wesentlich kostentreibender Faktor, aber auch die Tatsache, daß wir immer mehr Menschen mit chronischen Krankheiten haben, die eben mit den heutigen Mitteln der Medizin dabei durchaus alt werden können und wir wollen auch nicht die gesteigerte Anspruchs- und Erwartungshaltung der Bevölkerung an die Medizin vergessen. Also es gibt mehrere Ursachen.

Nun ist es so, wenn der Bedarf bzw. das, was als Bedarf geltend gemacht wird, die zur Verfügung stehenden Mittel überschreitet, dann ergibt sich das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. In der BRD ist die Debatte über Kostendämpfung im Gesundheitswesen, man kann ja wirklich sagen, ein tagespolitisches Dauerthema. Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit, das zu Unrecht oft mit der Kostendämpfung vermengt wird, ist dagegen in Deutschland im Gegensatz etwa zu den USA noch kein allzu häufiges Thema. Wenn es um Verteilungsgerechtigkeit geht, so muß man sich immer die Frage stellen, woran soll sie sich orientieren, nach welchen Prinzipien soll sie durchgeführt werden ? Und dazu gibt es gänzlich unterschiedliche Meinungen. Da sind zunächst einmal die sogenannten Utilitaristen (ich bin immer froh, wenn ich dieses Wort ohne Stottern rausgebracht habe), das bedeutet - ja, ja es kommt sofort; es tut mir leid, ich bin kein Fan von Fremdworten, aber ich habe kein passendes deutsches Wort: die Zweckdenkenden, wenn Sie so wollen, das sind also die Menschen, die das Ziel anstreben, mit den verfügbaren Mitteln den größtmöglichen Nutzen für eine größtmögliche Menge zu erreichen, also ein Prinzip, zu dem ich mich sehr weitgehend bekennen kann. Dann gibt es aber die, die die Verteilung orientieren wollen am Verdienst - also jetzt nicht finanziell gemeint - am Verdienst bzw. auch gerade am Nichtverdienst, also z.B. an Leistungen, die der Betreffende schon für die Allgemeinheit erbracht hat oder in Zukunft erbringen wird. Da kommt dann, wie Sie merken, das Problem junge Menschen/alte Menschen rein, aber auch Nichtverdienst: warum soll derjenige, der seine Leber kaputtgetrunken hat, nun auch noch eins von den kostbaren Lebertransplantaten bekommen. Und dann gibt es wieder welche, die sagen, nein das ist alles nicht befriedigend, also wir machen das hier

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nach dem Prinzip, wer zuerst kommt, mahlt zuerst oder wir werfen die Münze: also das sind die, die sich ganz streng an neutrale Kriterien halten wollen. Ich will damit nur deutlich machen: das ist leicht zu sagen, wir wollen Verteilungsgerechtigkeit, aber sie zu praktizieren ist dann doch schon wesentlich schwieriger. Ganz gleich welches Prinzip man anwendet, man wird, wenn es ethischen Ansprüchen genügen soll, immer sagen, es muß transparent sein, d.h. also es muß offengelegt werden, es muß für alle Beteiligten in gleicher Weise gelten und, was mir sehr wichtig ist, es darf vor allem nicht die schwächsten Mitglieder einer Gemeinschaft benachteiligen.

Und nun kommen wir zu diesem geheimnisvollen Thema „Setting Limits" mit dem ich hier auch so ein bißchen angekündigt bin. Dieser Begriff ist eingeführt worden durch ein 1987 in USA erschienenes Buch eines Ethikers mit dem Namen Daniel Callahan, der dieses Buch unter den Titel gestellt hat „Setting Limits", also Grenzen setzen, „Medical Goals in an Aging Society", medizinische Zielsetzung in einer alternden Gesellschaft, also genau das Thema, das uns hier heute morgen beschäftigt. Und in diesem Buch, das bis heute in einschlägigen Kreisen sehr lebhaft diskutiert wird geht es im Kern um das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. In Europa, von dem ich sagte, daß hier bisher die Kostendämpfung im Vordergrund steht, ist dieses Buch bisher wenig reflektiert worden, ich habe in Vorbereitung auf das Zusammensein mit Ihnen eine kleine Literaturrecherche gemacht und war ganz überrascht, da nicht allzu viel dazu zu finden, im Gegensatz also zu den Vereinigten Staaten. Nun aber, was sagt denn der viel kritisierte Herr Callahan ? In unzulässig verkürzter Form wird ihm die Empfehlung zugeschrieben, bestimmte kostenaufwendige medizinische Leistungen jenseits einer bestimmten Altersgrenze nicht mehr anzuwenden.

Der Grundgedanke, von dem Callahan ausgeht, das muß man sich wirklich klarmachen, ist der, daß jeder Mensch das hat, was er eine „natürliche Lebensspanne" nennt, die er mit 80 bis 85 Jahren ansetzt, und daß jenseits dieser Altersgrenze keine kostenaufwendigen Techniken mehr eingesetzt werden sollen, um das Leben zu verlängern. Um diesen Gedanken zu verwirklichen, schlägt er einen Stufenplan vor, den er mit 20 bis 30 Jahren ansetzt. In diesen 20 bis 30 Jahren, sagt er, ist das

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Wichtigste, ein Umdenken in der Bevölkerung in zwei Bereichen herbeizuführen. Einmal sollen die besonders in den Vereinigten Staaten auf ewige Jugend orientierten Menschen sich wieder darauf rückbesinnen, daß das Leben endlich ist und als zweites möchte er dem Gedanken Geltung verschaffen, daß nicht nur Heilung und Lebensverlängerung wichtige Aufgaben sind, sondern Pflege und Fürsorge keinen geringeren Stellenwert haben als therapeutisches Handeln mit dem Ziel der Heilung. Er sagt darum, die verfügbaren Einrichtungen für Langzeitpflege und die häusliche Krankenpflege müssen intensiviert und in ihrer Kapazität wesentlich gesteigert werden. Schließlich fordert er - was für deutsche Verhältnisse kein relevantes Thema ist - als wichtigste Änderung ein die gesamte Bevölkerung umfassendes Versicherungssystem zu schaffen, das ja in den Vereinigten Staaten einen großen oder einen doch nennenswerten Teil der Bevölkerung überhaupt nicht erfaßt, im Gegensatz zu uns. Und, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, will Callahan den Gedanken der Leistungsbegrenzung, der Rationierung durch Lebensalter in die Tat umgesetzt sehen.

Man darf also nicht vergessen, diese Ausführung von Callahan und sein Konzept in einen Gesamtrahmen zu stellen. 15 Prozent aller amerikanischen Bürger haben aus Kostengründen heute keinerlei Zugang zur Gesundheitsversorgung. Man hat in den sechziger Jahren - wir werden darüber wahrscheinlich heute abend von Frau Hoskins hören - zwei Programme für öffentlich finanzierte Gesundheitsleistungen in Gang gebracht, das eine für die wirtschaftlich Bedürftigen, das sogenannte Medicaid, das wäre also das, was wir als Gesundheitsversorgung zu Lasten der Sozialhilfe praktizieren, und als Zweites ein Programm für die alten Menschen, Medicare, an das bisher alle über 65-jährigen Ansprüche stellen dürfen. Aber es gibt gerade eine große Debatte diese Altersgrenze nach oben zu ziehen, also auf 67, 68.

Ich habe immer den Eindruck, die Amerikaner haben sich heute noch nicht von dem Schock erholt, daß gerade diese beiden Programme natürlich ganz erhebliche finanzielle Aufwendungen fordern. Bisher gar nicht gewöhnt an Leistungen dieser Art aus öffentlichen Mitteln, wurde jetzt an den beiden Punkten angefangen und das kostet natürlich was. Ich war also gerade vor einer Woche in den USA und ich sagte zu Herrn Braun,

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die Zeitungen dort waren voll der Diskussionen im Kongreß, in welchem Umfang und in welcher Weise man speziell die Medicare-Leistungen, also die für alte Menschen, kürzen müsse, weil das ja alles ganz schrecklich würde, wenn diese Gruppe natürlich auch in USA weiter anwächst. Es wurde z.B. in der Zeitung mitgeteilt - ich habe das extra rausgeschrieben - irgend einer kluger Mensch hat errechnet, 25 Prozent der Ausgaben von Medicare werden für Patienten in den letzten sechs Lebensmonaten aufgebracht. Das ist natürlich geeignet, in der jüngeren Bevölkerung die Frage „Na, wo soll denn das noch hin ?" entstehen zu lassen. Dabei muß ich jetzt als eine ganz wichtige Ergänzung nachtragen, daß der Vorschlag von Callahan sich nur auf Medicare-Patienten bezieht, die öffentliche Mittel in Anspruch nehmen. Der Privatzahler darf seiner Meinung nach unabhängig vom Alter jede Leistung in Anspruch nehmen, muß sie natürlich auch bezahlen. Daß das gerade unter ethischen Gesichtspunkten ein überaus angreifbarer Standpunkt ist, brauchen wir uns, glaube ich, gegenseitig nicht zu erzählen.

Das Konzept ist nicht nur außerhalb sondern auch in den USA doch auf erhebliche Kritik gestoßen. Ich habe vor zwei Jahren das Vergnügen gehabt, mich im Rahmen einer Veranstaltung wie dieser hier mit Herrn Callahan auseinanderzusetzen, was mir erst etwas beängstigend erschien, aber nachher gings ganz gut, denn ich hatte aus dem Publikum deutlich mehr Zustimmung als er. Also erst mal muß man sich klar machen, was Sie alle wissen, daß das chronologische Alter durchaus nicht immer parallel geht mit dem biologischen Alter. Aber selbst wenn man das einmal außer acht läßt, würde man durch die Ziehung einer Altersgrenze niemals eine homogene Gruppe zustande kriegen. Je älter der Mensch wird, umso stärker ist er geprägt durch alle möglichen Faktoren seiner bisherigen Entwicklung, also die soziale Einbindung, die bisherige Lebensqualität, der Lebenswille spielen eine Rolle, aber auch krankheitsbedingte Faktoren wie Behandlungsrisiko und Prognose sind ja von Fall zu Fall ganz verschieden. Und all dies außer acht lassen, nur weil ein Mensch ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat, denke ich, wird uns in der Regel nur sehr schwer einleuchten und erscheint ethisch unvertretbar.

Völlig unakzeptabel finde ich den Vorschlag, diese Ausgrenzung von

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Leistungen nur auf die finanzschwachen Menschen zu beziehen, die damit im Grunde doppelt benachteiligt werden: einmal auf Grund ihres Alters und zum anderen auf Grund der Tatsache, daß sie wirtschaftlich schwach sind. Man würde damit gleich doppelt gegen den ethisch begründeten Grundsatz verstoßen, daß die schwächsten Mitglieder einer Gemeinschaft zugleich die Schutzbedürftigsten sind. Einen feministisch getönten Einwand gegen Callahans Konzept will ich wenigsten erwähnen, der sich darauf gründet, daß ja erfahrungsgemäß die höheren Altersgruppen stärker von Frauen besetzt sind und damit also gesagt ist, aha und die Frauen benachteiligt er nun auch nochmal ganz besonders. Mir selbst erscheint wichtiger, daß mit seinem Konzept das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie des Patienten ausgehebelt werden. Autonomie und Selbstbestimmungsrecht des Patienten sind gerade in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zu einem Leitgedanken der Medizinethik geworden, und ob man, nur weil man eine Altersgrenze erreicht hat, sich dieses Rechts auf Selbstbestimmung begeben möchte, das sollte jeder von uns sich mal selbst fragen. Also ich glaube, daß das ganz und gar unvertretbar ist. Das sind also die Einwände gegen das Konzept.

Ich denke aber, das Konzept enthält auch positive Elemente. Der zentrale Gedanke, daß das Leben endlich ist, ist meines Erachtens zu bejahen. Daß hierzu ein Umdenken in der Bevölkerung notwendig ist, ist uns allen sicherlich klar. Ob 20 bis 30 Jahre ausreichen, das heute vielfach übliche Streben nach ewiger Jugend in eine Haltung umzuwandeln, die nicht nur das Alter, sondern auch das Ende des Lebens als etwas naturgegebenes akzeptiert, bleibt abzuwarten. Ich halte das eher für fraglich, aber es gab und gibt ja Kulturen, in denen dieses Wissen und diese Haltung zum Leben bis auf den heutigen Tag etwas Selbstverständliches sind.

Um hier etwas zu verändern, muß man sicher an sehr vielen Punkten ansetzen, z.B. auch bei der ärztlichen Ausbildung. Der Arzt wird heutzutage ausgebildet mit dem Ziel Leben retten, Leben erhalten, Leben verlängern. Die moderne Medizin eröffnet dazu immer weitergehende Möglichkeiten. Der Tod wird mit allen Mitteln, man kann sagen im wörtlichen Sinne „Koste was wolle" bekämpft und wenn er eintritt, erlebt der Arzt ihn sehr häufig als eigene Niederlage.

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Einer meiner alten klinischen Lehrer hat uns immer wieder gesagt, trösten und beistehen ist eine genauso wichtige ärztliche Aufgabe wie heilen, aber ich denke die Zahl der Ärzte, die darin heute eine wichtige Aufgabe sehen, ist nicht allzu groß. Ich habe vor kurzem mit wirklichem Interesse gelesen, daß Konrad Adenauer 1967 auf seinem Sterbebett drei Tage vor seinem Tod den jungen Arzt, der bei ihm Nachtwache hielt mit der Frage in große Verlegenheit gebracht hat „Wie kann es der Arzt mit seinem Gewissen vereinbaren, etwas mit allen Mitteln am Leben zu erhalten, das dazu nicht mehr fähig ist ?" Auf eine solche Frage war natürlich ein junger Arzt auch nicht im geringsten vorbereitet.

Ebenso berührt hat mich ein Ausspruch der noch jungen Journalistin und Schriftstellerin Krone-Schmalz. Sie sagte kürzlich im Rahmen eines Interviews: „Wir müssen verinnerlichen, daß das Leben endlich ist, ohne darüber ständig traurig zu sein." Wenn solch eine Haltung sich breitere Anerkennung verschafft, wird Lebensverlängerung als alleiniges Ziel seinen derzeitigen überragenden Stellenwert verlieren.

Nun ist es so, jeder, der sich ein langes Leben wünscht, geht weitgehend unreflektiert davon aus, daß es ein von Fremdhilfe unabhängiges, selbstbestimmtes Leben sein soll und sein wird. Aber, die Wirklichkeit sieht anders aus. Ich habe Ihnen in einer der Grafiken zeigen können, daß jenseits des 84. Lebensjahres praktisch jeder 5. Mann und jede 3. Frau auf ständige Fremdhilfe im Sinne von Pflege angewiesen sind. Wenn man sich klar macht, daß die Altersdemenz bei den 65- bis 70-jährigen ungefähr 2,5 bis 5 Prozent beträgt, dann aber bis zum 90. Lebensjahr auf 30 Prozent ansteigt, dann wird deutlich, daß hohes Alter nicht selbstverständlich mit dem einhergeht, was wir heute unter guter Lebensqualität verstehen. Interessant, und meines Erachtens wenig bekannt, ist, die Tatsache, daß die höhere Lebenserwartung der Frauen vielfach aus Jahren mit Aktivitätseinschränkungen besteht, so daß die, ich nenne es mal „behinderungsfreie Lebenserwartung" von Männern und Frauen gar nicht so verschieden ist. Dazu habe ich auch noch eine kleine Folie. Das ist eine Untersuchung aus der Schweiz, wo man also drei Aktivitäten des täglichen Lebens, Verlassen der Wohnung nur mit Begleitung möglich, auch bei kürzeren Gehstrecken Fremdhilfe nötig, Treppe erhebliches Mobilitätshindernis, untersucht hat bei über 85-jährigen.

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Aktivitätseinschränkungen bei über 85-jährigen


Männer

Frauen

Verlassen der Wohnung nur mit Begleitung möglich

20 %

40 %

Auch bei kürzeren Gehstrecken Fremdhilfe nötig

16 %

31 %

Treppe erhebliches Mobilitäts-hindernis

18 %

43 %

Und Sie sehen, daß in allen drei Kategorien die Männer deutlich besser abschneiden. Das habe ich so in meiner schlichten Ausdrucksweise umgesetzt indem ich gesagt habe, nun ja es werden weniger Männer 85, aber die, die es werden, die sind denn also doch noch ganz schön fit. Aber es ist, finde ich, interessant, daß der Vorteil der längeren Lebenserwartungen der Frauen sich doch noch einmal deutlich relativiert. Ich erwähnte schon die Demenz und ich möchte das noch ein bißchen ausführen: es ist für mich eine der bedrückensten Tatsachen, daß es eine wachsende Zahl alter Menschen gibt, die bei relativ guter körperlicher Verfassung mit den uns heute zur Verfügung stehenden Mitteln vor einem ständigen Verfall ihrer geistigen Fähigkeiten nicht geschützt werden können. Wenn es der Forschung nicht gelingt, wirksame präventive und therapeutische Maßnahmen für Demente zu entwickeln, werden wir uns für die kommenden Jahrzehnte auf eine weitere Zunahme der Zahl alter und sehr alter Menschen einstellen müssen, die einen hohen Bedarf an Gesundheitsleistungen haben, und die Arbeit in solchen Einrichtungen - solange keine wirklichen Instrumente zur Verfügung stehen - ist meines Erachtens außerordentlich schwer.

Auf jeden Fall werden wir für die kommenden Jahrzehnte auf eine weitere Zunahme der Zahl alter und sehr alter Menschen einstellen müssen, die einen hohen Bedarf an Gesundheitsleistungen haben. Es ist daher heute noch nicht sicher zu sagen, ob Rationierungsmaßnahmen auf Dauer zu umgehen sind. Bevor man jedoch im Gesundheitswesen an Rationierung gleich welcher Art denkt, sollte zunächst alle Rationalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Es gibt kaum Meinungsver-

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schiedenheiten darüber, daß auch im Gesundheitswesen immer noch Ressourcen verschwendet werden. Unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen, unbedachter Umgang mit Material sind Beispiele für ein Einsparungspotential, das vielfach nicht genutzt wird. Das sind scheinbar nur kleine Dinge. Das ist die Verschwendung, der Einsatz und der unbedachte Umgang mit Material, aber in der Menge muß man sich das vorstellen. Es wird dann immer geschrieen, ach eine Herzoperation kostet so und so viel, das ist richtig, aber die Zahl der Herzoperationen verglichen mit dem verschleuderten Verbandsmaterial? Aber ich meine, die Industrie arbeitet auf solche Dinge ja hin: sie liefert Verpackungsgrößen, wenn die einmal aufgemacht sind, dann sind sie eben unsteril und schwapp geht es weg. Das muß man mal mit einem jungen Arzt besprechen, der aus dem Krankenhaus kommt, sich niederläßt und nach dem ersten Jahr voller Schrecken feststellt, daß er nun finanziell überhaupt nicht zurecht kommt; bisher glaubte er nämlich, dieses Material käme aus der Decke, kostenlos, und nun muß er es plötzlich bezahlen und dann geht die Rechnung nicht mehr auf. Also das ist nur ein Beispiel.

Dann möchte ich bei dem Einsparungspotential - so nenne ich es einmal vorsichtig - erinnern an die nicht geringe Zahl diagnostischer und therapeutischer Eingriffe, die durchgeführt werden, ohne einen wirklichen Nutzen für den Patienten. Das sind nicht nur die Doppeluntersuchungen, sondern das sind die Untersuchungen, die z.T. nur durchgeführt werden, damit der Arzt bei späteren Regreßansprüchen wegen unzureichender Behandlung belegen kann, das ist ja alles gemacht worden. Ich erinnere mich: vor zwei Jahren, als ich in den USA war, spricht mich ein Kollege an und sagt, wieviel wenden Sie denn für defensive medicine auf? Defensive medicine? Ich gucke den erstmal ganz verstört an und dachte, redet der von der Bundeswehr; aber der redete nicht von der Bundeswehr, sondern der meinte diese Rechtfertigungsmedizin, die in Amerika eine noch weitgrößere Rolle spielt als bei uns. Man schätzt dort, daß 25 Prozent der gesamten Gesundheitskosten in diesen Bereich gehen und sie haben ja eine Prozeßflut, die bei uns nun, Gott sei Dank, noch nicht die Höhe erreicht hat, aber auch bei uns kräftig im Steigen ist. Und da wäre z.B. ein Mosaiksteinchen für Kostendämpfung, daß man für den Schadensfall die Haftungsfrage anders regelt. Solange der Arzt die Sorge

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haben muß, es geht ihm ans eigene Portemonnaie, da wird er natürlich umso mehr tun, um sich vor einer solchen Situation zu schützen. Aber das ist nur ein Teilproblem.

Wenn wir an den Punkt kommen, daß wir mit Rationalisierung nichts mehr machen können, also bestimmte Leistungsausgrenzungen vorgenommen werden müssen und Rationierung nicht zu umgehen ist, so dürfen Entscheidungen darüber nicht hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Politik und Ärzteschaft müssen in einem ethisch fundierten Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit treten, wobei die Ärzte als Interessenwalter ihrer Patienten auftreten und die Politiker das Gemeinschaftsinteresse vertreten. Daß man nach Wegen sucht in einem solchen Diskurs, auch die Öffentlichkeit mit einzubeziehen, will ich Ihnen an einem kleinen Beispiel schildern. Der kleine Bundesstaat Oregon hat 1988 ein interessantes Experiment gemacht. Es hatte da einen größeren Aufruhr unter der Bevölkerung gegeben, weil die Regierung beschlossen hatte, keine öffentlichen Mittel für Herzchirurgie sondern Verbesserung der Schwangerenfürsorge. Für beides reicht das Geld nicht und wir ent-

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scheiden uns für die Schwangerenfürsorge. Das hatte, wie zu erwarten, eine Reihe von Widerständen ausgelöst und da hat man dann also als Modell einmal versucht, repräsentativen Gruppen der Bevölkerung Kataloge von Gesundheitsleistungen vorzulegen, die sie nach Dringlichkeit ordnen sollten. Also das führt zu Fragen wie, ist Zahnbehandlung wichtiger als Krebsfrüherkennung, sind kostenlose Schutzimpfungen wichtiger als die Modernisierung unserer Röntgentechnik in den Krankenhäusern. Also, ich habe sehr viel Verständnis für einen solchen Ansatz, denn in ähnlichen Schwierigkeiten steckt man ja ständig, wenn man Gesundheitsplanung und -finanzierung auf der mittleren Ebene macht; soll ich die verfügbaren Mittel für Pflegepersonal eher in die Intensivpflege geben - hier werden Leben gerettet tagtäglich, das kann man gar nicht bestreiten - oder soll ich diese zusätzlichen Kräfte aufwenden für eine Verbesserung der gereatrischen Pflege, wo es ja „nur" um Verbesserung der Lebensqualität geht. Ich wollte das auch nur schildern als kleine Merkwürdigkeit, aber zwei positive Effekte sehe ich bei einem solchen Vorgehen, auch wenn es nur modellhaft gemacht wird: einmal, es wird ein Gefühl dafür entwickelt, daß auch für die Gesundheit die Mittel nicht unbegrenzt sind - dieser schöne Satz „Gesundheit geht allem anderen vor" der ist ja in vielen Köpfen fest verankert - und es kann auch ein gewisses Verständnis dafür entstehen, wie schwierig solche Entscheidungen sind. Sie sind wirklich schwierig und darum finde ich es nicht ganz sinnlos.

So, nun sollte ich mich ja äußern zu den medizinischen Zielsetzungen in einer alternden Gesellschaft. Ich sage, als persönliche Meinung, aber ich denke, daß sehr viele Menschen die teilen, daß das Hauptziel darin bestehen sollte, die Phase mit guter Lebensqualität so lang wie möglich auszudehnen, was nicht unbedingt identisch ist mit maximaler Lebensverlängerung. Gute Lebensqualität bedeutet für die große Mehrzahl der Menschen, denke ich, ein selbstbestimmtes, von Fremdhilfe unabhängiges Leben. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es meiner Ansicht nach nicht in erster Linie weiterer Fortschritte im Bereich der Therapie. Die Therapiefortschritte, die wir im Augenblick erzielen, spielen sich zum großen Teil im Bereich der Hochleistungsmedizin ab und kommen relativ kleinen Patientengruppen zugute. Darum vertrete ich den Standpunkt, wichtiger als weitere therapeutische Fortschritte sind Fortschritte im

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Bereich der Prävention und der Rehabilitation. Der Mensch altert in der Regel so, wie er gelebt hat. Das heißt, gute oder schlechte Gesundheitsgewohnheiten bestimmen wesentlich seinen Gesundheitszustand im Alter. Ein berühmter niederländischer Sozialmediziner, Prof. Querido, hat einmal gesagt: „Es ist sehr kostspielig, Ruinen zu erhalten, man soll sie daher gar nicht erst entstehen lassen." Und ich glaube, daß das ein sehr vernünftiger Standpunkt ist.

Nun stehen wir natürlich vor einem praktischen Dilemma. Das Interesse älter werdender Menschen an Gesundheitsinformationen, an gesunder Lebensweise ist nachgewiesenermaßen groß, aber, aber, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr und man kann alles wissen, aber falsche Gewohnheiten im späteren Alter zu verändern, abzulegen - da wird mir auch jeder im Stillen recht geben - fällt meistens recht schwer. Junge Menschen sind nicht so besonders an Gesundheitsinformation interessiert, denen ist Gesundheit etwas selbstverständliches. Aber wenn Prävention, gerade auch für die höheren Altersgruppen etwas bringen soll, dann muß sie rechtzeitig einsetzen. So einsetzen, daß der Mensch mit guten Gesundheitsgewohnheiten alt wird. Daß auf diesem Wege etwas zu erreichen ist, sehen wir an der für mich sehr interessanten Tatsache, daß in vielen Industrieländern zwei gefürchtete Krankheitszustände, nämlich der Herzinfarkt und der Schlaganfall, in allmählicher Rückentwicklung sind, also seltener werden. Was man im wesentlichen zu erklären versucht einmal durch veränderte Eßgewohnheiten, insgesamt weniger Fett, und dann eben auch in Früherkennung und Frühbehandlung von Bluthochdruck. Das wäre also die Prävention.

Die Rehabilitation halte ich für mindestens ebenso wichtig und zwar ein erweitertes Konzept von Rehabilitation verglichen mit dem bisher praktizierten. Rehabilitation hat ja in der Bundesrepublik, aber auch in anderen Ländern, lange Jahrzehnte unter dem Hauptgedanken gestanden, Wiedererlangung der Arbeits- und Berufsfähigkeit. Die Mittel wurden vor allem für diese Altersgruppen eingesetzt (der alte Slogan von dem Orthopäden Disalski „aus Almosenempfängern Steuerzahler machen" und all diese Dinge). Die geriatrische Rehabilitation tritt eigentlich erst in den letzten Jahren deutlicher ins Blickfeld. Ich sage immer, in der Phase der Akutversorgung wird in unserem Land für alte Menschen in

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der Regel alles Notwendige geschehen, oft sogar mehr als das Notwendige. Aber die dann anschliessende Phase, die ist bisher zu stark vernachlässigt worden. Nach Schätzungen der Fachleute gibt es in der BRD - es ist jetzt immer ein bißchen schwierig, weil wir die Ost-West-Statistiken noch nicht so richtig zusammengeführt haben - alljährlich mehr als 150000 Menschen, die einen akuten Schlaganfall erleiden und man schätzt, daß höchstens ein Zehntel von ihnen eine optimale Rehabilitationsbehandlung erfährt, obwohl die Mittel und Methoden dafür alle bekannt sind und nicht einmal allzu kostenaufwendig sind. Und obwohl eine erfolgreiche Rehabilitation z.B. nach einem Schlaganfall oder genausogut nach einer Schenkelhalsfraktur mit Hüftendoprothese, obwohl eine erfolgreiche Reha in diesen Fällen ja nicht nur etwas ganz Entscheidendes für die Lebenssituation des Betroffenen darstellt sondern auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten eindeutige Vorteile hat, weil ja unter Umständen dann Pflegebedürftigkeit für eine längere Zeit hinausgeschoben werden kann. Also Prävention und Rehabilitation.

Ich bin aber der Meinung, auch die Forschung muß uns noch etwas auf die Beine helfen und zwar wenn es nur irgend möglich ist, müssen Fortschritte erzielt werden im Bereich der Demenzforschung, sowohl was Vorbeugung als hier auch die Therapie anbetrifft. Es gibt viele alternde Menschen, die sich nicht vor Sterben und Tod fürchten, die sich aber fürchten vor dem Zustand geistiger Inkompetenz, der ein selbstbestimmtes Leben unmöglich macht. Da tasten wir ja noch sehr im Ungewissen. Und ein zweites großes Feld, denke ich, ist die Osteoporose. Wenn hier Methoden gefunden werden, sie nach Möglichkeit nicht entstehen zu lassen, womit wir natürlich wieder bei der Prävention sind, dann würde ein erheblicher Teil der Frakturen bei älteren Menschen vermieden werden können, die heute ja vielfach zur Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit führen. Also diese drei Dinge: Prävention, Rehabilitation und Intensivierung bestimmter Bereiche der Forschung sind meines Erachtens vorrangige Dinge, die auf der mittleren und oberen Ebene, wo die Finanzströme reguliert werden, gesehen und bedacht werden müssen.

Wenn wir uns nun noch einmal auf die Mikroebene begeben, wo der einzelne Arzt mit dem einzelnen Patienten umgeht, so möchte ich noch einmal meinen Standpunkt vertreten: auch bei einem hohen Bedarf von Ge-

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sundheitsleistungen, wie er für eine alternde Gesellschaft typisch ist, sollten Art und Ausmaß der Leistungen im Einzelfall stets das Ergebnis individueller Entscheidungen sein. Hierbei sind alle relevanten Faktoren wie Prognose, Lebenswillen, soziale Einbettung und die zu erwartende Lebensqualität in die Überlegungen mit einzubeziehen. Dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten kommt dabei eine vom Alter unabhängige hohe Bedeutung zu. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten muß in jedem Alter respektiert werden, soweit er nur im Stande ist, es auszuüben. Und wenn das nicht mehr der Fall ist - was ja leider auf einen Teil der Menschen zutrifft - dann muß man mit seinen engsten Kontaktpersonen beraten und herausfinden, was hier im Einzelfall das geeignete Vorgehen ist.

So, ich habe gerade gesehen, daß ich meine Zeit schon etwas - aber auch nur geringfügig - überschritten habe. Ich bin jedenfalls fertig und bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

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Braun

Sie haben uns ganz sicher noch nicht überstrapaziert. Jetzt, Vorschlag zur Güte, wenn wir zehn Minuten diszipliniert eine Lüftungs- und Zigarettenpause machen, dann haben wir noch wieder eine dreiviertel Stunde Zeit zur Diskussion.

Ja, meine Damen und Herren, da sind wir alle wieder relativ vollzählig da. Für die nächste Runde, für die Diskussion zu dem ersten Beitrag haben wir dann hier jetzt zwei Möglichkeiten. Es gibt also hier ein bewegliches Mikrofon, mit dem man loslaufen kann und der Kollege Kraft hinten hat auch noch eines. Also wir hoffen, daß wir uns ohne große Schrei- und schwierige Höranstrengungen alle miteinander verständlich machen können. Ja, wer meldet sich zu Wort, wer ist der Erste? Ja, Frau Dursch.

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Rosl Dursch

Ich habe eine laute Stimme, danke schön. Ich hätte gern etwas gewußt über das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, über das Testament, das er macht, im Falle, daß er schon bewußtlos ist, wann die Apparate nach Wunsch abzusetzen sind und das Leben nicht künstlich mit einem großen Apparateaufwand hinausgezögert wird.

Mattheis

Ich denke, daß das eine Frage ist, die sehr viele von uns bewegt und darum ist es vielleicht gut, wenn wir uns gleich mal darauf konzentrieren. Zunächst einmal „Patiententestament" ist im Grunde, obwohl wir alle das Wort im Munde führen, ein falscher Ausdruck. Es ist eine Vorausverfügung des Patienten. Und diese Vorausverfügung ist in Deutschland lange Zeit in ihrem Wert nicht besonders hoch angesetzt worden, und zwar immer mit der Begründung, der Mensch kann ja in der Zwischenzeit seine Meinung wesentlich geändert haben, und fast jeder Arzt kann auch Beispiele dafür anführen, daß jemand, der zunächst gesagt hat, keine lebensverlängernden Maßnahmen, wenn es denn zum Sterben geht, doch sagt, nein, machen Sie alles, was möglich ist. Also diese Fälle gibt es. Aber inzwischen, weil das Thema ja nicht zur Ruhe gekommen ist, dankenswerterweise, hat es doch eine Reihe von Rechtsprechung gegeben, eine größere Zahl, weil, wenn der Arzt tatsächlich aufgrund einer solchen Verfügung Maßnahmen einstellt oder auch gar nicht erst beginnt, dann kann es sein, daß die Angehörigen kommen, sich dagegen stellen und daß der Arzt nachher wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt wird. Und auf diesem Wege ist es zu einer ganzen Reihe von Entscheidungen gekommen - ich habe leider die Daten nicht, ich meine aber es wären 1992 gewesen - wo jetzt doch gesagt worden ist, die Vorausverfügung hat eine starke bindende Kraft für den Arzt; das ist das Eine; und das Zweite, er macht sich nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, wenn er aufgrund solcher Vorausverfügung Maßnahmen einstellt. Was ich gerne in diesem Zusammenhang darstelle, ist ein Verfahren, das in den USA schon entwickelt ist, daß der Patient einen, ja man sagt meistens, Lebensanwalt bestimmen kann, d.h. der Patient kann in USA einen Menschen benennen, der für den Fall seiner eigenen Ent-

[Seite der Druckausg.: 25]

scheidungsunfähigkeit für ihn entscheidet und zwar rechtsverbindlich entscheidet. Wenn dieser Mensch sagt, hier wird die Intensivmedizin beendet, dann hat das genauso eine bindende Kraft, als wenn das ein Patient für sich selber sagt. Das ist nach unserem Recht noch nicht möglich, aber ich empfehle, wann immer dieses Thema diskutiert wird, man soll nicht sich darauf beschränken, den eigenen Willen schriftlich niederzulegen, sonder man soll eben gleichzeitig sagen, der und der Mensch ist derjenige, der am ehesten über meinen mutmaßlichen Willen Auskunft geben kann. Der kann dann nämlich, wenn eine solche Verfügung, als Beispiel nur, im Jahr 1990 getroffen worden ist und der Fall tritt 1996 ein, dann kann der sagen, ja das ist also meine feste, sehr gute Freundin und ich habe bis zuletzt mit ihr darüber gesprochen und weiß, daß sie ihre Ansicht zu diesem Punkt nicht geändert hat. Das kann für den Arzt eine sehr große Hilfe sein und es ist ja durchaus nicht immer gesagt, daß nur die nächsten Angehörigen - oder vielleicht sind es gar nicht die nächsten, sondern Angehörige, die man irgendwo ausfindig gemacht hat - daß die am allerbesten über den mutmaßlichen Willen des Betroffenen Bescheid wissen, das sind ja sehr häufig nichtverwandte Menschen. Also das ist die Situation, wie wir sie im Augenblick haben.

N.N.

Wäre das nicht so auch über das Betreuungsrecht durchzuführen, so beinahe ?

Braun

Nein.

N.N.

Das geht nicht ?

[Seite der Druckausg.: 26]

Mattheis

Insofern nicht ganz, als ja in den Fällen, die ich im Auge habe kein Betreuer bestellt ist.

N.N.

Ja, aber, wenn ich ein Betreungsfall wäre, hätte ich gerne, daß diese Person darüber entscheidet, ob....

Mattheis

Ja selbstverständlich, wenn aus anderen Gründen eine Betreuung eingerichtet ist; aber nur zu diesem Zweck eine Betreuung einrichten, geht nicht. Wenn ein Betreuer bestellt wird, dann darf mit Sicherheit der Betreute sagen und dies ist gleichzeitig die Person meines Vertrauens, die in der und der Situation....Nur, ich weiß nicht, ob wir uns nicht hier ein bißchen im theoretischen Feld bewegen, denn die Mehrzahl der Betreuungsfälle betrifft ja doch Menschen, die schon zum Zeitpunkt der Errichtung nicht mehr so klar im Voraus denken; aber möglich natürlich.

N.N.

Ich kann ja jetzt schon einen Betreuer für mich bestimmen, wenn ich das wollte, wenn ich sozusagen damit rechnete.

Mattheis

Ach so, Sie meinen jetzt die Situation für den Fall, daß ich betreuungsbedürftig werde, teile ich mit, das soll der und der machen. Richtig und den können Sie selbstverständlich auch als Ansprechpartner für diese Frage benennen. Das ist klar.

[Seite der Druckausg.: 27]

Braun

Also ich möchte für die Baden-Württemberger, die hier im Raum sind, nur darauf hinweisen, der Landtag wird sich noch einmal damit beschäftigen. Die Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD-Fraktion hat im August eine kleine Anfrage eingebracht und einen Antrag damit verbunden und wollte etwas erfahren über das Lebenstestament in Dänemark; und in der Antwort weist das Sozialministerium recht ausführlich auf diese Art, wie das in Dänemark mit einem zentralen Register übrigens verbunden wird, das muß man wirklich hinterlegen, damit es wirksam ist, hin und darauf, daß der letzte deutsche Ärztetag, in Hinblick auf diese Entscheidung des Bundesgerichtshof vom 13.09.1994, die Sie vorhin benannt hatten, den Vorstand der Ärztekammer gebeten hat, die Richtlinien von 79, die zuletzt 93 geändert worden waren, noch einmal zu aktualisieren, damit das wieder im ärztlichen Standesrecht zusammenpaßt mit dem, was der Bundesgerichtshof da entschieden hat. Also, wenn das jemanden interessiert, ich kann den Antrag da mal auslegen, da kann man mal reingucken, wie diese Sache da in Dänemark beschrieben wird.

Karl Vollmer

Der Betreuer nach dem Betreuungsrecht kann niemals für einen anderen handeln. Das kann nur der Betroffene subjektiv selber machen; der Betreuer, auch wenn er eine Generalvollmacht nach bürgerlichem Recht hat, kann nicht anstelle handeln.

Mattheis

Ich hatte ja gesagt, daß im Gegensatz zur USA eine solche Person des Vertrauens nicht für den anderen im Rechtssinne entscheiden kann, aber ich kann auch beim Betreuer doch voraussetzen, daß er bis zuletzt im Kontakt mit dem Betreuten ist, so daß er durchaus derjenige sein könnte, der etwas über die Aktualität einer noch vom Patienten getroffenen Verfügung sagen kann. Das meinte ich nur, denn die Schwierigkeit für den Arzt, nochmal dargestellt, ist ja immer die Frage, ist das, was der Betreffende 1985 aufgeschrieben hat 1995 immer noch sein Wille und seine Meinung; nur darum ging es mir.

[Seite der Druckausg.: 28]

Vollmer

Viele Kreisseniorenräte in Baden-Württemberg vertreiben bei den älteren Menschen eine sogenannte Patientenverfügung und die sind sehr sorgfältig abgewogen. Der Landkreis Böblingen hatte begonnen, der Landkreis Tübingen hat die Sache weitergeführt und zur Zeit sind mindestens sechs oder sieben Kreisseniorenräte dabei, diese Patientenverfügung unter die Leute zu bringen und der Andrang, eine solche Patientenverfügung zu bekommen, ist sehr sehr stark. Es hat sich herausgestellt, daß da irgendwie ein Dissens entstanden ist zwischen den Ärzten und den Verfügungsverfassern. Weil Ärzte, egal aus welchen Gründen, immer in dieser Entscheidung das letzte Wort haben wollen. Und da wäre es für mich mal interessant, ob die bisherigen richterlichen Entscheidungen genau zu diesem Punkt etwas ausgesagt haben oder aussagen.

Braun

Also der Dissens liegt natürlich auch in der Formulierung dieser Patientenverfügung, dieser eine Satz, den die Frau Hämmerle erfunden hat, abweichend von anderen Vorlagen, der ist eigentlich der Punkt, der Schwierigkeiten macht. Aber ich will nochmal darauf hinweisen, was mir an diesen Vertrieb von plastikeingeschweißten Kärtchen von den Kreisseniorenräten etwas Sorgen macht, ist, es gibt überhaupt kein Register bei uns. Die Leute meinen, wenn sie das in der Tasche haben oder irgendwo hinlegen, geschehe da für alle Zeiten gegenüber jedermann eine rechtswirksame Willenserklärung. Also ich find schon, man sollte sich das mal überlegen, daß man das wie in Dänemark hinterlegen muß bei irgendeinem Register. Man kann sich ja nicht darauf verlassen, daß alle gerade in die Tasche reinlangen, wo das Ding da drin ist.

Mattheis

Wobei das natürlich mit den Registern in kleineren Ländern, siehe Dänemark, leichter zu machen ist, als bei uns. Also ich bin Ihrer Meinung, es ist absolut keine Garantie gegeben, daß dann, wenn das Ereignis eintritt, dieses Kärtchen immer gefunden wird. Aber gut, das ist vielleicht eine Nebenfrage.

[Seite der Druckausg.: 29]

Hilde Schmidt-Nebgen

Sie sprechen von den Ärzten, die darüber entscheiden sollten, oder wo das Register hinterlegt werden könnte oder eingesehen werden könnte. Wie sieht das aus bei Pflegeheimen ? Ich möchte an einem konkreten Fall die Frage untermauern. Wir haben im Bekanntenkreis eine Kriegerwitwe; im vollen Leben eigentlich hat sie einen Schlaganfall bekommen und liegt seit viereinhalb Jahren im Koma nur noch an der Magensonde in einem Pflegeheim, und dann hat man der armen Frau auch noch ein Bein abgenommen. Sie hat zwei Söhne, die das selbst finanzieren. Die beiden Söhne, wenn sie den Willen ihrer Mutter vollziehen, wie sie sie gekannt haben, würden sagen, stellt das alles ab, unsere Mutter will das nicht mehr. Nur, diese ethische Sperre, wenn wir das jetzt sagen, sieht das aus oder müßten wir das so empfinden, als ob wir die DM 4000,00 im Monat sparen wollten; also liegt diese arme Frau nach wie vor und niemand ist in der Lage zu sagen: Ende.

Mattheis

Solche Situationen sind extrem schwierig. Es muß nicht immer so kraß und so eindeutig sein, wie Sie es schildern. Sie glauben gar nicht, wie oft ich von Freunden und Bekannten gebeten worden bin, ich solle doch mit dem behandelnden Arzt sprechen und vermitteln, daß die Familie nicht erwartet, daß bis zum Extrem alles getan wird. Sie möchten es aber nicht tun, um nicht in den Ruf zu kommen, daß sie den Vater oder die Mutter nicht im behinderten Zustand oder ähnliches....

Auch das Gewissen spielt eine Rolle; aber ich meine, wenn ich beauftragt werde, in diesem Sinne zu sprechen, dann hat sich ja die Familie im Grunde entschieden. Situationen wie Sie sie schildern, sind auch in letzter Zeit zur richterlichen Entscheidung gekommen. Ich entsinne mich aber leider nur ungenau an eine Situation, wo bei einer Frau in ähnlicher Lage im Einvernehmen zwischen Sohn und Arzt die Maßnahmen eingestellt worden sind. Und die Frau natürlich gestorben ist. Und soweit ich mich richtig entsinne, ist in erster Instanz gegen Arzt und Sohn entschieden worden, aber dann in der Berufungsinstanz sind sie freigesprochen worden. Wir können im Augenblick, denke ich, nichts anderes machen,

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als durch Rechtssprechung diese Dinge nach und nach zu einer einheitlichen Praxis zu bringen.

Aber es ist ganz furchtbar schwer, also z.B. wurde ich vor ein paar Wochen in eine unseren großen psychiatrischen Kliniken gebeten, da beschäftigte man sich mit der Frage, wann soll oder wie lange soll künstliche Ernährung durchgesetzt werden bei einem Menschen im Zustand des sogenannten Wachkomas, also der schluckt nicht mehr. Da ging ich noch ganz tapfer hin und dachte, na ja, also wenn das eine Nasensonde ist, dann kann man immerhin auch den Standpunkt vertreten, das ist eine starke Belastung für den Patienten, das soll man nicht machen. Jetzt kam ich aber hin und es ging um Magensonde, also eine Sonde, die direkt in den Magen geführt wird und die natürlich für den Patienten gar keine Belastung ist, die sogar für das Pflegepersonal eine Vereinfachung darstellt und da liegen diese Patienten nun jahrelang in diesem Zustand. Dann habe ich beim Rausgehen zu der jungen Ärztin gesagt, was würden Sie denn machen, wenn solch eine Patientin jetzt eine Lungenentzündung kriegt ? Würden Sie da massiv mit Antibiotika rangehen ? Na, die war sehr erschrocken über die Frage, hat ein bißchen nachgedacht und dann gesagt, na ja, da würde ich mit den Angehörigen sprechen und wenn ich mich mit denen einigen würde, dann würden wir eben keine antibiotische Behandlung machen. Da habe ich gesagt, na Gott sei Dank.

Braun

Gut, ich wäre jetzt aber daran interessiert, daß wir sozusagen diesen Punkt, den Rosel Dursch ausgelöst hat, damit abschließen und zu anderen Fragen zu dem, was heute morgen zur Debatte stand, kommen; ja bitte, dort in der Mitte.

N.N.

Ich habe vor wenigen Tagen einem hiesigen Regionalblatt, dem „Schwarzwälder Boten", einen Bericht entnommen über den Vortrag eines Jobst Paul, den ich namentlich nicht kenne. „Bioethik kontra Menschenwürde". Darin wird berichtet, daß es offenbar schon eine weltweite

[Seite der Druckausg.: 31]

Diskussion gibt zu diesem Thema, die auch dazu geführt hat, daß den europäischen Regierungen ein entsprechender Entwurf vorgelegt worden ist und man auch erwartet, daß dies dem Bundestag in Kürze zur Ratifizierung vorgelegt werden wird. Sehr wesentlich wird hier Kritik geübt von dem Autor, daß über die Nazivergangenheit hinaus weiter solche Dinge in den Köpfen stecken, die Forschung über die Menschenwürde gestellt werde. Man erwähnt auch das Stichwort „menschliches Ersatzteillager" in dem Zusammenhang, wenn alte Menschen getötet werden - steht hier ausdrücklich als Zitat - damit ihre Organe an jüngere, kritisch kranke Personen umverteilt werden können. Das ist mir bisher noch nicht vor die Augen gekommen, ich sehe das zum ersten Mal. Nähere Einzelheiten über die Entwürfe sind mir nicht bekannt, aber dieser Bericht erschien am 11. Oktober hier im Schwarzwälder Boten. Wenn Sie dazu noch was wüßten.

Mattheis

Ich weiß etwas davon. An sich bewegt das Thema die Zuständigen und auch die Medien schon über längere Zeit und ein erster Entwurf dieser sogenannten „Europäischen Konvention über Bio- oder Medizinethik" ist zunächst einmal zurückgewiesen worden. Die Geschichte mit dem Ersatzteillager und den alten Menschen, die halte ich also nun schlicht für eine Zeitungsente und zwar aus medizinischen Gründen: in den allermeisten Fällen eignen sich die Organe alter Menschen gar nicht mehr für eine Transplantation, wenn man also von Extremen wie Gehörknöchelchen und Hornhaut absieht. Aber das ist auch nicht der Kern der Einwände. Der Kern der Einwände ging nach allem, was ich weiß, im wesentlichen um Forschungsethik, weil in dieser Konvention immerhin zugelassen wurde, daß nicht selbst entscheidungsfähige Menschen - also da natürlich auch gerade alte Menschen - in Forschungsvorhaben einbezogen werden auch ohne ihre Zustimmung. Und das hat in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern zu heftigen Einwänden geführt, so daß der ursprüngliche Entwurf zurückgegangen ist. Wie jetzt diese Sache im neuen Entwurf gefaßt ist, kann ich leider nicht sagen. Wissen Sie es ?

[Seite der Druckausg.: 32]

Braun

Es gibt keinen.

Mattheis

Na ja, der kommt aber.

Braun

Es war im Europarat und der ist ja sehr viel langsamer, der ist sehr viel schwerfälliger in seinem Entscheidungsprozeßt, d.h. bis sich die Ministerkonferenz wird wieder auf neue Formulierungen einigen können, werden mindestens zwei Sitzungsperioden vergehen. Also es war eine Geschichte in Straßburg und nicht in Brüssel und es waren auch gerade Parlamentarier hier aus dem Land, also das sind ja entsandte Bundestagsmitglieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, im Unterschied zum europäischen Parlament, also delegierte Abgeordnete aus dem deutschen Bundestag, die entschieden dazu beigetragen haben, daß diese Geschichte zurückgewiesen wurde. Leider geht diese journalistische Verwirrung so weit, daß dieser Vorgang dann auch noch zusammengeworfen wird mit Fragen der Gentechnologie, die etwas zeitgleich in Brüssel entschieden wurden und dann werden also wirklich große Räder gedreht, an denen in Wirklichkeit nicht sehr viel dran ist. Also die Sache ist zunächst einmal vom Tisch.

Mattheis

Im übrigen ist es so, selbst wenn ein solcher neuer Entwurf zur Ratifizierung kommt, ist damit nicht gesagt, daß alle Mitgliedsstaaten ihn in nationales Recht umsetzen müssen. Also das ist dann wieder noch ein weiterer Schritt.

Braun

Weitere Nachfragen, Wortmeldungen ? Ja, dort. Frau Jani.

[Seite der Druckausg.: 33]

Dr. Hannelore Jani

Ich würde gerne auf Dinge kurz zurückkommen, die Sie anfangs gesagt haben, wobei das weniger Fragen sind, die ich habe, als Feststellungen. Was Frankreich anbetrifft, ist zumindest in den siebziger Jahren der Zuwachs in der Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt auf das Fallen der Kindersterblichkeit zurückzuführen. Wenn man z.B. in den siebziger Jahren die Zahlen ansieht der Lebenserwartung im siebzigsten Lebensjahr, sind damals kaum Fortschritte festzustellen. So daß also die steigende Lebenserwartung aufgrund medizinischer Forschung zum Profit der älteren Menschen eigentlich relativ neu ist. Als zweiten Punkt hätte ich gerne angeführt, daß meines Erachtens sehr viel Skepsis geboten sein muß, wenn zu der heute sehr gut voraussehbaren demographischen Entwicklung parallel gesetzt wird ein wachsender Anteil der älteren Menschen, die nun in Zukunft abhängig sein werden. Das ist meines Erachtens reine Theorie, die auf der Hypothese aufbaut, daß die Medizin keine Fortschritte mehr macht.

Und insbesondere keine Fortschritte macht auf dem Gebiet der Demenz, was Sie ja kurz angesprochen haben. Da aber - das ist mein vierter Punkt - so gut wie alle pharmakologischen Laboratorien seit Jahren auf diesem Gebiet arbeiten und forschen - in der Schweiz, auch in Amerika wird sehr viel getan, in Frankreich macht die Grundlagenforschung über die Alzheimer Krankheit Fortschritte, woran auch Deutschland inzwischen sehr viel arbeitet. Ich finde, wenn man davon ausgeht, daß 20 oder 30 Prozent - in Frankreich sagen wir 20 Prozent, in Deutschland heißt es 30 Prozent - der 80- oder 85-jährigen und älteren von diesen Krankheiten befallen sind und daß das noch in 20 Jahren noch so sein wird, dann glaube ich, liegt man sehr falsch. Vielleicht werden 20 bis 30 Prozent der heute aufgrund der Demenzerkrankung Pflegebedürftigen wegfallen und diese Menschen sind - das wissen wir ja - häufig physisch auch im hohen Alter relativ fit. Sie haben also keine schweren Krankheiten, sondern das Problem liegt wirklich auf dem Gebiet der Demenz.

Noch ein anderer Punkt, der geht aber eigentlich in dieselbe Richtung. Dieses Parallellaufen der Übersterblichkeit der Männer und der Überinvalidität der Frauen. Da kann sich ja auch in den nächsten 10, 20 Jah-

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ren etwas ändern aufgrund der stark gefallenen Geburtenquoten pro Frau. Die heute sehr alten Frauen, die haben ja noch teilweise 10, 15 Geburten hinter sich gebracht; die Anfang des Jahrhunderts geborenen haben in großen Landstrichen in Europa sehr viele Kinder geboren, die aber nicht alle überlebt haben, während man heute mit anderthalb oder 1,3 Kindern pro Frau rechnet. Da kann es ja sein, daß sich die Fraueninvalidität etwas ändern wird. Also für mich ist es jedenfalls eine Hoffnung, endlich eine positive Auswirkung der fallenden Geburtenziffern zu sehen.

Dann letztens: Sie brachten das Beispiel, daß, wenn man mehr Personal einsetzen würde, dieses für die geriartische Betreuung statt für irgendetwas anderes tun sollte. Da möchte ich global sagen, daß es ja doch eigentlich leider heute immer weniger um die Lebensqualität in den Heimen geht, sondern es vorher erst einmal überhaupt um die Würde des älteren Menschen gehen muß - wir sind ja leider oft noch nicht bei der Lebensqualität, sondern erstmal nur noch bei der Würde.

Mattheis

Also für mich fallen Lebensqualität und Würde des Menschen nicht so stark auseinander. Das wäre die Bemerkung dazu und das andere, was sie sagten, das unterstreiche ich voll und das kommt ja auch ganz gut zusammen mit meiner Forderung, Prävention verbessern. Was die Fortschritte im Bereich der Demenzforschung anbetrifft: Wir wünschen sie uns alle glühend; wie schnell wir dazu kommen, wissen wir nicht. Und ich will auch noch als Schwierigkeit ansprechen, es ist auch gar nicht so leicht hier voranzukommen, weil ja zur Teilnahme an einem Forschungsvorhaben die Zustimmung des Patienten nach erfolgter Aufklärung, so daß er versteht, um was es da geht, Voraussetzung dafür ist. Und wir beschäftigen uns in einer Bundesarbeitsgemeinschaft der Ethikkommission schon seit einigen Jahren mit dem Thema, wie geht man eigentlich vor bei der Forschung mit nicht mehr einwillungsfähigen Patienten. Und das war gerade ein Punkt in dieser europäischen Konvention, daß gesagt wurde, also hier sollte dann auf die Einwilligung des Betreffenden verzichtet werden. Also, ich unterstreiche alles, was Sie gesagt haben, und

[Seite der Druckausg.: 35]

ich denke, wir sind uns beide der Schwierigkeiten, die da doch zum Teil bestehen, bewußt.

Schmidt-Nebgen

Frau Professor Mattheis, wurde in der Ethikkommission einmal untersucht, wie weit die hohen Kosten, den ein Pflegeplatz ja den Heimbetreibern einträgt, Auswirkungen hat auf die lebensverlängernden Maßnahmen, die durchaus nicht immer ethisch zu begründen sein müssen.

Mattheis

Da muß ich jetzt nein sagen.

Gudrun Hirche

Ich hätte gerne nachgefragt, ob es schon Ergebnisse gibt zur unterschiedlichen Lebenserwartung von Frauen und Männern. Ich bin bisher in meinen Überlegungen davon ausgegangen, daß die Aktivität des Menschen eine sehr wesentliche Rolle für seine Lebenserwartung spielt. Und normalerweise ist ja eine Frau, wenn sie aus dem Berufsleben ausscheidet, durchaus durch Kinder und hauswirtschaftliche Tätigkeit immer weiter aktiv. Manche Männer, soweit ich weiß, fallen dann in eine völlig ungewünschte Phase und wissen mit sich nicht immer was anzufangen. Sicher spielt die gesamte Lebenserfahrung da eine ganz große Rolle, insofern ist es auch unterschiedlich. Gibt es dazu noch nähere Erkenntnisse ?

Mattheis

Also, daß es dazu spezielle Untersuchungen gibt, da bin ganz sicher, aber ich habe sie nicht im Kopf und nicht im Ärmel. Daß die Lebenserwartung der Frauen höher ist als die der Männer, das wissen wir seit vielen, vielen Jahren. Also sicher kann man unterschiedliches Verhalten - ich sage jetzt mal jenseits des sechzigsten, fünfundsechzigsten Lebensjahres der beiden Geschlechter - da durchaus Gruppen vergleichen, nicht als den alleinigen Faktor ansehen. Wennn Sie z. B. bedenken, daß wir in

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der Säuglingssterblichkeit eine Übersterblichkeit der männlichen Säuglinge haben - wir haben eigentlich immer als Frauen ganz stolz die Fahne durchs Land getragen, daß wir das biologisch stärkere Geschlecht sind, was immer das bedeuten soll. Aber ich meine, unvorstellbar wäre es darum nicht, weil ja die Natur allein durch die Fortpflanzungstätigkeit sicherlich große Belastungen für die Frau vorgesehen hat; nur das ist jetzt alles sehr vage. Also, wenn Sie speziell interessiert sind, wir sind ja beide aus Berlin, dann sprechen Sie mich doch einmal an, dann suche ich auch; es gibt sicherlich spezielle Forschungsvorhaben.

Braun

Hatte ich jetzt da in der Mitte jemanden übersehen? Ja, Frau Battran ?

Hilde Battran

Eigentlich wollte ich noch einmal zur Patientenverfügung etwa sagen.

Braun

Ungern.

Battran

Es war ein Gespräch mit der Universität Ulm. Frau Dr. Roller hat bei uns referiert und hat mit großem Bedenken die Patientenverfügungen, die jetzt auf dem Tisch sind, gezeigt; sie bat uns, davon Abstand zu nehmen. Dagegen sollten die Patienten, die vielleicht noch bei Sinnen sind, mit dem Arzt und dem Angehörigen ein gemeinsames Gespräch führen mit einer Verfügung, die dann niedergelegt ist. Aber die große Patientenverfügung, wie sie jetzt im Umlauf ist, hat eigentlich für den Arzt keine rechtliche Auswirkung.

Mattheis

Vielleicht nur zwei, drei Sätze. Ich nehme an, das bezieht sich darauf, daß man die Mehrzahl dieser Verfügungen für zu allgemein abgefaßt

[Seite der Druckausg.: 37]

hält. Sie müßten stärker auf die spezielle Situation abgestellt sein, nur das soll mir einer mal vormachen, wie ich mit 60, 65 Jahren mit prophetischem Blick in die Zukunft da versuche, alle Fälle zu regeln; also, ich habe meine Zweifel.

Braun

Jetzt im hinteren Teil, ja, Herr Dürrschmidt.

Dürrschmidt

Ja ich wollte beim Problem zur Kostendämpfung nochmal ansprechen, was Sie gesagt haben, weil ich ebenso wie Sie der Auffassung bin, daß maximale Lebensqualität bestimmt wird durch das eigene selbstbestimmte Leben, was ich umsetzen will, was ich selber verwirklichen will. Und an diesem Problem interessiert mich nun schon sehr die Kostenreduzierung. Sie haben Callahan angeführt.. Was müßte ich denn nun eigentlich tun oder unterlassen. Z.B. ein Punkt, wo ich ganz einfach eine Nachfrage habe: Diese Doppel-Untersuchungen, die ja immer mehr zunehmen, sind aus meiner Sicht nicht nur darauf begründet, daß sich da rechtliche Konsequenzen abzeichnen, sondern - in Ostdeutschland sage ich jetzt mal - daß die Ärzte jetzt verstärkt sagen, Ethik spielt fast keine Rolle mehr, es spielt nur noch eine Rolle, wieviel Geld ich verdiene. Und dieser Punkt würde mich ganz entscheidend interessieren auch in der Richtung, was muß denn in Zukunft sein und wie darf dann die Kostenspirale sich entwickeln und wie muß sie umgesetzt werden ? Ich glaube, all das, was gegenwärtig an Vorschlägen auf den Tisch kommt, zeigt doch nicht den Weg. Und Sie haben gesagt, ein Hauptproblem ist Medizintechnik, ein weiteres Hauptproblem aus meiner Sicht ist die Pharmaindustrie, die in diesem Maße genauso eine ganz entscheidende Rolle spielt und ich hätte gerne noch aus Ihrer Sicht, auch aus Ihrer Kommission heraus, ein paar Vorschläge, wie kommen wir denn dazu, daß wirklich dieses selbstbestimmte Leben den entscheidenden Aspekt in der Würde des Menschen spielt ?

[Seite der Druckausg.: 38]

Braun

Ich darf Ihnen eine Fußnote machen: ich habe neulich beim Autofahren aufgeschnappt, daß die in Belgien die sogenannten Selbstzuweisungen gestoppt wurden; nämlich, daß die Ärzte sich bestimmte Verrichtungen in ihrer Praxis selbst zuweisen. Man durfte also nur noch an einen Fremden solche Überweisung machen. Das hat dazu geführt, daß im Röntgenbereich die Quote auf 15 % des vorherigen Standes gefallen ist.

Mattheis

Also, Problem Doppeluntersuchungen. Da wird ja immer geltend gemacht, der Arzt müsse, wenn der Patient ins Krankenhaus kommt, neu untersuchen, er könne sich nicht ohne weiteres auf die von in der Praxis erhobenen Befunde verlassen. Also Sie haben es ja selbst schon gesagt, Apparate, die angeschafft werden, müssen klappern, um sich zu amortisieren. Und da ja nun Indikationen für bestimmte Untersuchungen nicht immer glasklar ja/nein sind, sondern, der Patient hat gehört, der Arzt hat einen Computertomographen, na ja nun also dann muß doch bei den Kopfschmerzen mal geguckt werden, was da in dem Kopf los ist. Ich habe, solange ich noch im aktiven Dienst war, na ich würde mal sagen 20 Jahre auf jeden Fall, das schöne Thema vorstationäre Diagnostik, nachstationäre Betreuung mit erlebt, diskutiert, gewälzt, wir haben alle gesagt, es ist notwendig, aber in dem Moment, wo es irgendwo realisiert werden sollte, gingen die Schotten runter. Ich habe verstanden, daß Sie aus einem der Neuen Länder kommen. Für Menschen in diesen Ländern ist es natürlich besonders unbegreiflich. Die hatten ja eine viel, viel stärkere Verknüpfung einerseits ambulant-stationär und auch eine viel, viel stärkere Verknüpfung übrigens Prävention-Therapie. Und das ist, ersparen Sie mir die Nennung der Gründe, in großer Eile auseinandergehackt worden und nun gehen wir erneut in die Debatte, wie wir es denn besser zusammenführen könnten. Das ambulante Operieren mag vielleicht hier ein Schritt in die Richtung sein, aber wenn Sie ansonsten mir zutrauen, ich hätte also hier irgendwelche Rezepte in der Tasche, dann überschätzen Sie mich bei weitem. Im übrigen: wir kriegen ja noch Gesundheitsökonomen und die können wir damit auch noch ein bißchen plagen.

[Seite der Druckausg.: 39]

Das Thema Lebensqualität habe ich im Zusammenhang nicht ganz verstanden. Sie haben gesagt, wie bringt man denn eigentlich gute Lebensqualität zustande, ist das richtig ?

Schmidt

Ja unter dem Aspekt, welche Rolle spielt denn eigentlich die Lebensqualität, wenn im Prinzip bloß der wirtschaftliche Faktor eine Rolle spielt ?

Mattheis

Also, ich denke für die Lebensqualität ist doch sehr, sehr stark der Einzelne verantwortlich. Darum habe ich ja versucht zu unterstreichen eine frühzeitige Einführung positiver Gesundheitsgewohnheiten ist ein recht zuverlässiges Mittel, um auch im späteren Alter eine gute Lebensqualität zu haben. Ich meine, gegen gute Lebensqualität wirken ganz sicherlich nach meiner Auffassung Untersuchungen, die nicht wirklich notwendig sind. Also, da gibt es viele einzelne Beispiele, vielleicht können wir das noch einmal in einem Zwiegespräch beim Mittagessen vertiefen.

Braun

Ich habe jetzt noch eine Reihe von Wortmeldungen. Ich würde jetzt einfach sagen, wir fragen die jetzt mal hintereinander ab und bitten die Betroffenen, sich relativ kurz zu halten.

Gotlind Braun

Ich möchte eine Frage ansprechen und zwar in der Prävention. Wir haben es jetzt gerade von den therapeutischen bzw. diagnostischen Eingriffen also den Untersuchungen gehabt, die ja in vielen Fällen mit großem Aufwand an Maschinen usw. gemacht werden. Zu dem gehören ja aber im Rahmen der Prävention auch etliche Dinge, die so Leute wie ich, die denken, sie seien da ganz vernünftig, auch machen lassen. Also regelmäßig zu den entsprechenden Vorsorgeuntersuchungen gehen, die ja dann unter Umständen auch die Inanspruchnahme von entsprechenden Maschinen nach sich ziehen, die bei bestimmten Fachärzten vorhanden

[Seite der Druckausg.: 40]

sind. Wie ist das in dem Zusammenhang zu sehen ? Das trägt ja natürlich auch zu den Kosten bei und ob die wirklich dann entsprechend auch Früchte tragen im Sinne der Prävention oder ob man sie halt macht und damit auch Kosten verursacht. Ich kann eigentlich nicht so richtig entscheiden, was ist da vernünftig und was vielleicht auch schon zuviel sein kann.

N.N.

Ganz kurz, medizinische, ärztliche Behandlung innerhalb der letzten dreißig Jahre. Wenn ich daran denke, wenn ich vor 30 Jahren, also 1965 zum Arzt gegangen bin und der sagte, na ja, da müssen wir eine Blutsenkung machen, dann hat der mich in ein Institut geschickt oder irgendwelche andere, sagen wir mal eine Bestrahlung oder, dann ging ich in ein anderes Institut. Heute ist das ja alles viel bequemer. Aber, wenn ich daran denke, wieviel Blutsenkungen heute gemacht werden, wieviel Blutsenkungen früher gemacht wurden, wieviel Bestrahlung usw. heute scheinbar nur gemacht werden, weil der Arzt die entprechenden Apparate hat, dann frage ich mich, wo kommen wir mit der Kostensenkung hin.

Ursula Kruse

Ich möchte noch einmal auf das Wort Lebensqualität zurückkommen und es in Gegensatz setzen zu dem, was Sie ganz am Anfang noch mit „Tendenz zu ewiger Jungend" bezeichneten. Nämlich den Gesundheitsbegriff, der immer noch nicht so erklärt wird, wie er von der Weltgesundheitsorganisation definiert wird mit Wohlbefinden usw., sondern immer noch mit Fitness und Jogging und was weiß ich, was oft sehr gut ist, aber was immer noch die Jugendlichkeitsvorstellung hat. Wenn ich denke, wir haben zuhause bei uns in Weinheim ein Modellvorhaben von der Firma Boehringer Ingelheim, die gerade einen Gesundheitsmarkt hatten, der hieß „20 Jahre 40 bleiben"; wo man sich eben fragt, wer 20 Jahre 40 bleiben will.

[Seite der Druckausg.: 41]

Mattheis

Zu ihrer Frage, Frau Braun, das ist auch wieder ein umstrittenes Feld. Vorsorgeuntersuchungen sollen natürlich in erster Linie einen Vorteil für den Einzelnen bringen und ich nehme an, daß hinter Ihrer Frage im wesentlichen die Mammographien standen. Denn das ist ja eigentlich in Vorsorgeuntersuchungsbereich die technische Untersuchung, die da hauptsächlich ausgelöst wird. Es gibt leider keine Untersuchungen keine übereinstimmenden Aussagen, ob die Mammographien tatsächlich wesentlich beitragen zu früherer Behandlung. Es gibt sogar Länder, z.B. England, die sagen, na ihr mit euren Vorsorgeuntersuchungen, da alle Jahre und dann ruht ihr euch auch noch fröhlich bei dem Gedanken aus, daß von den Frauen da 35 % kommen und was ist denn eigentlich mit den 65 % ? Und wir machen das nicht jährlich, das halten wir für eine Geldverschwendung. Wir trommeln alle vier oder fünf Jahre mit einem Campaign, daß wir dann nun nicht 100 aber doch wenigsten 75 bis 80 % der Frauen kriegen und dann machen sie aber auch tapfer ihre Mammographien. Also ich denke, das kann man sich heute bei einem klinischen Verdachtsbefund nicht mehr gut leisten zu sagen, ne, ne keine Mammographie. Aber, wenn Sie die Statistiken angucken - ich meine wir haben ja nun diese Art der Vorsorgeuntersuchungen seit 1972 in der BRD - das ist nicht eindeutig, daß die Sterblichkeit an Brustkrebs zurückgegangen ist. Mehr kann ich leider nicht sagen. Daß heute sehr viel mehr Blut gezapft wird noch als früher, also ich habe manchmal in depressiven Momenten gesagt, es ist nur gut, daß die Blutmenge eines Menschen begrenzt ist, also es kann nicht ins Unendliche gehen; aber da wird also sehr viel gemacht.

Ja und Lebensqualität gleich Jugendlichkeit. Da ist also meine Auffassung nicht, sondern ich habe ja versucht zu sagen, gute Lebensqualität ist für mich selbstbestimmtes Leben soweit möglich unabhängig von Familie.

Kruse

Nur, daß dies noch nicht propagiert wird.

[Seite der Druckausg.: 42]

Mattheis

Ja sicher, aber das ist eben, denke ich, die falsche Richtung; das WHO-Konzept, das darf und kann man ja natürlich nicht wörtlich nehmen. Darüber habe ich mich auch mal mit dem Generalsekretär heftig auseinandergesetzt. Ich habe gesagt; I never promise you rosegarden, also dieses Konzept verspricht ja oder stellt in Aussicht das Paradies auf Erden und damit ist es natürlich ein klein bißchen schwer in die Praxis umzusetzen.

Braun

Ja, vielen Dank, ich bedanke mich bei Ihnen noch einmal für den Vormittag, ich bin auch ganz glücklich, daß Sie uns noch eine Weile in unserer Diskussion heute und morgen begleiten werden, dabei sein werden.

Wir treten jetzt in die Mittagspause ein, bitte pünktlich um 13:30 Uhr wollen wir dann mit Herrn Dr. Schlunk dann weitermachen, einen guten Appetit und wie gesagt drüben im großen Speisesaal.


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