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Thomas Meyer
Einleitung


zum Streitforum der Friedrich-Ebert-Stiftung, das wir gemeinsam mit Wolfgang Thierse vorbereitet haben, begrüße ich Sie alle sehr herzlich. Besonders begrüße ich die Teilnehmer und Moderatoren der beiden Podien. Ich freue mich, daß der Bundesgeschäftsführer der SPD, Ottmar Schreiner, unserer Einladung gefolgt ist und seine Position hier markieren wird. Ich begrüße ihn sehr herzlich. Ebenso herzlich begrüße ich Werner Perger, Kenner des Themas in seinen internationalen Verästelungen, und Frank Vandenbroucke, ehem. stellvertr. Ministerpräsident Belgiens, jetzt politischer Philosoph in Oxford. Ad Melkert hat sich vor einigen Tagen entschuldigen müssen, für heute ist eine Sitzung des Parlaments in Den Haag anberaumt worden, an der er teilnehmen muß.

Die Teilnehmer der zweiten Runde begrüße ich jetzt vorab: Willkommen Felice Besostri aus Rom, Jacques-Pierre Gougeon aus Paris, Peter Robinson aus London.

Wir freuen uns, eine solch illustre Runde wichtiger Politikberater aus einigen der interessantesten Hauptstädte Europas heute bei uns zu haben.

Wir wollen heute keineswegs bloß rhetorisch, sondern so substanziell wie es die wenigen Stunden zulassen, die wir haben, der Frage nachgehen:

„Dritter Weg und neue Mitte. Leerformeln oder Leitbegriffe einer neuen Politik?"

Stehen wir - wie Signale aus Washington, London und anderswo bedeuten können - am Anfang einer neuen großen Diskussion und das Projekt der Sozialdemokratie im Zeitalter der Globalisierung? Oder erleben wir bloß den Versuch, Ratlosigkeit und Anpassung durch einen flotten Spruch zu verdecken und als neue Politik zu vermarkten? Auf jeden Fall, es besteht Klärungsbedarf; nicht nur über die gewiß sehr wichtigen Details der Tagespolitik, sondern darüber, wohin die Reise über den nächsten Wahltermin gehen soll, zu der die Sozialdemokratie aufbrechen und unsere Gesellschaft einladen will. Die Frage lautet: welche Gesellschaft wollen wir, können wir realistischerweise in der neuen Weltgesellschaft verwirklichen.

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Vor 14 Tagen fand eine Konferenz mit Staats- und Regierungschefs der Linken Mitte in Washington statt. Man schien sich einig über das Ziel und den Begriff „Dritter Weg".

Der Begriff „Dritter Weg" hat in der Geschichte der Sozialdemokratie höchst unterschiedlichen politischen Zwecken gedient. Zwischen den Weltkriegen suchten ihn die Austromarxisten zwischen demokratischem Sozialismus und Kommunismus, nach dem Zweiten Weltkrieg sahen ihn die Sozialdemokraten zwischen Kapitalismus und kommunistischer Diktatur, im Prager Frühling sahen ihn die Reformkommunisten in einem Markt ohne Privateigentum. Und nun, seit dem Beginn der 90er Jahre, orten ihn zuerst die Berater des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, seit kurzem gefolgt von Tony Blair, in einer neuen, zeitgemäßen Synthese des Liberalismus der 70er und 80er Jahre mit den klassischen Konzepten und Zielen der Sozialdemokratie.

Die Verwirrung wäre komplett und die Beliebigkeit fast grenzenlos, wollte man nun bei der gegenwärtigen Orientierung für diese neu in Gang gekommene Diskussion am historischen Gebrauch des Begriffs festhalten. Wie „links" und „rechts" sind auch Dritte Wege historisch immer etwas Relatives, bezogen auf vorhandene Alternativen und die Art, wie sie sich in konkreter historischer Lage jeweils bestimmen. Die politische Semantik hat ihre eigenen Regeln, die sich an aktuellen Kräftefeldern von Wortbedeutungen, verbrauchten und verheißungsvollen, nichtssagenden und vielversprechenden Begriffen ausrichtet, die im Felde der öffentlichen Kommunikation durch die Definitionsbemühungen einzelner Gruppen oder gar Individuen immer nur im bescheidenen Maße beeinflußt werden können. Sie ergeben sich überwiegend aus dem Zusammenspiel von Begriffserfahrungen und öffentlichen Kommunikationsbedingungen, die sich den Nutzungsabsichten der einzelnen Kommunikationsteilnehmer immer auch entziehen.

Eine Reihe von Faktoren, zu denen auch die grandiosen Wahlerfolge von Bill Clinton und Tony Blair so wie die Erschöpfung der Attraktionskraft des Neoliberalismus zählen, haben innerhalb weniger Jahre dazu geführt, daß der Begriff „Dritter Weg" in dem von Tony Blair ins Spiel gebrachten Sinne von den Vereinigten Staaten bis Großbritannien, von Europa bis Japan zu einem Symbol für die Hoffnung geworden ist, es könne zwischen der alten Sozialdemokratie der nationalstaatlichen Epoche und dem neoliberalen Marktfundamentalismus der globalen Ära einen neuen, erfolgversprechenden

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Weg politischer Gestaltung geben, der die Grundwerte der Sozialdemokratie auf neue Weise mit Leben erfüllt und in einer globalen Welt gegen die bloße Herrschaft der Märkte mit neuen Chancen versieht.

Obgleich Tony Blair freimütig eingestand, daß dieser von ihm favorisierte Symbolbegriff ein Jahrzehnt und mehr konkreter konzeptioneller Arbeit bedürfe, um ihn mit wirklichem politischen Leben zu füllen und zu einem identifizierbaren und umsetzungsfähigen politischen Projekt der linken Mitte zu machen, ist seine semantisch-politische Strategie, diesen Begriff zu einem erfolgversprechenden Hoffnungssymbol einer solchen politischen Absicht werden zu lassen, schon jetzt in erstaunlich hohem Maße aufgegangen. Lohnt es sich daher, aus wichtigen sachlichen Gründen auf jeden Fall die fällige Erneuerungsdiskussion der Sozialdemokratie im Übergang in ein neues Jahrhundert mit Bezug auf diesen Leitbegriff zu führen, der sich nach allem, was wir heute beobachten können, offenbar als geeignet erweist, die Offensive einer Politik der linken Mitte gegen die Dominanz des Neoliberalismus der letzten beiden Jahrzehnte zurückzugewinnen. In Deutschland spielt seit dem Wahljahr 1998 das Kennwort der „Neuen Mitte" eine vergleichbare Schlüsselrolle. Es war zunächst ein label für den Wahlkampf. Kann es mit/oder anstelle des „Dritten Weges" zum Symbolwort für ein neues Zukunftsprojekt der Sozialdemokratie werden? Kann es mit überzeugenden Inhalten einer neuen Reformpolitik gefüllt werden?

Es ist der Zusammenhang und die Wechselwirkung der folgenden Themen, um die es bei den Debatten um einen Dritten Weg für die Sozialdemokratie vor allem geht:

Anlaß und Ausgangspunkt ist die Feststellung einer mehr oder weniger unentrinnbaren ökonomischen Globalisierung mit ihren Folgen für Wirtschaft, Sozialstaat und die Handlungsspielräume der Politik. Obgleich das Maß der Unveränderbarkeit der Weltmarktbedingungen durchaus umstritten ist, gehen doch alle Teilnehmer dieser Debatte von einem historisch beispiellosem Maß globaler Marktverflechtung aus, das die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit des Nationalstaates in ungewohnter Weise einschränkt. Die neue Ökonomie, die daraus entsteht, ist vor allem durch die Zunahme von hochqualifizierten Arbeitsplätzen in den computerbezogenen Dienstleistungsberufen auf der einen Seite und dem Entstehen geringqualifizierter und geringentlohnter Humandienstleistungen am unteren Ende des Arbeitsmarktes gekennzeichnet. Der Druck auf die Arbeitskosten

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sowie die Veränderung der Alterspyramide führen zur Notwendigkeit eines Umbaus des Sozialstaates in Richtung auf kostengünstigere, zielgenaue Lösungen, die vor allem der Requalifizierung für die Arbeitsmärkte dienen. Die neue Rolle der Märkte, die zunehmende Komplexität der Gesellschaften sowie die Verringerung der Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten verlangen eine neue Regierungsweise (New Governance), bei der der Staat zwar nicht aus der Gesamtverantwortung für die Folgen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns entlassen wird, aber die Formen seines Handelns überprüfen muß. An die Stelle von autoritären Formen der Verordnung, der Regulierung durch zentralistische Steuerung treten horizontale staatliche Handlungsweisen, wie Moderation, Veranlassen, Unterstützen, Gewährleisten. Insgesamt wird eine neue politische Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft erstrebt, bei der mehr politische Selbstregulation von der Gesellschaft erwartet wird (Kommunitarismus). Die Grundwerte, das ist unumstritten, sind der Maßstab einer solchen Politik, die, von den einzelnen Akteuren unterschiedlich bestimmt und interpretiert, die Orientierung für eine Politik darstellen, die sich im einzelnen pragmatischen Mitteln zuwendet, bei denen Dezentralisierung, Marktregulierung, neue Formen gesellschaftlicher Politik, Hilfe zur Selbsthilfe eine bedeutendere Rolle spielen als in den traditionellen Konzepten der Sozialdemokratie.

Der Umbau des Sozialstaates, die neue Regierungsweise und der an Grundwerten orientierte Pragmatismus bedingen, daß sich die öffentliche Diskussion um einen Dritten Weg, vor allem in der von Blair vertretenen Variante, in erheblichem Maße auch als eine moralisch kulturelle Kampagne für ein verändertes Selbstverständnis der Staatsbürgerrolle versteht (New Citizenship). Die Bürgerinnen und Bürger sollen eine aktivere Rolle spielen mit einer größeren Bereitschaft zur Eigenverantwortung und zum Eigenengagement in der Zivilgesellschaft sowie bei der Inanspruchnahme des Sozialstaates und der eigenen Orientierungen an den Chancen des Arbeitsmarktes. Die öffentliche Investitionspolitik und der Umbau des Sozialstaates setzen ihren Hauptakzent auf die moderne Entwicklung von Humankapital durch Verbesserungen im Bildungssystem, in der Weiterqualifizierung und bei der Förderung von Umschulungen, in der Erwartung, daß auf diesem Wege zugleich den Einzelnen und der Wirtschaft insgesamt in ihrer durch die Weltmärkte veränderten Position am besten gedient sei.

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Die politischen Ideen, die politische Semantik und die Wahlbündnispolitik des Dritten Weges zielen in erster Linie auf die neuen Mittelschichten, die in den Projekten und der Politikvermittlung eine zentrale Rolle spielen, da sie politisch interessiert und informiert, parteipolitisch aber nicht gebunden sind. Bei allen Vertretern des Dritten Weges, soweit sie als politische Akteure Spitzenkandidaten und Verantwortliche für die Wahlkämpfe ihrer Parteien sind, hat sich in erheblichem Maße die Übernahme der amerikanischen Form medialer Politik eingespielt, so daß im Hinblick auf die Traditionen der Linken Mitte besonders jedoch auf die Traditionen der Arbeiterbewegung in kennzeichnendem Ausmaß in der Praxis ein Stil personenbezogener professioneller Politikinszenierung herausgebildet hat.

Die Schlagworte, mit denen sich dieser Versuch der Neuorientierung insbesondere der öffentlichen Aufmerksamkeit versichert und Kontroversen im linken Lager ausgelöst hat, sind vor allem die Interpretation der ökonomischen Globalisierung als hartem, im Prinzip unbeeinflußbaren Datum, die Förderung radikalisierter Formen der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die Vorstellung, der Sozialstaat müsse sich im wesentlichen auf Qualifizierungshilfen für Arbeitslosgewordene beschränken (Employability), die Absicht der Rückverlagerung der Letztverantwortung auf das Individuum (auch der sozial Schwächeren), die Orientierung an den neuen Mittelschichten sowie die kulturelle Kampagne zur Neubegründung einer an den staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Pflichten orientierten „kulturellen Revolution".

Die Bereitschaft zur Aufnahme liberaler Themen und Akzente zeigt sich deutlich in der Rolle des Weltmarktes als Ausgangspunkt des ganzen Projektes, in der Aufwertung individueller Selbstverantwortung und der auf sie bezogenen Veränderung und Verringerung der Rolle des Sozialstaates, in der Stützung auf die ökonomisch prosperierenden Mittelschichten sowie in der Aufwertung gesellschaftlicher Selbststeuerung gegenüber staatlichem Handeln. Die fortgeltende Bedeutung der sozialdemokratischen Ideen und Traditionen hingegen kommt am nachhaltigsten in der festgehaltenen Bedeutung gesamtstaatlicher Verantwortung, in der Ablehnung bloßer Privatisierungskonzepte zugunsten neuer Formen gesellschaftlicher Politik, im Bestehen auf sozialstaatlichen Garantien sowie in einem Grundwerte Verständnis zur Geltung, das sich bei den meisten Vertretern des Dritten Weges durch einen sozialen Gerechtigkeitsbegriff von der liberalen

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Konkurrenz unterscheidet, der einen wie auch immer leicht verschobenen oder verringerten egalitären Akzent behält.

Die Schlüsselbegriffe der Debatte, Inklusion, Chancen für alle (opportunities for all), employability (Marktgängigkeit), community, neue Balance der Pflichten und Rechte spielen bei allen, die diese Debatte prägen, eine Schlüsselrolle, werden aber im Lichte unterschiedlicher Erfahrungen recht unterschiedlich gefaßt und gefüllt.

Die Diskussion um einen Dritten Weg im Zeitalter der Globalisierung ist sinnvoll und unumgänglich, auch wenn für manche der europäischen sozialdemokratischen Parteien keineswegs alles neu ist, was in dieser Debatte bislang zum Ausdruck gebracht wurde. Deutlich zeichnet sich ab, daß es in der Hauptsache drei Varianten des Dritten Wegs, drei „Dritte Wege" also gibt, die sich in ihrer Grundwerteorientierung, in der Reichweite der Regulierungsmacht des Marktes, in ihrem Verhältnis zur ökonomischen Globalisierung und in ihren Vorstellungen über die Reform des Sozialstaates trotz vieler Übereinstimmungen in den Fragestellungen und in grundlegenden Antwortrichtungen von einander unterscheiden. Die amerikanischen New Democrates um Präsident Clinton haben sich dem Grundwert der Chancengleichheit verschrieben, gehen in ihren Deregulierungsvorstellungen und in der Übertragung der gesellschaftlichen Risiken auf die Individuen am weitesten. Trotz ihrer minimalistischen und teilweise auch lediglich zeitlich befristeten Sozialleistungen, verfolgen sie aber weiterhin das Ziel der staatlichen Gesamtverantwortung für das Schicksal der Einzelnen. New Labour versteht unter sozialer Gerechtigkeit vor allem Inklusion, die Einbeziehung aller Einzelnen in die Chancen, die die Gesellschaft bietet: am Arbeitsmarkt, im gesellschaftliche Zusammenleben und im Bildungssystem. Das Projekt einer Funktionalisierung des Sozialstaates auf Hilfen der Qualifizierung für die Verbesserung der Marktgängikeit der Berufsfähigkeiten des Einzelnen (Employability) reduziert die alte Gleichheitsnorm der sozialdemokratischen Tradition auf ein Angebot zur Teilhabe, ohne eine starke Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit noch für erfüllbar zu halten. Sie will mit ihrer Kulturkampagne für eine generelle Kultur des Unternehmergeistes das Anspruchsniveau der Unterstützungsbdürftigen gegenüber dem Sozialstaat verringern und die Hürden für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt senken. Der Markt tritt in den Vordergrund. Die Bildungsoffensive, die im Mittelpunkt ihrer staatlichen Infrastrukturpolitik steht, zielt auf Erfüllung dieser Grundnormen

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der Inklusion durch die Verbesserung der Marktchancen des Einzelnen.

Viele der europäischen Sozialdemokratien erproben seit längerem neue Modelle der Sozialstaatsorganisation, der Veränderung des Staatshandelns und der Verstärkung der politischen Selbstregulierung der Gesellschaft. Im Hauptstrom der kontinentaleuropäischen Sozialdemokratie zeichnet sich in der bisherigen Praxis innovativer Regierungspolitik aber auch in dem, was die sozialdemokratischen Parteien an Kurskorrektur zu unterstützen bereit sind, eine andere Variante des Dritten Weges ab. Zwar finden die Gedanken einer neuen politischen Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft, einer Stärkung der politischen Selbstregulierung der Gesellschaft, einer Korrektur des Sozialstaates für zielgenaue Handlungsformen und einem stärkeren Druck und verbesserte Anreize für Sozialhilfeempfänger zur Wiederaufnahme der Berufstätigkeit sowie eine stärkere Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in vielen europäischen sozialdemokratischen Parteien Anklang.

Die niederländische, die skandinavische, die französische und, so wie es bisher aussieht, auch die deutsche Sozialdemokratie sind sich aber stärker der Notwendigkeit bewußt, soziale Sicherheit als Bürgerrecht zur symbolisch und real unantastbaren Grundlage aller Bestrebungen zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und Ökonomisierung von sozialen Beziehungen zu machen. Ihre Vorstellungen ökonomischer Regulierungen durch den demokratischen Staat sind deutlicher ausgeprägt. Sie erstreben eine Verbesserung der transnationalen politischen Regulierung der Märkte im Rahmen der Europäischen Union, darüber hinaus aber auch verstärkt in der globalen Arena. Wenn es auch richtig ist, daß die politische Kultur in den individualistischen Dienstleistungsgesellschaften der Gegenwart durch politische und gesellschaftliche Initiativen wieder stärker zu einer Kultur der praktizierten Solidarität, der gesellschaftlichen und individuellen Eigenverantwortung und des praktischen Bewußtseins der Bürgerpflichten werden muß, so werden die unterschiedlichen politischen Kulturen in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in den kontinentaleuropäischen Ländern und auch in den Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften Asiens durchaus auch den Rahmen abstecken, innerhalb dessen Flexibilisierung und Eigenverantwortung, gesellschaftliche Politik und Marktregulierung zur Lösung der anstehenden Probleme ausgeweitet werden können.

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Für die Unterscheidbarkeit der sozialdemokratischen Parteien als grundwerteorientierten Mitte-Links Parteien in den einzelnen Ländern, ebenso wie für ihre Verantwortung für die soziale Integration ihrer Gesellschaften bleiben aber, so denke ich, zwei Zielsetzungen maßgeblich. Die erste besteht darin, eine Idee der sozialen Gerechtigkeit zu verkörpern und praktisch zu verfechten, die die soziale Integration der Gesellschaft über alle Marktmechanismen hinaus sichern kann. Wir sollten auch die Hauptlektion ihrer Geschichte nicht vergessen, daß dafür soziale, und in unserer Zeit ebenso ökologische Rahmensetzungen für die Wirtschaft unerläßlich sind. Die zweite Zielsetzung: Auch wenn heute schwer vorstellbar ist, daß in absehbarer Zeit eine Entsprechung für die politische Rahmensetzung gefunden werden könnte, die die Sozialdemokratie im ersten Jahrhundert ihrer Geschichte in den meisten Nationalstaaten erkämpfen konnte, wäre es fatal und eine unnötige Konzession an den Liberalismus, Verbesserung der politischen Regulierung auf transnationaler und zunehmend auch globaler Ebene von vornherein für ein aussichtsloses Projekt zu halten. Auf der Ebene der transnationalen Zivilgesellschaft, der Verbesserung der Funktionsfähigkeit, regionaler und globaler Institutionen sowie der Schaffung neuer Instrumente der politischen Handlungskoordination öffnet sich auch für eine Politik des Dritten Weges die Chance der Rückgewinnung politischer Gestaltungsmacht über die globalisierten Märkte.

In den bisherigen Diskussionen um den dritten Weg ist die emanzipatorische Dimension zu kurz gekommen, ohne die sozialdemokratische Politik nicht vorstellbar ist. Sie könnte u.a. durch eine stärkere Aufnahme der Impulse des Kommunitarismus sowie die Einbeziehung des Demokratisierungsgedankens gestärkt werden. Die überlebenswichtige ökologische Dimension erscheint in vielen Debatten zum Dritten Weg eher als eine Pflichtübung denn als eine ernsthafte Bedingung der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung. Und vor allem was immer an Tributen an Markt- und Eigenverantwortung, Deregulierung und Flexibilisierung aus den Debatten um den Dritten Weg hervorgehen mag, das Ziel der Sozialdemokratie, das sie auf allen Varianten des Dritten Weges verfolgen sollte, kann und soll das der sozialen Demokratie bleiben, eine Gesellschaft der Bürgerbeteiligung, der sozialen Gerechtigkeit und der Zivilität.

Die Diskussion darüber, wie diesen Zielen im Übergang zum 21. Jahrhundert am besten gedient werden kann, kommt neu in Gang.

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Charakteristisch für die neue Debatte ist ihre Transnationalität. Der Glaube oder gar die Anmaßung, den allein selig machenden Weg zu haben und die Motive derer anzuzweifeln, die andere Wege suchen, ist dieser neuen Debatte von vornherein fremd. Sie ist offenbar zutiefst eine nachdogmatische Debatte der Linken par excellence: ohne Gewißheitsansprüche, ohne Patentrezepte, eher ein erfahrungsorientiertes, offenes Suchen - wenngleich auf der Basis von Grundwerten und praktischen Orientierungen. Dazu gehört die Bereitschaft von anderen zu lernen, die Erfahrungen und Ideen der anderen neugierig und ernsthaft in Betracht zu ziehen, also echter Pragmatismus. Wir haben dem Rechnung getragen und wollen mit profilierten Vertretern sozialdemokratischer Projekt-Diskussion uns den Fragen nähern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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