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TEILDOKUMENT:

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Martin Bauch, Oberbürgermeister der Stadt Geislingen
Erfahrungen aus Baden-Württemberg


Liebe Partner aus Europa, sehr verehrte Gäste !

Ich grüße Sie alle von den Bekannten und Freunden aus Geislingen. Ich darf zu Beginn feststellen, daß wir von unseren Partnern in Olot - Spanien, Bialystik - Polen und Stirling - Schottland sehr viel lernen durften und konnten. Die europäische Dimension hat unser Denken und Handeln sehr bereichert. Es war für uns außerordentlich spannend, uns die jeweiligen Strukturen für ein Älterwerden in unseren Städten gegenseitig zu verdeutlichen. Diese Strukturen sind in ihrer politischen Ausprägung, von den Zuständigkeiten der Städte und Gemeinden, der Rentenversicherungssysteme und der Bedeutung von kirchlichen und sonstigen Vereinsstrukturen doch außerordentlich unterschiedlich ausgeformt. Wir haben nicht nur von anderen gelernt, wir haben auch unsere Strukturen selbst neu gelernt, weil wir sie genauer und präziser ansehen mußten, weil sie hinterfragt wurden. Wir haben auch gelernt, daß es außerordentlich schwierig ist, gemeinsame Positionen zu formulieren; wie schwierig Übersetzungsprozesse abzuschließen und gemeinsame Resolutionen zu fassen sind.

Wir haben nicht zuletzt sehr viel Respekt und Achtung vor der Arbeit und Leistung in unseren Partnerstädten bekommen. Dies gilt ganz besonders für unsere polnischen Freunde, die in der wirtschaftlichen und politisch schwierigsten Situation von uns allen sind.

Für uns alle gilt, das Älterwerden in Europa bzw. Älterwerden in Geislingen bedarf letztlich der älteren Menschen bzw. der Menschen im 3. Lebensalter, die selbständig Aufgaben übernehmen wollen und die mit ihrer Kompetenz und ihrem Selbstbewußtsein Lebensqualität gestalten wollen. Die nicht nur für sich, sondern generationsübergreifend für das Gemeinwesen Stadt gestalten wollen.

Uns wurde auch deutlich, daß wir zu vielen Entwicklungen kommunal-

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politische Programme und Pläne formuliert haben, daß wir für das gemeinsame Älterwerden konzeptionell aber Nachholbedarf in unserer Stadt haben. Selbstkritisch müssen wir feststellen, daß wir mit der „Geislinger Plattform" wohl kommunalpolitische Aufmerksamkeit aber nicht nachhaltige Diskussionen erreicht haben.

Unsere Erfahrungen aus dem Modellvorhaben EUROBES und der „Initiative 3. Lebensalter" und letztlich das Projekt „Bürgerschaftliches Engagement und Tagespflege" lassen sich am besten in konkreten Beschreibungen der Arbeitsergebnisse deutlich machen. Ich darf Ihnen in fünf Punkten diese Erfahrungen darstellen und sie in einem 6. Punkt als Thesen zusammenfassen.

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1. Gestaltung des „Bürgertreffs" im neuen Altenzentrum Samariterstift in der MAG

Die Diskussion und Erarbeitung der Geislinger Plattform durch die EUROBES-Gruppe führte nach Gesprächen mit der Samariterstiftung zu einer sehr offenen Struktur des neuen Bürgertreffs - weg von einer traditionellen Altenbegegnungsstätte hin zu einem Bürgertreff. Ein Beirat von Bürgern wurde dieser Einrichtung als fachliches Leitungsgremium an die Seite gestellt. Der Bürgertreff ist am 11. Oktober 1996 eingeweiht worden. Er beheimatet jetzt schon 10 Gruppen, die zu einem großen Teil aus dem früheren Freizeitclub Altentreff kommen; dies war ein klassischer Mitgliederverein, der seine Räume aufgeben mußte, sich nach langen Beratungen auflöste und sein Barvermögen für die neue Arbeit zur Verfügung stellte. Wir haben dabei einen intensiven Prozess der Auseinandersetzung, der Ängste und Erwartungen miteinander erlebt. Der Weg bis zur Eröffnung war vielfältiger und schwieriger als wir dies im ersten Moment dachten.

Diese neue Einrichtung ist in unser neues Altenzentrum integriert, das im Juli eröffnet wurde und dessen Einzug kurzfristig verbunden werden mußte mit der Schließung einer Pflegeabteilung eines anderen Altenheimes. Diese Schließung war nicht beabsichtigt. Durch die rechtlichen und finanziellen Änderungen der neuen Pflegeversicherung war es jedoch unabdingbar, daß über 60 Personen vom alten in das neue Heim umziehen

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mußten. Außerdem mußte das Haus früher bezogen werden, also zu einem Zeitpunkt, wo noch nicht alle Bauarbeiten abgeschlossen waren. Dies machte die Vorbereitungsphase nicht einfacher.

Wir sind also noch nicht in der Lage, heute zu berichten, ob und wie die lange gemeinsam diskutierte Struktur erfolgreich ist. Wir spüren aber deutlich, daß diese offene Struktur dazu führt, daß andere Einrichtungen, daß Vereine und Organisationen ihre Strukturen auch ansehen, da sie hier keine Konkurrenz bekommen wollen zur eigenen Arbeit ob in Vereinen, Kirche oder Begegnungsstätten. Bei der sogenannten Frühlingsakademie im März 1997 werden wir sicher mehr abschätzen können. Konzeptionell haben wir jedoch durch diese Arbeit einen Weg gefunden.

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2. Bürgerbüro von „Bürger in Kontakt"

Auf Initiative der EUROBES-Projektgruppe wurde über unser Amtsblatt zu ehrenamtlicher Mitarbeit im Sinne des Bürgerschaftlichen Engagements aufgerufen: zur Mitarbeit bei „Bürger in Kontakt" in einem Bürgerbüro, das sich u.a. auch als Wissens- und Kontaktbörse versteht. Das

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Bürgerbüro wurde am 5. April 1995 eröffnet. 16 aktive Mitglieder haben beschlossen, daß sie für sich und die Menschen in der Stadt neue Formen des Miteinanders entwickeln und anbieten wollen. Bürger konnten sich als Anbieter oder Nachfrager in diese Wissens- und Kontaktbörse einbringen.

Diese Form von Engagement können wir heute schon bewerten. Ein Bürgerbüro in diesem Sinne eröffnet Chancen über bisherige Strukturen hinaus. Sie ermöglicht Menschen eine neue Rollenfindung. Es stellt eine Form dar, die es Menschen leicht macht, sich mit Kontaktwünschen, Angeboten und Nachfragen zu melden; es gibt wenig Schwellenangst dabei. Haus- und Gartenarbeit, Fahrdienste, Oma-Dienst, Babysitting, Besuchsdienste, Spazierengehen, Sprachen lernen usw. gehören dazu.

Aus diesem Büro entstand ein Gesprächskreis, eine Wandergruppe, das Männerfrühstück und das leider so gut wie nicht angenommene Angebot eines mobilen Bücherdienstes.

Die Stadt hat das Büro, die notwendigen Büro- und Kommunikationseinrichtungen zur Verfügung gestellt. Entscheidend wird für die Zukunft sein, daß sich immer wieder neue Menschen finden, die die Anfangsbesatzung immer dann nahtlos entlasten, wenn einzelne für sich einmal andere Schwerpunkte setzen wollen. Die weiteren Gruppen, die sich aus dem Bürgerbüro gebildet haben, wie der Gesprächskreis, die Wandergruppe und das Männerfrühstück werden auch von der Stammgruppe wesentlich begleitet; diese Aktivitäten waren jeweils begleitet von intensiver Öffentlichkeitsarbeit im städtischen Amtsblatt, der Presse und durch Info-Verteilung auf den Wochenmärkten mittwochs und samstags in unserer Stadt. Die Stammgruppe von „Bürger in Kontakt" hat dabei enorm viel Arbeit geleistet. Neue Strukturen entwickeln sich nicht von selbst, die Anfangsarbeit ist sehr intensiv. Ich bewundere das Engagement unserer Bürger.

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3. Recyclingwerkstatt

In der „Initiative 3. Lebensalter" war als Modellvorhaben immer vorgesehen, daß ein generationsübergreifendes Projekt von älteren Arbeitslo-

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sen und jugendlichen Arbeitslosen angestrebt wird: Im Juni 1996 nahm unsere Recyclingwerkstatt ihre Arbeit auf. Zwischen 4 und 6 arbeitslose Jugendliche sind hier unter Anleitung eines wegen seines Alters schwer vermittelbaren Arbeitslosen damit beschäftigt, beschädigte Fahrräder zu reparieren, die dann sozialen Institutionen zur Verfügung gestellt und zur Deckung der Selbstkosten verkauft werden. Das Arbeitsamt wirkte mit, das Jugendamt unterstützte dies wohlwollend und eine Sozialstiftung der Deutschen Bank gab eine wesentliche Geldspende dazu. Zunächst haben die Jugendlichen einen Schuppen als Werkstatt hergerichtet; ganz überwiegend in Eigenarbeit. Diese Jugendlichen werden für andere Jugendliche aus unseren Partnerstädten - die Stadt Geislingen hat zwei Partnerstädte, eine in Frankreich und eine in Sachsen - auch noch Räume herrichten, welche den Jugendlichen als Unterkünfte dienen können, wenn sie als Gruppen in unsere Stadt kommen und nicht in Familien untergebracht werden können. Die Räume befinden sich in einem ehemaligen Arbeiterwohnheim, das früher von ausländischen Arbeitnehmern bewohnt war.

Diese Recyclingwerkstatt wird letztlich vom Trägerverein „Bürgerengagement Geislingen" getragen, der im Oktober 1995 gegründet wurde, weil den verschiedenen Initiativen ein gemeinsames auch rechtliches Dach gegeben werden mußte.

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4. BETA und Tagespflege

Als letztes Vorhaben wird in Geislingen wie in vier weiteren ausgewählten Städten vom Träger des Altenzentrums in der Stadt, zu dem eine Tagespflege gehört, zusammen mit der Stadt und traditionellen Trägern und Institutionen der Sozial- und Altenarbeit eine Vernetzung von bürgerschaftlichem Engagement mit dem Angebot einer Tagespflege angestrebt. Tagespflege leidet in Deutschland unter Akzeptanzproblemen, Tagespflege wird nicht von der Pflegeversicherung erfaßt; sie wäre aber zur Entlastung pflegender Angehöriger und auch der zu Pflegenden häufig ein adäquates Angebot zwischen Zuhause und Unterbringung im Heim. Dieses Projekt wird vom Bundesministerium für Arbeit und der Allgemeinen Ortskrankenkasse Baden-Württemberg für drei Jahre gefördert.

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Es wird wissenschaftlich begleitet und fordert außerordentlich viel von allen Beteiligten, ob von Altenzentren, Hauptamtlichen in der Tagespflege und interessierten und engagierten Bürgern und Institutionen. Fachlich stellt sich dies als außerordentlich anspruchsvoll dar. Auch hier sind traditionelle Arbeitsweisen zu verlassen, Mitarbeiter müssen neue Rollen für sich und ihre Arbeit in Zusammenhang mit Bürgern erst finden. Dies war bisher in ihrer Ausbildung so nicht vorgesehen. Auch der Träger des Altenzentrums muß sich hierbei lernbereit und offen zeigen. Wir hätten alle nicht geglaubt, daß dies ein so schwieriger und fachlich so anspruchsvoller Prozeß ist. Wir haben im Vorlauf zur Einweihung des neuen Hauses bereits den Versuch mit Tagespflege in einer Wohnung in der Stadt gehabt. Er war leider nicht so erfolgreich, wie wir uns das gewünscht hätten.

Zu diesem Projekt gehört, daß die Arbeit und die Aufgabenstellung pflegender Angehöriger in besonderer Weise herausgestellt wird. Nachdem im Wappen unserer Stadt die Rose ist, haben wir 1995 diese Aktion als den „Tag der Stadtrose" bezeichnet und gefeiert. Wir haben an diesem Nachmittag pflegende Angehörige eingeladen, um ihre Arbeit öffentlich zu würdigen, in geselligem Kontakt mit ihnen zu sein und ihnen auch eine Abwechslung und Erholung von der anstrengenden Pflege zu bieten. Als schwierige Hürde hat sich erwiesen, daß es nicht ganz einfach ist, direkt Kontakt zu pflegenden Angehörigen aufzunehmen, da schwierige Datenschutzfragen bzw. die Frage der stadtbezogenen Erfassung dieser Daten bei den Krankenkassen nicht selbstverständlich ist. In 14 Tagen kommt der „2. Tag der Stadtrose", dann läßt sich wahrscheinlich bilanzieren und überlegen, welche Struktur wir dieser Würdigung in Zukunft geben wollen und können. Das Können bezieht sich vor allem auf die Frage des Saales, der Darbietung und der Mitwirkung von Menschen für diese Menschen.

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5. Die „Geislinger Studie"

Die „Geislinger Studie" war ein weiteres Projekt in dieser kurzen Zeit. Das Sozialminsterium hat bei Sigma die Studie in Auftrag gegeben. Die Studie wurde auf dieser Tagung schon vorgestellt. Teil dieser Studie war, daß Menschen in einer Umfrage geäußert haben, daß sie vor allem

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Anregungen sowie Schulungen für eigenes Engagement wünschen. Wir haben diesen Wunsch gerne aufgegriffen. Dieser Tage sind wir mitten in einem Projekt, daß wir „Herbstzeitlose" genannt haben. Eine Serie von Veranstaltungen, die gemeinsam zur Frage des bürgerschaftlichen Engagements versucht wird. Hierbei lernen wir derzeit, daß intensive Werbung und Berichterstattung zu diesem Thema nicht ausreicht, um Menschen wirklich in die Veranstaltungen zu bringen. Wir stellen dies übrigens nicht nur in diesem Fall fest. Auch bei den relativ hochrangig besetzten Podien und Rednern lesen wir - ob in Göppingen oder Geislingen -, daß nur 8, 10 oder 15 Personen gekommen sind. Mit traditionellen Veranstaltungen tun wir uns schwer in deutschen Mittelstädten. Außerdem kann ich feststellen, daß die Umsetzung dieser Studie in konkretes Handeln nicht nur durch solche Modellvorhaben stattfindet. Diese Übersetzung findet auch parallel im Programm des „Hauses der Familie" und des „Hauses der Begegnung" statt, die sehr stark von den kirchlichen Erwachsenenbildungen getragen werden. Außerdem sind unsere Vereine nicht mehr Träger verstaubter alter ehrenamtlicher Arbeit. Sie nehmen diese und ähnliche Gedanken und Überlegungen engagiert auf, würdigen ihre Ehrenamtlichen in besonderer Weise und sind moderner als dies in der Diskussion oft unterstellt wird. Die Vereine sind mittlerweile viel weniger hierarchisch; sie beauftragen Mitarbeiter viel verantwortlicher mit Freiheiten, würdigen in besondere Weise Engagement, führen Wochenendklausuren mit den Mitarbeitern durch, in denen Ideen eingebracht werden können. Hier greifen Gedanken der Gemeinwesenarbeit viel intensiver als gemeinhin angenommen. Dasselbe gilt für die Kirchengemeinden - in beiden Kirchen wird der Frage der Gewinnung von Menschen für bürgerschaftliches Engagement mittlerweile auch fachlich viel mehr Augenmerk geschenkt, als dies noch vor 3 bis 4 Jahren der Fall war.

Diese Modellvorhaben haben meinen Blick auch dafür geschärft, denn ich schaue mir Strukturen ganz anders als noch vor 3 Jahren an. Vor allem unsere Großvereine ermöglichen ihren Mitgliedern interessante Fortbildungsprogramme, die zu Begegnungen mit ebenso engagierten Mitgliedern anderer Vereine in Häusern und auf Tagungen auf Landesebene in immer besserer Weise durchgeführt werden. Dies gilt für Sport,

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Musik, aber auch für Mitglieder in diakonischen und caritativen Einrichtungen der Kirchen.

Die Frage ist also, ob wir in dieser Situation über solche Strukturen der Modellvorhaben die Menschen erreichen können, die - aus welchen Gründen auch immer - Hemmschwellen haben, sich dort zu engagieren. Dies wird eine interessante Bewertung erforderlich machen nach dieser Veranstaltungsrunde.

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6. Neue Strukturen für öffentliche Einrichtungen

Einen letzten, weniger erfolgreichen Bereich möchte ich noch ansprechen: dies ist die bürgerschaftliche Mitwirkung in öffentlich kulturellen Einrichtungen. Der Druck auf finanzwirtschaftliche Steuerung aller kulturellen und sonstigen Einrichtungen einer Stadt läßt für verantwortliche und selbstbestimmte Mitarbeit kaum Spielraum. Die Leiterinnen und Leiter müßten die eigenen Strukturen öffnen, um Bürgern darin interessante Aufgabenfelder nach Wahl anzubieten. Solcher Strukturwandel ist fachlich ähnlich komplex und schwierig, wie sich die Öffnung eines Tagespflegebereichs hin zu Bürgern als schwieriger Komplex darstellt. Er braucht auch Zeit und etwas Geld. In Teilen haben wir allerdings schon seit langer Zeit Bürger-Mitarbeit. So betreiben wir unser Museum gemeinsam mit einem Verein von Bürgern, die dort Museumsdienste und Hilfsdienste machen. Bürger aus diesem Verein haben sich zu Stadtführungen bereiterklärt. Wir betreiben gemeinsam das Ausstellungsprogramm in der Galerie.

Ebenso erfolgreich scheint mir ein Förderverein von Eltern zu sein, der die Musikschule bei Veranstaltungen recht engagiert unterstützt. Dies sowohl organisatorisch wie auch finanziell. Hier wollten Eltern sich verstärkt einbringen. Ein Förderverein neben einer Einrichtung hat sich bewährt.

Wir liegen auch gut bei den Jugendhäusern. Ein Jugendhaus wird in Selbstverwaltung von Jugendlichen betrieben. Daneben ist eine halbe Kraft aus dem Rathaus als Unterstützung abgestellt; ein gutes Zusammenwirken gerade mit Jugendlichen. Das andere Jugendhaus wird von

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einem Trägerverein geführt, in dem die Stadt mit Stadträten und Verwaltungsmitarbeitern, die Kirchengemeinden sowie der Stadtjugendring vertreten sind. Dieser Trägerverein bekommt für die Hauptamtlichen die Personalkosten von der Stadt, er führt ansonsten konzeptionell das Jugendhaus in eigener Verantwortung.

Neu gegründet wurde ein Verein für „Mobile Arbeit", der eine Sozialarbeiterin „auf der Straße" für Kinder und Jugendliche einsetzt. Hier wurden sowohl Finanzierung wie auch Organisation ebenfalls in Form eines Vereines von Eltern, Kirchen und sozialen Institutionen gemeinsam auf den Weg gebracht. Die Stadt hat dafür den finanziellen Gegenwert einer halben Stelle finanziell für 3 Jahre zugesichert.

Der Stadtjugendring Geislingen ist vielfach Initiator und Veranstalter verschiedenster Aktivitäten, wie z.B. des Tags der Jugend, der Ferienstadt und des Helfensteinfestivals usw. Er hat einen sehr treuen und wachsenden Stamm an Mitarbeitern. Das sozio-kulturelle Zentrum Rätschenmühle wird ebenso von einer Gruppe von Erwachsenen getragen.

Jedes dieser Projekte bietet natürlich auch Chancen für bürgerschaftliches Engagement und freie Gestaltungsmöglichkeiten. Weitere Beispiele: Eltern betreiben an einer Schule einmal in der Woche einen Mittagstisch für Kinder. Nach wie vor engagieren sich sehr viele Frauen in der Hausaufgabenbetreuung für ausländische Kinder. Solche Initiativen sind erfolgreich, sie stehen finanziell sicher immer an der Grenze ihrer Möglichkeiten, sie bieten aber den engagierten Bürgern ein hohes Maß an selbständiger Entscheidungsmöglichkeit. Ich denke, daß die Geislinger Studie diesen Initiativen Mut gemacht hat, da sie auf Menschen verweist, die grundsätzlich bereit sind, sich zu engagieren.

Auch ein weiteres Projekt scheint mir sehr viele Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen; das „Schlachthofprojekt". Unterschiedliche Vereine, die vorher zum Teil kaum Berührung miteinander hatten, haben das alte Schlachthofgebäude und -gelände zur Verfügung gestellt bekommen, um darin Vereinsräume und ein kulturelles Zentrum auf eigene Kosten auszubauen. Ich bin sehr gespannt; ich kann mir aber denken, daß sich hier im Sinne bürgerschaftlichen Engagements noch viel mehr

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Menschen einbringen als wir am Anfang gedacht haben, da dies ein sehr attraktives auf Zeit angelegtes Bauprojekt ist. Es macht Spaß, hier am Ausbau einer solchen Einrichtung für die Jugend der Stadt mitzuwirken.

Unserer Wunschvorstellung, daß sich im Umfeld der Bibliothek hier noch einiges bewegen läßt, ist bis jetzt nicht Wirklichkeit geworden. Würden und könnten wir mehr neue Medien, wie CD-Rom und Video oder Zugänge zum Internet und ähnliches bereithalten, wo würde sich hier wahrscheinlich ein Ansatzpunkt ergeben, daß jüngere und ältere Menschen bei solchen neuen Kommunikationsmitteln vielleicht selbst mehr in die Hand nehmen könnten, als dies im traditionellen Bibliotheksbetrieb denkbar ist.

Ich stelle also fest, daß die Geislinger Studie ein wichtiges Indiz dafür ist, daß interessante Projekte, interessante Aufgabenstellungen in unserer Stadt damit rechnen können, daß sich Bürger ihrer annehmen.

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7. Ich schließe mit einigen Thesen:

1. Bürgerschaftliches Engagement im Sinne unserer Modellvorhaben gehört zu den neuen Arbeitsbereichen, die bestehende Verwaltungsvorgänge und gewachsene Rollen in der Hierarchie der Verwaltung in Frage stellen. Lernprozesse in der Verwaltung sind unabdingbar. Die Zusammenarbeit mit Bürgern führt zu intensiven Lernprozessen auf seiten der Verwaltungsmitarbeiter und der Bürger, die beide viel Neues entdecken können.

2. Es gibt wenige Aufgabenbereiche, die zu Beginn im Blick auf das Ergebnis eines intensiven Prozesses der Zusammenarbeit offen sind wie solche Modellvorhaben.

3. Für Geislingen und wohl für Deutschland insgesamt gilt, daß solche neue Formen, gerade auch, wenn sie von den Stadtverwaltungen mit initiiert werden, sehr kritisch beobachtet werden von traditionellen Vereins- und ehrenamtlichen Strukturen. Solche Strukturen bestehen bei 140 Vereinen in Geislingen zum Teil seit über 100 Jahren. Solche traditionellen Strukturen verändern sich derzeit stark im Sinne von

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Offenheit für bürgerschaftlichen Engagement. Der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements wurde längst von jedem Vereinsvorsitzenden bei der Ehrung seiner Mitarbeiter in seine Rede aufgenommen. Er eignet sich nicht mehr zur Unterscheidung; vom traditionellen Ehrenamt wird kam noch gesprochen.

4. „Bürger in Kontakt" ist ein Beispiel dafür, daß Bürgerinnen und Bürger neue Strukturen entwickeln können, wenn wir ihnen eine „kleine Infrastruktur" im Sinne eines Büros, Telefons, PC’s usw. zur Verfügung stellen. Daraus können sich sehr positive neue Gruppen entwickeln; wir werten dies als Erfolg des Modellvorhabens. Wir bewegen uns aber mit diesen Angeboten auf einem Markt an Angeboten, dieses Angebot ist je nach Stadt oder Gemeinde unterschiedlich intensiv (für unsere Stadt spielen nach meiner Meinung vor allem das „Haus der Familie" und das „Haus der Begegnung" hier doch eine größere Rolle als wir dachten).

5. Diese Modellvorhaben haben uns gezeigt, daß es auch in Ministerien Mitarbeiter gibt, ich meine hier Herrn Dr. Hummel und Frau Frenz, die so unbürokratisch, unkonventionell, immer am Rande bestehender haushaltswirtschaftlicher Gepflogenheiten im besten Sinne innovative Unterstützungsarbeit leisten können. Wir spüren aber auch, daß sie Ungeduld zeigen und zeigen müssen, wenn es nicht so schnell geht in Städten und Gemeinden, wie man dies sich beim Modellvorhaben eigentlich vorstellt. Zeit spielt eine dominante Rolle im Modellvorhaben. Diese ministerielle Unterstützung ist außerordentlich wertvoll und hoch anzuerkennen. Die fachwissenschaftlich Kompetenz und die praktischen Hilfestellungen, wie sie von Frau Frenz und Herrn Dr. Hummel gegeben wurden und werden oder von Frau Steiner-Hummel im BETA-Projekt angeboten werden, sind eine besondere Chance für die beteiligten Städte und Gemeinden. Allerdings: heute ist Frau Frenz nicht mehr im Ministerium, sondern nun auf der Seite der wissenschaftlichen Begleitung; Frau Steiner-Hummel macht dies im BETA-Projekt als fachliche Koordinatorin im Sinne der Förderung durch das Bundesarbeitsministerium.

6. Diese Modellvorhaben in Baden-Württemberg, die in Köngen, Fried-

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richshafen, Kirchheim, Mannheim, Nürtingen usw. Spuren hinterlassen haben, haben zu einer gemeinsamen Erklärung der kommunalen Spitzenverbände, also des Landkreistages, des Städtetages und des Gemeindetages geführt. Es wurde eine gemeinsame Arbeitsgemeinschaft gebildet. Zahlreiche Medienberichte setzten sich damit auseinander. Insofern ist der eingeschlagenen Weg politisch bisher durchaus auch erfolgreich gewesen. Derzeit hat sich aber auch das Sozialministerium mit harten finanziellen Einschnitten auseinanderzusetzen; man kann nur wünschen, daß die Arbeitsfähigkeit für solche Vorhaben Herrn Dr. Hummel und möglichst auch weiteren Mitarbeitern im Ministerium erhalten bleibt bzw. neu gegeben wird.

7. Der europäische Meinungsaustausch zwischen den Städten Olot, Bialystok, Stirling und Geislingen zusammen mit den fachwissenschaftlichen Begleitungen von Universitäten und Ministerien hat in besonderer Weise die Augen geöffnet für die Notwendigkeit, daß es nicht nur auf der Ebene von Städtepartnerschaften, sondern auch auf der Ebene solcher fachlichen Arbeitsbereiche wertvolle Partnerschaften geben kann, die uns sehr bereichern. Wir haben aber auch gelernt, daß solch eine Zusammenarbeit sehr anspruchsvoll ist und eines hohen Aufwands bedarf. Deshalb haben wir besonders dankbar die Förderung durch die Europäische Union zu unterstreichen. Diese Brückenschläge in die anderen Städte haben Europa für uns liebens- und lebenswerter gemacht. Sie haben uns aber auch die Aufgaben verdeutlicht, Aufgaben, denen wir uns auch als Bürger stellen. Wir hoffen auf eine Fortführung.

Soweit meine Thesen zu diesem Zeitpunkt über unsere Arbeit in Geislingen. Ich darf mich herzlich für die Einladung zu dieser Veranstaltung bedanken. Ich möchte an dieser Stelle den anderen Berichterstattern aus Europa herzlich danken, daß sie uns an ihren Erfahrungen haben teilhaben lassen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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