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Johann Friedrich Spittler
Humanes Sterben aus klinisch-ärztlicher Sicht


Das Thema "Humanes Leben - Humanes Sterben" - das ist aus der öffentlichen Diskussion sehr deutlich zu entnehmen - wird je nach persönlichem Ausgangspunkt sehr unterschiedlich gesehen. Deshalb wird es die Einordnung der nachfolgend vertretenen Positionen erleichtern, wenn die persönlichen Ausgangspunkte dargelegt werden.

Zum einen: In einer neurologischen Klinik der Maximalversorgungsstufe ist man heute sehr auf die Nutzung der hochbefriedigenden, modernen diagnostischen Möglichkeiten konzentriert. Daß die Therapie wegen ihrer manchmal mangelhaften Effektivität nicht gleichermaßen befriedigt, muß in einem bedrückenden Prozeß mühsam akzeptiert werden, wird im klinischen Alltag allerdings oft voller Aktionismus verdrängt. Patienten honorieren diesen Aktionismus mehr als das enttäuschende Hinführen zu einer Akzeptanz von Leiden.

Zum anderen: In allen Kliniken wird man in der heutigen Zeit aufmerksam den ökonomischen Spielraum beachten, um Stellensperren zu vermeiden oder erstrebenswerte Neuinvestitionen nicht zu gefährden. Wann in einer solchen Entwicklung ein möglicher Vorteil einer Therapie als durch den Aufwand nicht hinreichend gerechtfertigt zu beurteilen ist, kann meist nicht an objektiven Gesichtspunkten kritikimmun erwiesen werden.

Zum dritten: Neben diese beiden in der täglichen Arbeit bereits häufig untereinander widerstreitenden Ebenen des heutigen Medizinbetriebs tritt schließlich der mitmenschlich-psychologische Aspekt der Arzt-Patienten-Situation. Die Beachtung dieses Aspektes hemmt den Arzt in unserem effizienz-gerichteten Hochleistungs-Medizinbetrieb oft eher, als daß sie ihn dies fördern würde. Es ist bitter und kennzeichnend, daß die vor einigen Jahren engagiert, zugegebenermaßen auch lärmig geführte Diskussion um Humanität im Krankenhaus angesichts der heutigen ökonomischen Bedingungen kaum noch ein Thema ist.

Diese drei Charakteristika unseres heutigen Medizinbetriebs: das ambitionierte Hochleistungsstreben, die ökonomischen Zwänge und die in der Rangfolge der öffentlichen Diskussion nachfolgenden humanen Gesichtspunkte bilden den Hintergrund meiner Gedanken.

Inhaltlich möchte ich mein Statement in zwei Themenkomplexe untergliedern, den allgemeineren Bereich der institutionellen Rahmenbedingungen von Sterben im Krankenhaus und das speziellere Thema der Sterbehilfe.

Die institutionellen Bedingungen

Als Inbegriff einer menschenwürdigen letzten Lebensphase gilt ein Sterben in gewohnter häuslicher Umgebung, umsorgt von einer liebenden Familie. Trotz sicherlich uneingeschränkter Verbreitung dieses Wunsches ist ein solch friedvolles Bild wohl meist schon eine Illusion. So ist die gegenwärtige Realität nicht und wird die absehbare zukünftige Realität für uns heute Lebende nicht sein. Bereits heute stirbt die Mehrzahl der Menschen im Krankenhaus oder Altenpflegeheim.

Dies wird sich so bald nicht ändern. Als Lebewesen dieses Universums mit unserem Überlebens-, Durchsetzungs- und Hoffnungsprogramm denken wir Menschen zu gesunder Lebenszeit nur ausnahmsweise über unser eigenes Sterben nach. Auch in aller Zukunft werden wir, auf Heilung oder Linderung hoffend, in einer bedrohlichen Krankheit ins Krankenhaus drängen und den Lernprozeß über die Endlichkeit unseres Daseins erst danach oder gar nicht

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aufnehmen. Nur ein längerer Krankheitsprozeß, z. B. eine mehrjährige Krebs- oder Leukämieerkrankung, führt häufiger zu einer überlegten Entscheidung auch gegen eine Therapie und zu einem Einverständnis mit unserer Vergänglichkeit.

Nach heutigem allgemeinem Verständnis sind Krankenhäuser überteuerte Hochleistungserbringer, denen nur widerstrebend eine hohe Kostenaufwendigkeit zugestanden wird. Ihre immer weiter steigenden Kosten werden mit Deckelungsmaßnahmen zwangs-dereguliert, und als erste Pflicht wird derzeit von ihnen die wirtschaftliche Betriebsführung gefordert. Bei dem hohen Personalkostenanteil und der Notwendigkeit der Kosteneinsparung werden vielleicht nicht nur vorgeblich überflüssige Untersuchungen und Therapiemaßnahmen unterlassen, sondern es wird auch in einem Gespräch tatenlos verwendete Zeit eingespart werden. Dies wird selbstverständlich nicht explizit so gefordert, aber durch die administrativen Maßnahmen bewirkt.

Die absehbare weitere Entwicklung wird diese Konsequenzen weiter verschärfen. Die Kliniken werden sich zu Hochleistungsinstituten mit durchorganisierter Akutdiagnostik und Initialtherapie mit höheren Kosten in kürzerer Zeit entwickeln; die soziale Struktur unserer Gesellschaft wird durch eine Zunahme von alleinlebenden Personen gekennzeichnet sein, die stärker in zeit- und kostenaufwendige Pflegeinstitutionen tendieren; zunehmende medizinische Möglichkeiten werden ein immer fordernderes Anspruchsdenken mit der Notwendigkeit weiterer juristischer Absicherung bewirken; alle diese bereits laufenden Entwicklungen werden bei zunehmenden Kosten die für Zuwendung verfügbare Zeit weiter einschränken.

Diese Entwicklung zu kostenaufwendiger, aber auch unbestreitbarer Leistung der Krankenhäuser begründet und rechtfertigt sich aus der in vielen Fällen realistischen Heilungs- bzw. Besserungserwartung der Patienten. Im Falle erfolgreichen ärztlich-medizinischen Handelns sind die Gedanken des Patienten und seiner Angehörigen auf die Besserung gerichtet, das unter Umständen bedrückende Erleben fällt demgegenüber weniger ins Gewicht. Anders bei schwerwiegenden, zum Sterben führenden Erkrankungen. Hier erzwingt die Konfrontation mit einer aussichtslosen Prognose ein Annehmen von Schmerzen und Beeinträchtigung, von Angst und Hoffnungslosigkeit. Der hier notwendige Bewältigungsprozeß bedarf keiner medizinisch-technischen Apparate, sondern aufmerksamer, konzentrierter, behutsamer menschlicher Zuwendung, bedarf der Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten und dem Ohnmachtserleben bei Ärzten und Pflegepersonal, erfordert Anleitung beim Lernen, Ausbildung und Teamgespräche - erfordert ohne äußeren Druck verfügbare Zeit.

Als Antwort auf dieses Bedürfnis entstanden Bürgerbewegungen bzw. Vereine wie die Hospizbewegung oder beispielsweise der von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben im Dissens gegen Atrott abgespaltene Verein Omega unter der Vorsitzenden Frau Dr. Muschaweck-Kürten. Diese Gruppierung hat die stille ehrenamtliche Sterbebegleitung in der häuslichen Umgebung als Programm. Mir scheint, diese Bewegungen - andere kenne ich vielleicht nur nicht - tun das Notwendige und Mühsame; da die persönlichsten Bedürfnisse der Menschen recht verschieden sind, ist ein solches Angebot schwierig. Die alltägliche Realität in unseren Krankenhäusern, manchmal menschlich und zugewandt, oft auch geschäftig und unaufmerksam, bedarf sicherlich immer wieder der Besinnung auf eine konzentrierte Zuwendung, damit das Sterben im Krankenhaus eine humane Dimension behält. Die äußeren Rahmenbedingungen hierfür dürfen bei aller unbestritten notwendigen Kostendämpfung nicht ruiniert werden.

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Das Thema Sterbehilfe

Unter dem Thema Humanen Lebens und Sterbens soll nachfolgend der Aspekt der Sterbehilfe bis hin zur Tötung auf Verlangen diskutiert werden. Dieses Thema ist für die öffentliche Diskussion weitgehend tabuisiert. Seine Verdrängung führt immer wieder zu einem Aufbrechen heftiger Diskussionen in kleinerem Kreis und zu untragbaren Fehlhandlungen einzelner Pflegekräfte in Altenheimen und auf psychiatrischen Stationen. Am meisten bedrückt mich persönlich die weitgehende Hilflosigkeit in der Sprachlosigkeit derjenigen Menschen, die von der Problemsituation unmittelbar betroffen sind.

In dieser Diskussion über Sterbehilfe sind massive Affekte bis zu heftigen Aggressionen etwa von seiten Behinderter beteiligt. Von Anfang an muß darauf hingewiesen werden, daß selbstverständlich ein Unterschied zwischen dem Zulassen eines individuellen Sterbewunsches und einer gesellschaftspolitisch motivierten Tötung gesehen wird. Mir ist nicht hinreichend klar, weshalb eine solche Gleichsetzung von seiten Behinderter so massiv in die Diskussion um die Sterbehilfe hineingetragen wird. Zweifellos spielt eine Angst vor möglichen Fehlentwicklungen eine Rolle. Mir ist jedoch nicht erkennbar, woher die Angst vor einer solchen Fehlentwicklung in unserer Gesellschaft ernstlich begründet sein sollte - vielleicht bin ich zu naiv. Vielleicht wird diese Angst jedoch auch demagogisch genutzt, um eine Liberalisierung und größere Unabhängigkeit von Bürgern zu verhindern und überkommene Machtstrukturen zu konservieren. Nicht akzeptiert werden kann aus meiner Sicht, daß eine ernsthafte Diskussion durch diese Interaktion verhindert wird.

Zum Verständnis der folgenden, wenig eingeschränkten Gedanken mag es hilfreich sein, die persönlichen Voraussetzungen noch einmal explizit zu machen.

  • Prägend ist - bitte bestreiten Sie mir das nicht - ein in unserer christlichen Wertwelt verwurzeltes Denken.

  • Formend ist ein immer nachfragendes tägliches Lernen in einer naturwissenschaftlich-analytischen, strikt nach Ursachen und Begründungen fragenden Medizin.

  • Bestimmend ist ein oft sehr unmittelbar sich betreffen lassendes Miterleben sehr bedrückender neurologischer Krankheitsbilder.

In dieser Situation wird die nachfolgende Diskussion absichtlich auf einen sehr persönlichen Blickwinkel eingeengt - eine Verallgemeinerung mag jeder für sich nachvollziehen oder nicht.

Ein Erlebnis

Zur Erläuterung der später herauszuarbeitenden Nachgedanken soll das Erleben zweier Krankheitsbilder aus der klinischen Beobachtung heraus geschildert werden.

Es gibt ein nicht sehr häufiges, sehr schwerwiegendes schlaganfallsartiges Krankheitsbild, bei dem eine den sogenannten Hirnstamm mit Blut versorgende Schlagader durch ein Blutgerinnsel verschlossen wird, die Basilaristhrombose. Dieses Krankheitsbild betrifft vorwiegend Menschen in der zweiten Lebenshälfte, gelegentlich jedoch auch 30- bis 40-Jährige. Im typischen Fall entsteht in der Akutphase das sogenannte Locked-in-Syndrom, das als eine Querschnittslähmung im Gehirn gekennzeichnet werden kann: Die Patienten können weder Arme noch Beine, noch auch die Gesichts- oder Kau- bzw. Sprechmuskulatur bewegen. Einzig die Augenbewegungen nach oben und unten mit Augenöffnen und -schließen sind noch möglich. Da die Gefühls- und Hörbahn nicht betroffen sind, öffnen die Patienten bei der leisesten Berührung prompt die Augen und können diese auf eine gesprochene Aufforderung hin öffnen und schließen, sind also bei Bewußtsein. Wie weit die Patienten zu komplizierten

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Gedankengängen in der Lage sind, ist in der Mehrzahl nicht eindeutig zu beurteilen, da eine hinreichende Verständigung nicht zustande kommt. Immerhin ist an der Aufforderungs-beantwortenden Absichtlichkeit der in diesem Sinne 'bewußten' Reaktion des Augenöffnens und -schließens kein Zweifel.

Wenn dieses Krankheitsbild - selten - überlebt wird, bleiben die Patienten an Armen und Beinen hochgradig spastisch gelähmt. Sie sehen wegen Augenstellungsstörungen ständig doppelt, fühlen jeden Schmerz und erkennen ihre weitgehende Bewegungsunfähigkeit. Sie wissen im Verlaufe der Jahre um die Aussichtslosigkeit ihres Zustandes, leiden unter jeder unbedachten Bemerkung ihrer Umgebung und realisieren die schwere Belastung, die sie für ihre Umgebung sind. Sie können nur verzerrt sprechen, so daß wir sie nur eingeschränkt verstehen. Bei gefühlsmäßig belastenden Themen wird ihr Gesicht gegen ihren Willen typischerweise zu einem kurzdauernden Weinkrampf verzerrt; dieses sogenannte Zwangsweinen verhindert weitgehend eine Kommunikation mit der Umgebung über die bedrückenden eigenen Gedanken und die qualvollen Empfindungen in der eigenen Situation. Dabei ist aus anderen, emotional belangloseren Äußerungen etwa ein erhaltenes Gedächtnis und ein Miterleben und Nachdenken über die Ereignisse in der Umgebung zu entnehmen.

Ich kenne zwei junge Frauen in der ersten Hälfte ihrer 40er Lebensjahre; Ihre soziale Situation ist gräßlich, niemand in ihrer Umgebung wagt sich an das Gespräch um einen Sterbewunsch - auch ich bisher nicht: Wohinein stürze ich den Patienten mit meinem Gesprächsangebot? Was sollte ich auch auf einen Sterbewunsch antworten? - Die Einsamkeit dieser Menschen ist erdrückend.

Ich denke, Sie können verstehen, daß ich, sollte ich jemals in einen solchen Zustand geraten, mir für mich wünsche, daß jemand den Mut hätte, mich zu meinem Empfinden und zu meiner Meinung zu befragen und mich im Sinne einer Sterbehilfe, einer Tötung auf mein Verlangen aus diesem Zustand zu erlösen.

Ich bin mir gleichzeitig darüber im klaren, daß ich selbst im Augenblick zu einer solchen Handlung nicht bereit?, nicht mutig genug?, nicht in der Lage wäre? Es ist mir schwer vorstellbar, das Wunder eines immer noch bewußten, atmenden und fühlenden menschlichen Lebens durch eine absichtsvolle Handlung unwiederbringlich zu beenden - sollten wir das lernen müssen?

Andere Erlebnisse

Ein anderes, häufigeres Krankheitsbild mag noch viel problematischere Aspekte eines quälenden Verlaufes in seiner ganzen bedrückenden Schwierigkeit beleuchten.

Bei der Parkinsonschen Krankheit gibt es sehr unterschiedliche Verläufe. Teilweise erleben weniger schwerwiegend Erkrankte eine nur mäßige Behinderung, andere verschlechtern sich sehr stetig über 6-8-12 Jahre hin. In seiner typischen Symptomatik ist der Morbus Parkinson gekennzeichnet durch eine anfangs sehr geringe Bewegungsschwerfälligkeit mit abnehmender Behendigkeit und Leichtflüssigkeit.

Später kommt es zu einer zunehmend starren Hölzernheit mit der Unfähigkeit zu raschen Bewegungen beim Essen, beim An- und Auskleiden, beim Umdrehen im Bett. Es entwickelt sich eine Unfähigkeit zu raschen Korrekturschritten bei einer Balancestörung im Gehen mit der Folge schlimmer Stürze. Schließlich resultiert eine Unfähigkeit zu jeglicher eigenen Mithilfe bei den alltäglichsten Verrichtungen, der Nahrungsaufnahme, der Körperpflege oder dem Versuch ablenkender Beschäftigung. In der Spätphase der Erkrankung kommt es unter der immer weniger wirksamen Therapie zu Nebenwirkungen in Form von Trugwahrnehmungen von Gestalten im Zimmer, krabbelnden Tieren auf der Bettdecke oder Hunden unter dem Bett. Da die Patienten anfangs über viele Jahre geistig klar sind, resultiert eine begründete, nie mehr

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nachlassende Depression bis zu der Verzweiflung, seiner Umgebung eine drückende Last zu sein. In der Regel bleiben die Parkinson-Patienten bis zum Ende der Erkrankung auf dem nur noch zu prüfenden einfachen Kommunikationsniveau wahrnehmungs- und urteilsfähig, dann bleibt ein resigniert-bekümmerter Gesichtsausdruck kennzeichnend. Nur in einem kleineren Teil der Fälle kommt es zu einem deutlichen geistigen Versiegen mit dem Verschwinden des selbstkritisch-mitfühlenden Wahrnehmens, einem Dahindämmern und der Reduktion auf elementare Behagens- oder Mißbefindensäußerungen wie beim Morbus Alzheimer.

Noch betreue ich als Arzt meine Parkinson-Patienten in dem guten eigenen Gefühl ungehinderter Beweglichkeit. Natürlich beschleicht mich manchmal die Frage, wie würde ich denken? Aus eigener Anschauung kenne ich ja den weiteren Verlauf der Krankheit, den meine Patienten nicht so deutlich vor Augen sehen wie ich. In den ersten Jahren der Erkrankung sind die Erfolge der medikamentösen Behandlung gut, da kann man sicherlich noch ganz gut damit leben.

Würde ich, wenn ich selbst einen Morbus Parkinson bekommen sollte, den Zeitpunkt ergreifen können, bis zu dem ich noch handlungsfähig bin, und mir den weiteren Verlauf ersparen können? Oder werde ich vielleicht so früh auf meine kreatürlichen Nahrungs- und Sauberkeitsbedürfnisse und eine animalische Todesangst reduziert sein, daß ich und meine Umgebung den quälenden Verlauf aushalten müssen? Können Sie mich verstehen, daß ich das nicht will?

Selbstverständlich bin ich mir aus dem ganz unmittelbaren Miterleben mit meinen Patienten darüber im klaren, daß meine jetzigen Gedanken vielleicht nicht mehr gelten mögen, wenn ich selbst in der entsprechenden Situation sein sollte. Selbstverständlich kann die liebevolle Zuneigung einer pflegenden Person auch einen sonst quälenden Zustand noch mit einer außerordentlich eindrucksvollen Lebensfreude erfüllen. Wir haben das gerade erst noch bei einer Patientin mit einer vollständigen Querschnittslähmung infolge eines Karzinoms erlebt. Sie hatte ihre Mutter und Schwester bis zum Tode gepflegt und mußte nun ihre Einsamkeit erleben. Wir haben - mangelhaft genug - ihr unsere Bereitschaft zu Nähe und Begleitung angeboten. Ein Streicheln ihrer Hand wurde von ihr mit einem zutiefst dankbaren Lächeln beantwortet. Auch das ist eine trotz gleichzeitiger Schmerzen eindrucksvoll lohnende Lebensqualität - ich weiß.

Mögen Sie mir - meine Leser - mit meinem Blick auf die Basilaristhrombose und manche Verläufe des Morbus Parkinson zwei Fragen erlauben:

Zum einen: Müssen wir um jeden Preis am Überleben hängen?

Und zum anderen: Dürfen wir in unserer Gesellschaft einem kranken Menschen allein schon die Frage nach Sterbehilfe verweigern?

Ist es nicht unerträglich, daß in unserer Gesellschaft die Frage nach Sterbehilfe so weit tabuisiert ist, daß sich Menschen mit diesem ihrem Wunsch an einen Geschäftemacher wie Atrott wenden müssen? Ist es nicht unerträglich, daß Menschen mit diesem Wunsch in der letzten halben Stunde ihres Lebens ein in widerlichster Rechtfertigungsabsicht aufgenommenes Tonbandprotokoll sprechen müssen, wie in der Zeitschrift "Humanes Leben- Humanes Sterben" abgedruckt?

Mit einem letzten sehr persönlichen Gedanken möchte ich diese Reihe von Bildern meines Erlebens schließen: Zu meinem Glück wurde ich selbst bisher nicht nach Sterbehilfe gefragt; das Befolgen ebenso wie die Verweigerung einer solchen Bitte scheint mir eine quälende Last. Allein das Zulassen eines Gespräches mit dem Risiko einer solchen Bitte ist erschreckend - wieviel einfacher ist es, sich in einen moralisch und ethisch hochangesehen darstellenden therapeutischen Aktionismus zu flüchten. Kann ich selbst - sollte ich in eine solche Situation

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geraten - erwarten, daß mir jemand geduldig zuhören wird und bereit sein könnte, mir meinem Wunsche entsprechend zu helfen?

Systematische Gedanken zur Sterbehilfe

Ich möchte an diese Bilder vor meinen Augen und an diese sich so unmittelbar aufdrängenden Fragen auch einige systematische Gedanken anschließen, können wir doch ein Problem sehen und über Möglichkeiten zu einem Umgang nachdenken.

Gesellschaftliche Aspekte

Die jüngst vergangene und die absehbare, unmittelbar zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft lassen Problembereiche erkennen:

  • Wie kann man den offensichtlichen Diskussionsbedarf der gesellschaftlichen Tabus ernsthaft und liberal ermöglichen?

  • Wie weit ist unsere Gesellschaft (unser Staat) unfähig zur Ausmerzung zynischer Absahner, die in der Aktualität des Problems eine Möglichkeit persönlichen Profits nutzen?

  • Wie weit werden Kosten mehr als ethische Maßstäbe unser Handeln beeinflussen? Drohen entmündigende Zwänge der Ökonomie?

Unzweifelhaft notwendig ist eine juristische Sicherung gegen Mißbrauch der Sterbehilfe, sowohl gegen egoistische Profitsucht wie Kurzschlußaktionen Einzelner als auch gegen unmenschliche gesellschaftliche Entwicklungen.

Unterschiedlicher Grade der Autonomie Betroffener

Wenn man über Möglichkeiten der Sterbehilfe nachdenkt, sind verschiedene Situationen zu unterscheiden:

  • Geistige Autonomie bei körperlicher Handlungsfähigkeit
    = Informationsbedarf

  • Geistige Autonomie bei eingeschränkter Handlungsfähigkeit
    = Sterbebegleitung Û Hilfe zum Sterben

  • Demenz mit Überlegungs- und Handlungsunfähigkeit
    = ?

Diese verschiedenen Anwendungssituationen von Sterbehilfe erfordern unterschiedliche ethische und juristische Entscheidungen. Die zweite Situation wurde unter dem Entscheidungsgrund des absichtsvollen Sterbewunsches eines Betroffenen betrachtet. Die dritte Situation enthält ein mit dieser Entscheidungslinie nicht lösbares ethisches und juristisches Dilemma. Unlösbar bleibt für mich die Frage, daß ich persönlich ein Weiterleben in einem Spätstadium einer Demenz als sinnlos empfinden würde und mir eine Beendigung wünschen würde. Die gängige Tabuisierung dieser Diskussion und die Diffamierung des Fragenden lösen das Problem nicht.

Ärztlich-psychologische Aspekte

Aus ärztlicher Sicht sind in der gegenwärtigen Diskussion zwei Gesichtspunkte zu betrachten:

  • Die kreatürliche Angst vor dem Sterben, besonders bei eingeschränkter geistiger Autonomie

  • Die notwendig uneingeschränkte Verläßlichkeit therapeutischen ärztlichen Handelns.

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Solange wir Menschen hinreichend weit von der Möglichkeit eigenen Sterbens entfernt sind, läßt sich leicht diskutieren. Wenn diese Realität sehr unmittelbar in unser Denken tritt, ändern sich unsere Maßstäbe. Als Lebewesen haben wir eine eingeborene Angst vor unserem Sterben. Als geistige Lebewesen können wir uns über diese Angst hinaus entwickeln. Wenn unsere geistige Autonomie durch Krankheit eingeschränkt wird, können die eingeborenen biologischen Bedürfnisse in den Vordergrund treten. In bedrohlichen Erkrankungen erhofft der Patient von seinem Arzt therapeutisches Handeln - diese Hoffnung muß verläßlich bleiben. - Andererseits: Ist Sterbehilfe ohne fachkundig-ärztliche Mitwirkung vorstellbar?

Notwendigkeit der Intimität bei gesetzlicher Regelung

Das unmittelbare Erleben der Klage: "Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr", die Vielschichtigkeit der Situation mit allen Ängsten und Tabus und die Ignoranz der Rechtschaffenen machen für mich die Forderung nach Intimität einer Sterbehilfe zur wichtigsten Bedingung.

  • Ermöglichen von menschlicher Nähe und Zuneigung

  • Ehrenamtliche Tätigkeit pensionierter Richter und Ärzte?

  • Fakultative Beratung / Begleitung durch Sozialarbeiter / Psychologen?

Gegenwärtig ist eine Sterbehilfe von dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung bzw. der Tötung auf Verlangen bedroht. Ein Sterbewilliger muß die Anwesenheit eines Vertrauten verhindern, um ihn nicht einem Ermittlungsverfahren auszusetzen: Er ist vom Gesetz gezwungen, in Einsamkeit zu sterben - mir scheint das unmenschlich. Eine gesetzliche Regelung sollte in einer solchen menschlichen Extremsituation einen behutsamen Umgang ermöglichen. Eine Prüfung der Ernsthaftigkeit des Sterbewunsches muß dies berücksichtigen, der Kreis der Prüfenden darf nicht zu groß sein, die Prüfenden müssen erfahrene Richter und Ärzte sein und sollten in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation vielleicht nicht mehr im Berufsleben mit seinen Abhängigkeiten stehen. In sozialen Notsituationen oder bei behandlungsfähigen psychischen Störungen sollten Richter und Arzt einen Sozialarbeiter bzw. einen Psychotherapeuten beiziehen können.

Abschließende Gedanken

In meinen Augen sind in diesen sehr persönlichen Bereichen unseres Lebens nicht Reparatur- oder Macher-Aktivitäten gefragt, sondern eine gesellschaftliche Diskussion mit dem Ziel, ein Problembewußtsein für die Verschiedenheit der Bedürfnisse der Menschen zu entwickeln. In unserer Gesellschaft sehe ich eine Entwicklung zu einem Willen zu sehr weitgehender persönlicher Entscheidungsfreiheit auch über ein selbstbestimmtes Sterben.

In zukünftigen Jahren noch mehr als heute werden Menschen auch über die Beendigung ihres eigenen Lebens entscheiden wollen; die öffentliche Diskussion um die Prävention des Alterssuizids scheint mir einseitig, tabuisiert, irrational angstbesetzt und von den sekundären Zielen einer Forschungsmittelbeschaffung mitbestimmt; mir scheint es notwendig, auf ein gesellschaftliches Einverständnis mit pluralen Entwicklungen hinzuwirken und irrationalen Ängsten wie institutioneller Macht entgegenzuwirken.

Dieses Programm hatte die DGHS in ihrer Satzung stehen. Die Bigotterie und Tabuisierung dieser Themen in unserer Gesellschaft, die real vorhandenen Wünsche nicht weniger Menschen und die persönliche Schwäche des seinerzeitigen Vorsitzenden haben dieses Programm und die zeitweilig vorhandene Möglichkeit seiner Diskussion konterkariert und desavouiert - davon ist die Verschiedenheit der Bedürfnisse von Menschen in unserer Gesellschaft nicht verschwunden. Die Frage drängt sich auf, warum in Deutschland solche Fehlentwicklungen vorkommen.

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Wenn ich die Frage nach einer Zulassung von Sterbehilfe stelle, werde ich prüfen, ob die vorgelegten Gedanken fehlinterpretiert und mißbraucht werden können oder ob sie mir das Genick brechen werden. Dazu sind sicherlich viele Rechtschaffene in ihrer Abwehr von Bedrohlichem bereit. Soll ich deshalb der Patientin, die mir vor Jahren und jetzt wieder sagt: "Ich kann nicht mehr — ich kann nicht mehr — ich will auch nicht mehr," antworten: "Ich tue alles, um Sie am Leben zu erhalten," und vor anderen Fragen laufe ich davon?

Wie sicherlich auch andere hoffe ich auf eine Freiheit der individuellen Entwicklung und eine Toleranz unserer Gesellschaft für jeweils anderes Denken, auch wenn es Ängste wachrufen mag. Ich hoffe, wir können lernen, die miterlebbaren Bedürfnisse Betroffener und die absehbaren, uns vielleicht ängstigenden Entwicklungen wach zu unterscheiden von durch die Tabuisierung in unserer Gesellschaft möglich werdenden individuellen Fehlern und von historischen gesellschaftlichen Katastrophen. Ich wünsche mir, daß mit anderem Selbstverständnis und ähnlicher Zielrichtung arbeitende Verbände und Institutionen solchen Unterscheidungen offen und ohne demagogischen Einsatz von Vorurteilen entgegenkommen: Nur in ihrer Vielfalt und in dem Zulassen von Verschiedenheit wird unsere komplexe Welt Frieden finden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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