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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 48 ]


Ottmar Schreiner
Zur Zukunft der SPD Thesen zur „Dritten Weg"-Debatte


I.

Die Übernahme der Regierungsverantwortung im Bund hat die SPD vor eine neue Aufgabe gestellt. Wir müssen nun nicht nur auf glaubhafte, sondern auch auf überprüfbare Weise unser tägliches Handeln in der Regierungsverantwortung mit überzeugenden politischen Perspektiven verbinden. Diese müssen den größeren Teil der Öffentlichkeit davon überzeugen können, daß die Sozialdemokratie ein Regierungsmandat über die Legislaturperiode hinaus verdient. Realismus, aber auch die Kraft zu wirklichkeitsnahem Zukunftsentwurf sind dafür die Voraussetzung. Die SPD, mit einer großen Zahl engagierter Mitglieder, die Erfahrungen und Kompetenzen aus wichtigen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Handlungsfeldern mitbringen, ist für eine solche Diskussion die geeignete Plattform.

Geprägt von Massenmedien, einer voranschreitenden sozialen Differenzierung und der Modernisierung der Denk- und Handlungsweisen, der Berufsbilder und Wertewelten ihrer Anhänger und Wähler, kann die SPD eine solche Aufgabe nur erfüllen, wenn sie sich als eine große demokratische Organisation definiert, die handlungsorientiert Tages- und Zukunftsfragen verknüpft und die in der Lage ist, Impulse aus der Gesellschaft aufzunehmen und in die Gesellschaft wirkungsvoll zu vermitteln.

II.

Die von Tony Blair und Anthony Giddens in Europa angestoßene Diskussion um einen „Dritten Weg der Sozialdemokratie" zwischen „neoliberalem" Politikverzicht und „altlinkem" Konservatismus orientiert sich im Kern an den richtigen Fragen. Ich füge hinzu: es ist auch die richtige Richtung, die Giddens als „links von der Mitte" einordnet. Der „dritte Weg", der unser Weg werden sollte, sieht die Chancen für nachhaltiges Wachstum, ein gutes Leben und politische Freiheit in einer Welt neuer globaler Dimensionen und fordert dazu auf, sie international koordiniert zu nutzen.

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Selbstverständlich gibt es in den einzelnen europäischen Sozialdemokratien aufgrund ihrer verschiedenartigen Traditionen, ihrer unterschiedlichen politischen Kulturen, der Ungleichzeitigkeit ihrer Programmerneuerung und einer verschiedenartigen Gewichtung der einzelnen Probleme neben den Gemeinsamkeiten auch erhebliche Unterschiede. Darum kann die Erneuerung nicht im Import fertiger Modelle bestehen, es wird nicht einen, sondern diverse „dritte Wege" geben.

Die deutsche Sozialdemokratie hatte schon 1959 mit ihrem Godesberger Programm den Durchbruch zu einer grundwerteorientierten pragmatischen Volkspartei vollzogen. Dieser tiefgreifende Wandel war lange Zeit von anderen sozialdemokratischen Parteien mit Distanz betrachtet worden, ist aber mittlerweile die gemeinsame Überzeugung fast aller sozialdemokratischer Parteien in Europa. Wir hatten dann mit unserem Berliner Programm von 1989 Antworten auf einige der neuen Fragen der „Zweiten Moderne" entwickelt, die in vielen Einzelbereichen der Politik neue Angebote in die politische Debatte eingebracht haben. In der Ökologie- und Technologiepolitik, der Europapolitik, der Gleichstellung der Geschlechter wurden neue Lösungen erarbeitet, die zukunftstauglich sind. Wir werden uns vorurteilsfrei mit befreundeten Parteien austauschen und dann verantwortungsvoll unseren eigenen Weg bestimmen.

Wir können bei einer Erneuerungsdiskussion auf der Werteorientierung von Godesberg aufbauen und wichtige Aspekte des Berliner Programms fortentwickeln und konkretisieren. Dafür hat die SPD drei Projektgruppen zu den zentralen Politikfeldern Zukunft der Arbeit, der Familie sowie selbständiger Tätigkeit eingerichtet. Mit den Antworten wollen wir den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern.

Im Kern geht es um die Balance zwischen kleinen Schritten und pragmatischen Lösungen einerseits, der Erkennbarkeit von Werten und Zielen andererseits.

III.

Die Fragen liegen angesichts der Ursachen der Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, auf der Hand. Es sind die Fragen, die in der Debatte um den „Dritten Weg" und die „Rückkehr der Politik" die Diskussionen der europäischen Sozialdemokratie beherrschen. Was sind die Grundwerte und was sind die Ziele, die einen Rahmen setzen auch für das, was wir

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ändern wollen, was lange Zeit als selbstverständlich in den eigenen Reihen galt?

1. Neue Ökonomie in der globalisierten Wirtschaft:

Wie verbinden wir die Förderung der hochmodernen Arbeitsplätze in den wettbewerbsfähigen, zumeist informationstechnologischen Sektoren unserer Wirtschaft mit verbesserten Voraussetzungen für Existenzgründungen in allen Wirtschaftsbereichen und mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Es geht auch um verbesserte Anreize im Bereich der gering qualifizierten Arbeit und der einfachen personenbezogenen Dienstleistungen. Welche Rolle spielen die Rahmenbedingungen, welche Rolle spielen die Innovationen, welche Rolle spielen neue Arbeitszeitmodelle, welche Rolle spielt eine veränderte Einstellung der Einzelnen zur Eigenverantwortung? - das sind einige der Fragen, die wir klären wollen.

Wenn wir von gesellschaftlicher Verantwortung sprechen, ist die Wirtschaft damit einbezogen. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft privatisierte eben nicht nur die Gewinne. Sondern die Unternehmen müssen sich weiterhin aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme - finanzieller, sozialer und ökologischer - beteiligen. Das Bündnis für Arbeit ist das derzeit wichtigste Beispiel für eine Politik, die nichts befehlen, die aber etwas ermöglichen und vermitteln will.

2. Sozialstaat:

Die Grundidee des Sozialstaats, als Form institutionalisierter Solidarität, steht für Sozialdemokraten nicht zur Disposition. Die dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, die Entwicklungen im Gesundheitswesen, der demographische Wandel, Zuwanderung und Integration, um nur die wichtigsten Handlungsfelder zu nennen, verlangen, daß wir die Wege der sozialen Sicherung weiterentwickeln.

Ohne reformierten Sozialstaat, der beispielsweise diskontinuierliche Erwerbsarbeit absichert, ist auch keine aktive Bürgerbeteiligung möglich. Wir müssen klären, was die Rolle einer verläßlichen sozialen Grundsicherung für alle sein kann, worin sie besteht, welche Leistungen weiterhin nach dem Versicherungsprinzip garantiert werden müssen und wie weit Spielräume und Anreize für Eigeninitiative verbessert werden können.

Eine aktive Sozialpolitik muß in erster Linie die Menschen zu selbständiger Lebensführung ermutigen, anstatt nachträglich umzuverteilen. Keine Gesellschaft

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kann es sich leisten, eine beträchtliche Zahl von Menschen auf Dauer auszuschließen. Deshalb setzen Sozialdemokraten gegen Ausgrenzung und Spaltungen der Gesellschaft die Idee der Einbeziehung, der sozialen Teilhabe und der sozialen Chancen, was in erster Linie Zugang zu Arbeit und zum Arbeitsmarkt, zu Qualifikationen bedeutet.

Politik der sozialen Chancen bedeutet für mich dreierlei: Den flankierenden Schutz bei großen Lebensrisiken wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Krankheit; aktivierende Förderprogramme zur raschen Überwindung von Risikosituationen; schließlich Förderung von bürgerschaftlichem Engagement in Arbeits- und Lebenswelten.

3. Neue Politikformen:

Der Staat garantiert als die Gemeinschaftsorganisation der Gesellschaft die Rechte der Schwächeren, er schafft und sichert Voraussetzungen für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Das sind Grundüberzeugungen der SPD, die mit großem Erfolg seit dem Beginn der sozialdemokratischen Bewegung gegen Liberalismus und Konservatismus verfochten wurden. Der verstärkte Wunsch nach Beteiligung bei vielen Bürgerinnen und Bürgern verlangt, daß wir unsere Politikformen in der komplexer werdenden Gesellschaft ergänzen.

Wie weit kann der Staat als Anreger, als Moderator, als Partner seine Ziele besser erreichen, als in der alten hierarchischen Rolle? Wie weit können Bürgerzusammenschlüsse in der Gesellschaft selbst politische und soziale Aufgaben wirkungsvoller, problemnäher, engagierter und nachhaltiger lösen, als staatliches Handeln? Welche Formen des Zusammenwirkens von bürgerschaftlichem und staatlichem Engagement versprechen den größeren Erfolg? Das sind Themen für die Erneuerung. Der Staat soll künftig neben statt über den Bürgern stehen; nicht nur in der Sozial-, sondern ebenso in der Innen- und Rechtspolitik, in der Praxis jeder Verwaltung. Es geht nicht um Privatisierung politischer Verpflichtungen, sondern um neue, gesellschaftsnähere politische Formen ihrer Erfüllung.

4. Kultur der Verantwortlichkeit:

Die liberalistische Ideologie, wonach letztlich immer der Einzelne Schuld ist, wenn es ihm nicht gelingt, in der Gesellschaft, in der wir leben, die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz zu gewinnen, ist auch heute falsch.

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Richtig aber ist, daß wir über die Verteilung von Rechten und Pflichten neu nachdenken müssen und darüber, wie wir die vielen, die es betrifft, nachhaltiger und wirkungsvoller daran erinnern können, worin ihre soziale Verantwortung besteht und was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür sind, daß ihnen Rechte garantiert werden können. Das betrifft nicht nur Mißbräuche im Sozialstaat, es betrifft auch Solidarität mit anderen im Nahbereich, ebenso zivile Umgangsformen untereinander und die Stärkung und Verbreitung eines Bürgersinns, der nicht nur nach Rechten sondern auch nach Pflichten fragt.

5. Neue Mitte:

„Neue Mitte" war nicht nur ein Schlagwort für den Wahlkampf. Die sozialen Milieus der „Neuen Mitte", vor allem in Kultur-, Sozial- und neuen Technikberufen bestehen zum großen Teil aus jüngeren Menschen, die gelernt haben, mit neuen Technologien zu leben, Nutzen aus ihnen zu ziehen und sie zu handhaben, die gut informiert und politisch interessiert, aber nicht an eine bestimmte Partei, auch nicht an unsere gebunden sind;

die sich viel mehr von Fall zu Fall auf direktem Wege mit guten Informationen und Argumenten versorgen, um ihre eigene Entscheidung treffen zu können. Sie sind keine Stammwähler und werden es überwiegend auch nicht werden. Aber sie sind offen für glaubwürdige und umsetzbare Projekte, die SPD kann viele von ihnen immer wieder gewinnen.

Sie haben einen hoch entwickelten Sinn für soziale Verantwortung, für Gerechtigkeit und für den Wert einer solidarischen Gesellschaft. Es macht darum einen guten Sinn, sie als wichtige Zielgruppen sozialdemokratischer Politik und sozialdemokratischer Kommunikation ernst zu nehmen. Aber auch die sogenannten Stammwähler sind beweglicher und offener als viele unterstellen und müssen ebenfalls mit zeitgemäßen Antworten immer neu überzeugt werden.

Die Medien spielen bei der Vermittlung unserer Politik eine große Rolle. Viele Wählerinnen und Wähler, gerade auch Angehörige der neuen Milieus, suchen aber in der direkten Auseinandersetzung nach Information und Argumenten. Dies zu vermitteln ist die Aufgabe der großen Mitgliederpartei SPD.

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IV.

„Innovation und Gerechtigkeit" hieß der Wahlspruch, mit dem die Sozialdemokratie die Bundestagswahl 1998 für sich entschieden hat. Innovation wird in der veränderten Situation, in der wir uns heute befinden, viele ungewohnte Neuerungen und Veränderungen von allen verlangen. Neue Formen der Flexibilisierung und Entbürokratisierung, der Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft, der Eigenverantwortung erweisen sich als notwendig. Die Sozialdemokratie wird auch in Zukunft eine Mehrheitsunterstützung nur gewinnen, wenn sie über die notwendigen Veränderungen in den Bereichen von Innovation und Flexibilisierung hinaus eine überzeugendes Konzept sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit vertritt.

Die Themen der Partizipation, Teilhabe und der ökologischen Erneuerung, zu dem das Berliner Programm 1998 viele gute Vorschläge gemacht hat, dürfen in der neuen Diskussion nicht vernachlässigt werden. Es bleibt richtig, daß eine ökonomische Innovationspolitik ohne ökologischen Umbau sich selbst widerspricht. Es bleibt ebenfalls richtig, daß die Teilhabe der Betroffenen und der Beteiligten in allen Bereichen der Gesellschaft nicht nur ein Anspruch ist, den sie als mündige Menschen haben und den wir als Sozialdemokraten unterstützen, sondern auch eine Produktivkraft für die Entwicklung selbst.

Die Diskussion um sozialdemokratische Erneuerung hat in Deutschland eine fruchtbare Tradition. Worum es jetzt geht, ist eine Überprüfung der Projekte, ihre Weiterentwicklung und ihre innere Verbindung. Die SPD muß in der Öffentlichkeit glaubhaft darstellen, daß sie die Volkspartei ist, die die notwendigen Veränderungen auf vielen Gebieten mit der Garantie sozialer Sicherheit verbinden kann, ohne die unsere Gesellschaft immer stärker zerklüftet. Dafür lohnt sich die große Anstrengung einer gründlichen Diskussion um die Erneuerung des sozialdemokratischen Denkens.

Die Renaissance der Sozialdemokratie wird vor allem auch davon abhängen, inwieweit es gelingt, den europäischen Raum für eine gemeinsame Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu nutzen. Ulrich Beck hat in diesem Zusammenhang von den Handlungsspielräumen für eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz gesprochen. Die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse in der Europäischen Union haben dafür Optionen geschaffen, es wird in starkem Maße auch von der SPD abhängen, ob und wie die Chancen genutzt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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