ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ronny Heidenreich, Aufruhr hinter Gittern. Das „Gelbe Elend“ im Herbst 1989 (Zeitfenster. Beiträge der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Zeitgeschichte, Bd. 6), Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009, 158 S., brosch., 19,00 €.

Die Erforschung der Revolution von 1989 in der DDR hat in den letzten Jahren größere Kenntnisse und Erkenntnisse erbracht. (1) Allerdings liegen bislang kaum wissenschaftliche Studien vor, die regionalhistorischen oder komparatistischen Ansätzen verpflichtet sind. (2) Gerade auf diesen Feldern haben wir es im ersten Fall meist mit ‚Materialschlachten‘, im zweiten überwiegend mit Arbeiten zu tun, die zwischen zwei Buchdeckeln verschiedene historische Räume und Zeiten behandeln, aber bislang nur sehr selten wirklich zur vergleichenden Analyse vorstießen. (3) Aber auch viele thematische Sektoren sind bislang eher essayistisch oder in Form von Erinnerungen denn als Gegenstand wissenschaftlicher Analysen behandelt worden. Dazu gehören zum Beispiel die konkreten Vorgänge in den Betrieben und in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften 1989/90, die vielfältigen Eigeninitiativen zur Gründung kleiner Unternehmen, die konkreten Auswirkungen der Ereignisse auf das ‚Volksbildungssystem‘ oder auch die Ausbreitung gesellschaftlichen Zivilungehorsams im Frühjahr und Sommer 1990 angesichts rechtsfreier, gesetzloser Räume oder einfach nur abwesender staatlicher Autoritäten geschuldeter Umstände. Während über die inneren Prozesse im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sehr viele, im Bereich der Nationalen Volksarmee einige und im Bereich des Ministeriums des Innern (MdI) wenige Untersuchungen vorliegen, so ist der Grenzbereich der Untersuchungshaftanstalten, Jugendwerkhöfe und Gefängnisse - hier finden sich Akteure aus dem MdI, dem MfS, dem SED-Apparat, dem Justizapparat, anderen staatlichen Stellen, aber auch aus dem Verteidigungsministerium („Schwedt“) und dem Volksbildungsministerium (Jugendwerkhöfe) - bislang nur kursorisch behandelt worden. (4) Zu nennen wären vor allem Arbeiten von Leonore Ansorg und Tobias Wunschik. Insofern ist die vorliegende Arbeit von Ronny Heidenreich über das Jahr 1989 in der Strafvollzugsanstalt Bautzen I (Bautzen II stand als Sonderhaftanstalt unter Kuratel des MfS) schon aus diesem Grund hervorzuheben. Mit seiner fundierten und ausgewogenen Darstellung der Ereignisse im „Gelben Elend“ - das alte, aus dem Kaiserreich stammende, damals hochmoderne Gefängnis bestand aus gelben Backsteinen - betritt der Historiker insofern Neuland, als nun erstmals ausführlich und unter Nutzung aller gegenwärtig zur Verfügung stehenden Quellen die Handlungsaktivitäten und Abläufe rekonstruiert und analysiert werden konnten. (5) Mit „Bautzen“ wählte er nicht nur einen Ort, der besonders symbolträchtig für das kommunistische Regime steht (6), das Gefängnis selbst nahm auch bei den DDR-weiten Häftlingsrevolten 1989/90 eine zentrale Rolle ein. (7)

Theoretischer Ausgangspunkt der Untersuchung ist die berühmte Studie „Asyle“ des nordamerikanischen Soziologen Erving Goffman (1922-1982) aus dem Jahr 1961. (8) Dort entwickelt dieser anhand von geschlossenen Einrichtungen eine Theorie totaler Institutionen, in denen die verschiedenen Handlungsträger unabhängig von äußeren Einflüssen eigene Regeln des ‚Zusammenlebens‘ entwickeln und praktizieren. So faszinierend und einleuchtend dies klingt, so wenig ist diese Theorie auf ‚geschlossene Gesellschaftssysteme‘ wirklich anwendbar. In ‚Offenen Gesellschaften‘, anhand derer Goffman seine Überlegungen entwickelte, machen solche zwangsläufig geschlossenen Subkulturen geradezu systemstabilisierenden Sinn, wenn es etwa um das rigide Weg- und Aussperren aus welchen Gründen auch immer geht (womit nicht die Legitimität oder gar menschenrechtliche Legitimation solcher Unterfangen gemeint ist!). Aber die Reichweite dieser Theorie für totalitäre Staatskonzepte scheint eher begrenzt. Selbst Heidenreichs Studie impliziert dies sogar, wenn auch eher unfreiwillig. Denn je mehr er sich dem Herbst/Winter 1989 in seiner Darlegung nähert, je weniger wird Goffman bemüht. Das hat historische Gründe, die letztlich den gewählten theoretischen Bezugsrahmen - auch wenn der Autor anfangs durchweg überzeugende Zitate von Goffman einbaut - insgesamt in Frage stellen.

Aber den theoretischen Ausführungen des Autors kommt ohnehin kein zentraler Stellenwert zu. Sie sind eher Beiwerk, wie man sie in historiografischen Erstlings- und Graduierungsschriften nicht selten findet. Die Stärke der Darstellung liegt in der genauen Rekonstruktion der historischen Abläufe und in der Analyse des inneren Regimes, die auch ohne theoretische Bezüge zu überzeugen vermag.

Obwohl die Quellenlage nicht gerade günstig ist - Zeitzeugen standen kaum für Interviews zur Verfügung (S. 17f.) -, konnte Heidenreich eine dichte Rekonstruktion der Ereignisse erarbeiten. Zunächst identifiziert er die Gefängnisgesellschaft, die aus Wärtern, Häftlingen, Partei, Staat und Stadt in unterschiedlichen Hierarchien und Konturen besteht. Sodann erklärt und beschreibt er einleuchtend und überzeugend vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem Sommer 1989 die Reaktionen hinter den Gefängnismauern. Die große Stärke von Heidenreichs Ansatz besteht darin, jederzeit zwischen Sommer und Weihnachten 1989 die Reaktionen der Häftlinge als Interaktionsergebnis mit den gesellschaftlichen Entwicklungen jenseits der ‚schwedischen Gardinen‘ zu analysieren. So stellen sich Verhaftungs- und Festnahmewellen, Honeckers Rücktritt, Amnestien und daraus folgende Streikbewegungen schon deshalb jeweils aufeinander bezogen dar, weil Heidenreich zeigt, dass die Streikbewegung seit dem 30. November 1989 vielfältige, kleinere Vorformen seit September 1989 und zum Teil bereits zuvor hatte.

Ronny Heidenreichs Studie zeichnet zudem aus, dass er die Häftlingsgesellschaft von Bautzen I nicht idealisiert. Seinen Berechnungen zufolge befanden sich dort sieben Prozent aus politischen Gründen eingesperrte Männer (S. 40). Er deutet aber nicht nur an, dass auch unter den anderen „Politische“ gewesen sein könnten, viel stärker noch führt er ins Feld, dass unabhängig von den Verurteilungsgründen die Haftbedingungen unerträglich waren und deshalb Anlass zu berechtigten Protesten gaben. So stellt diese Spezialstudie nicht nur einen empirisch fundierten Beitrag zur Revolutionsgeschichte von 1989 dar, zugleich hat Heidenreich eine weit darüber hinaus reichende Analyse zu den Haftbedingungen und zu den Häftlingsgesellschaften in DDR-Vollzugsanstalten vorgelegt.

Das Buch enthält durchaus einige Widersprüche und sprachliche Unklarheiten, etwa wenn vom „humanistischen Anspruch“ des Gefängnisses die Rede ist (S. 29), überraschend die Loyalität des MfS gegenüber den Wärtern konstatiert wird (S. 71; überraschend wäre das Gegenteil gewesen), die Forderung „Stasi raus“ in den November 1989 zurückdatiert wird (S. 71; das gab es viel früher) oder der Anteil von Inoffiziellen Mitarbeitern/Zelleninformatoren widersprüchlich bleibt (S. 35 und 74 (9). Einige wenige weitere Beispiele könnten hinzugefügt werden, die aber im Gesamteindruck letztlich Petitessen bleiben.

Ronny Heidenreich hat mit dieser Darstellung einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Repressionsgeschichte, zum Haftalltag und zur Revolution von 1989 geliefert.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin

Fußnoten:


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