ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die 20. Jahrestage der friedlichen Revolution in der DDR haben bereits 2008 den Büchermarkt merklich bereichert. Er wird seit Monaten überschwemmt von Memoirenliteratur, Übersichtsdarstellungen und Detailuntersuchungen, was die Unterscheidung von wirklich Neuem und bereits längst Erforschtem erschwert. Dabei sind gerade Übersichtsdarstellungen durchaus vonnöten, denn in den letzten 19 Jahren sind die Ereignisse der Jahre 1989/90 und ihre Vorgeschichte derart gründlich untersucht worden, dass Zusammenfassungen und resümierende Gesamtdarstellungen hilfreiche Leitlinien markieren können. Wenn hierbei persönliche Erinnerungen in die Darstellung einfließen, kann dies auf vielfache Weise die großen Züge der Geschichte verdeutlichen.

Die drei vorgestellten Bücher stellen die Wende 1989/90 aus unterschiedlichen Blickwinkeln dar und bringen teilweise in unterschiedlich starkem Maße ihre eigene Sicht in die Darstellung ein. Ehrhart Neubert tut dies sporadisch und in sehr dezenter und unaufdringlicher Weise, auch Kowalczuk geht mit persönlichen Reminiszenzen sparsam um, während Segert seinen gesamten Text autobiografisch aufzieht. Dieser Kontrast wirkt umso stärker, als Neubert selbst Teil eines breiten politischen Prozesses war, Kowalczuk als damals 22-Jähriger ein sehr bewusster Zeitzeuge, dessen Blickwinkel dem vieler anderer DDR-Bürger ähnelte, während Segert nur für sich und fünf oder sechs Gesinnungsgenossen stand: Neubert war 1989 Mitbegründer des ,,Demokratischen Aufbruchs" und aktiver Teilnehmer eines die breite Bevölkerung bewegenden Prozesses, Segert versuchte als Wissenschaftler und Hochschulfunktionär an der Humboldt-Universität in Berlin und als überzeugtes SED-Mitglied mit einem Häuflein Gleichgesinnter gegen den Strom zu schwimmen, sowohl gegen den seiner nicht mehr reformfähigen Partei als auch den des revolutionären Sturzes derselben und des Weges zur Wiedervereinigung. Formale Berührungspunkte und inhaltliche sowie politische Gegensätze aller drei Veröffentlichungen reizen zu einer Gegenüberstellung.

Neubert versucht, eine Gesamtdarstellung der Ereignisse des Doppeljahres 1989/90 zu schreiben. Diesem Anspruch wird seine umfassende Studie in vollem Umfang gerecht. Sie beruht auf souveräner Kenntnis der inzwischen schwer überschaubaren Literatur sowie auf archivalischen Recherchen vor allem in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Neubert skizziert mit der Treffsicherheit des Augenzeugen und Teilnehmers, ohne der Gefahr einer Selbstdarstellung zu erliegen und allzu forsch mit subjektiven Wertungen umzugehen. Dabei spart er nicht mit Kritik - an Personen, Parteien, Institutionen, Ideen und ganzen Entwicklungen. Aber diese Kritik streut er in alle Richtungen, ohne einer parteipolitischen Blindheit zu erliegen.

Den Ausgangspunkt seiner Studie bildet eine Zustandsbeschreibung der DDR in der ersten Jahreshälfte 1989: der wirtschaftliche Niedergang der DDR, die wachsende Fluchtbewegung, die öffentlich geleugneten oder schön geredeten vielfältigen Problemfelder sowie der galoppierende Autoritätsverlust des SED-Regimes, der durch die Fälschung der Kommunalwahlen sowie verbale und politische Missgriffe von Staat, Partei und ihren Repräsentanten beschleunigt wurde. Den engeren Rahmen der Ereignisse lässt Neubert mit dem September 1989 beginnen, als sich die wichtigsten oppositionellen Gruppierungen bildeten oder zumindest formierten, die Friedensgebete und Straßendemonstrationen zunahmen, die Kritik an Staat, Partei, Politik, Wirtschaft und Justiz heftiger wurde, während umgekehrt das SED-Regime sich immer starrsinniger und lernunfähiger an sein Selbstbild klammerte, in dem sein eigener Sturz als denkbare historische Option nicht vorgesehen war.

Deutlich macht Neubert, dass es innerhalb der Bürgerbewegungen keine einheitlichen Alternativen zu den politischen Verhältnissen gab. Einig war man sich nur darin, dass sich alles ändern musste, aber in welcher Richtung blieb offen und wurde innerhalb der meisten Gruppen kontrovers diskutiert. Den Höhepunkt der Ereignisse sieht Neubert in der ersten Oktoberhälfte: die unveränderte Problematik der Fluchtwilligen, weitere Gründungen oppositioneller Gruppen, vor allem der Sozialdemokratischen Partei, die Protestaktionen um den 7. Oktober und die entscheidende Demonstration am 9. Oktober in Leipzig, mit der die Mobilisierung ihren Höhepunkt erreichte und das Zurückweichen des Regimes erkennbar wurde. Die Studie beschränkt sich dabei nicht nur auf die Zentren Ost-Berlin, Leipzig und Dresden. Eine chronologisch-synoptische Darstellung der Oktober-Ereignisse, die auch viele kleinere Orte vor allem im Süden der DDR erfasst, lässt die Dramatik der Ereignisse noch einmal aufleben. Sie zählt Demonstrationen, Streiks, öffentliche Proteste, Verweigerungsakte und andere Unmutsbekundungen auf, die dem zeitgenössischen Beobachter weitgehend entgingen. Die Chronik dieser Ereignisse stellt zweifellos den interessantesten und dramatischsten Teil der Gesamtstudie dar. Vollkommen richtig erkennt Neubert auch, dass die Massendemonstration am 4. November in Berlin, an die die neue SED-Führung unter Egon Krenz noch Hoffnungen an eine Wiederherstellung ihrer Autorität geknüpft hatte, ein klares Votum gegen die Partei war. An dieser Stelle wäre übrigens eine etwas ausführlichere Untersuchung der Selbstblockade der Parteiführung in den Oktober/November-Wochen angebracht; hier reicht die Darstellung (unter der Überschrift ,,,Die Partei` in Verwirrung") nicht aus.

Die folgenden Kapitel schildern den Erosionsprozess der SED-Herrschaft und die vergeblichen Versuche der wechselnden Staats- und Parteiführung(en) (Krenz, Modrow, Gysi), verlorenes Terrain zurückzugewinnen, sowie die neuen deutschlandpolitischen Perspektiven, die sich seit der Maueröffnung boten. Neubert untersucht die ,,Runden Tische", mit denen die revolutionären Errungenschaften institutionalisiert wurden, und die Versuche Modrows und Gysis, an diesen vorbei die letzten Bastionen der SED zu retten, was im Januar 1990 eine erneute Welle von Demonstrationen auslöste. Ein zentrales Thema dieser Auseinandersetzungen bildete die Auflösung der Stasi beziehungsweise ihrer Nachfolgeorganisation und die Kontrolle über ihre Akten.

Die Studie schildert die Entstehung einer neuen Zivilgesellschaft mit zahlreichen (nicht nur) politischen Vereinigungen und Ansätzen zu einer unabhängigen Medienlandschaft, den Rückzug der alten Parteieliten und die Umorientierung von Eliten in Wissenschaft und Kultur. Neubert, der selbst aus der Kirche kam, verschweigt nicht, dass dieser Prozess auch in der Kirche nicht immer leicht vonstattenging. Er weist zu Recht darauf hin, dass gerade viele führende Akteure der Bürgerbewegungen, deren Mut und Einsatz die Wende angestoßen hatten, inzwischen selbst den Kontakt zur Bevölkerung verloren hatten. Manche von ihnen träumten noch von einem reformierten Sozialismus und einer erneuerten DDR, als die Menschen längst ,,Deutschland einig Vaterland" riefen. Die ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 lieferten hierfür den Beweis.

Die letzten beiden Kapitel untersuchen die kurze Geschichte einer ,,demokratischen DDR", deren Handlungsspielraum bereits durch die von der CDU/CSU-FDP-geführten Bundesregierung, aber auch von der SPD-Spitze zügig vorangetriebenen Einigungspolitik bestimmt wurde. Obwohl Regierung und Volkskammer ,,auf Abruf" existierten, haben beide im letzten halben Jahr der DDR intensiv (auf)gearbeitet, Gesetze vorbereitet und verabschiedet, Missstände aus der SED-Zeit behoben und vieles in Bewegung gesetzt und dabei auch (mit unterschiedlichem Erfolg) die Interessen der DDR-Bürger in die Verhandlungen mit Bonn eingebracht. Die Revolution - so Neubert - mündete ein in die deutsche Wiedervereinigung und wurde insofern nicht vollendet, als man nicht sagen kann, wie sie sich in einer selbstständigen DDR weiter entwickelt hätte. Ob die junge Demokratie angesichts ihrer katastrophalen wirtschaftlichen Lage und der noch bestehenden ehemaligen SED- und Stasi-Strukturen Bestand gehabt hätte, muss unbeantwortet bleiben, da die deutsche Einheit sie dieser Prüfung nicht ausgesetzt hat.

Neuberts Studie ist zweifellos ein Standardwerk, das den Rahmen der Geschehnisse in allen ihren Facetten ausleuchtet und in einen flüssigen und zudem spannenden Text gegossen hat. Das lesenswerte Buch ist allen zu empfehlen, die die Hintergründe der Ereignisse 1989/90 verstehen und ihre Dramatik noch einmal nacherleben wollen.

Ähnliches gilt auch für die noch voluminösere Darstellung von Ilko-Sascha Kowalczuk. Auch sie dürfte in der Zukunft den Rang eines Standardwerks für die Revolution von 1989 einnehmen, dem allenfalls noch ergänzende, seltener wohl korrigierende Studien nachfolgen werden. Thematisch ähnlich ausgerichtet wie Neuberts Studie, wählt sie doch einen anderen Ansatz. Wo Neubert die Akteure der Geschichte - also das SED-Regime in seinen vielfältigen Facetten, die Bürgerbewegungen und nicht zuletzt ,,das Volk" - in den Vordergrund stellt, blickt Kowalczuk im Wesentlichen auf die Strukturen und greift zeitlich weiter zurück. Er untersucht zunächst die Rahmenbedingungen, unter denen sich das SED-Regime hielt, die ,,Bindungskräfte", mit denen auch nicht-kommunistische Personenkreise an das System gebunden wurden: die beanspruchte historische Legitimation aus den Ergebnissen von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg, ideologische Bindungskräfte wie die Rhetorik des Antifaschismus, dosierte Konzessionen an Konsumwünsche und nicht zuletzt die Verheißungen einer vollkommenen Zukunftsgesellschaft, deren Charme auch parteifremde Personen und Gruppen aus den Bürgerbewegungen erlagen.

Kowalczuk beschreibt in einem umfangreichen Kapitel, das fast die Hälfte des Buches ausmacht, den Zerfall dieser Bindungskräfte. Mit Nachdruck weist er immer wieder darauf hin, welchen unfreiwilligen Beitrag zu dieser Entwicklung die Regierung Gorbatschow in der Sowjetunion leistete. Weit davon entfernt, eine demokratische Gesellschaft anzustreben, wollte er nur das marode Sowjetsystem durch stärkere Offenheit und Partizipation weiterer Bevölkerungskreise reanimieren, ohne rechtzeitig zu ahnen, dass er damit die Fundamente seines eigenen Systems zerstörte. Gorbatschow wurde aber für zahlreiche DDR-Bürger zur unfreiwilligen Projektionsfigur für Veränderungen ganz anderer Art. Dass die Schutzmacht des SED-Regimes damit ihren Schützling vor der eigenen Bevölkerung desavouierte, gehörte zu den besonderen Pikanterien dieser Entwicklung.

Kowalczuk geht auf die sich verschlechternden Lebensbedingungen ein, auf die Rolle der Jugendkulturen in einem Staat mit vergreister Führungsspitze, die teilweise subversive Rolle von Literatur und Theater in einer weitgehend reglementierten Öffentlichkeit, die Fixierung und Orientierung auf die Bundesrepublik und das komplexe Thema ,,Kirche im Sozialismus". War diese keineswegs ein direkter Gegenpol zur SED-beherrschten Öffentlichkeit, zumal manche ihrer Vertreter notgedrungen oder in vorauseilender Unterwerfung dem Regime Konzessionen machten oder sogar mit der Stasi zusammenarbeiteten, so war sie doch die einzige nicht-kommunistische Großorganisation, die manche Freiräume bot und durch ihre internationalen ökumenischen Verbindungen eine gewisse schützende Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit genoss. Im Schatten der Kirche gediehen daher zahlreiche oppositionelle Gruppierungen, auf deren Entwicklung der Verfasser ausführlich eingeht.

Im zweiten Kapitel untersucht Kowalczuk die Ereignisse, auf die das SED-Regime mit selbstzerstörerischer Lernpathologie nicht oder falsch reagierte und somit die sich eskalierenden Demonstrationen im Herbst 1989 provozierte. Einen wichtigen Stellenwert nehmen hierbei die gefälschten Wahlergebnisse vom Mai 1989 ein, mit denen die Partei sich ebenso sehr einen Bärendienst erwies wie durch öffentlich gezeigte Solidarität mit dem Regime in Peking oder mit Ceausescu in Rumänien. Während bereits in Polen und Ungarn die kommunistischen Regime in Raten abtraten, schuf sich das SED-Regime immer mehr Gegner und merkte dabei nicht, dass jede mühsam abgerungene Konzession keine Beruhigung brachte, sondern weitere Forderungen auslöste. Nachdem sich im Spätsommer und Herbst mehrere oppositionelle Gruppierungen und Parteien konstituiert hatten, befand sich die DDR Anfang Oktober 1989 bereits im Aufruhr. Die letzte Etappe dieser Entwicklung sieht Kowalczuk im 40. Jahrestag der DDR, die zwei Tage später in Leipzig ihren Höhepunkt und zugleich die Entscheidung brachte. Das SED-Regime war längst auf der schiefen Ebene angelangt, auf der es nur noch tiefer rutschen konnte. Es ist ein großes Verdienst des Buches, das Interesse an den dramatischen Ereignissen nicht nur auf Ost-Berlin, Leipzig, Dresden und andere größere Städte zu lenken, sondern auch auf eher marginale Kleinstädte wie Plauen im Vogtland. Auf den dort einsetzenden Demonstrationen wurde teilweise lange vor den großen Städten nicht nur eine massive SED-Gegnerschaft manifestiert, sondern auch die Frage der Wiedervereinigung thematisiert.

Im dritten Kapitel geht Kowalczuk auf die zunehmende Selbstdemontage der Führungsspitze ein. Hatten einige Politbüro-Mitglieder gehofft, mit der Absetzung Erich Honeckers und seiner nächsten Paladine ein Bauernopfer zu bringen und damit die Autorität der Partei wiederherzustellen, so irrten sie sich und setzten die Suche nach weiteren Sündenböcken fort. Das Bekanntwerden von Willkürakten, Korruption und anderen Missetaten führte dazu, dass Gremien und Institutionen der Partei sich in zunehmendem Maße gegenseitig bezichtigten und damit öffentlich delegitimierten. Einer der letzten Sündenböcke war die Stasi, ,,Schild und Schwert der Partei", die im Winter 1989/90 immer stärker ins Visier der Öffentlichkeit rückte und von der sich die angeschlagene Partei immer mehr absetzte, um selbst aus dem Schussfeld zu kommen. Damit aber lähmte sie den Apparat, auf dessen Funktionsfähigkeit sie ihre Herrschaft zu wesentlichen Teilen stützte. Die öffentlichen Proteste gegen das weitere Wirken der Stasi und ihrer Nachfolgeorganisationen und Befürchtungen vor ihrer Rückkehr hielten die revolutionäre Stimmung am Leben. An ihr scheiterten die Versuche von Honeckers Nachfolger Egon Krenz und später von Gysi/Modrow, die Herrschaft der SED zu restaurieren. Wie Neubert, sieht auch Kowalczuk die ersten freien Wahlen der DDR am 18. März 1990 als Ende der Revolution an.

In einem Schlusswort geht der Verfasser auf die Frage ein, ob die Ereignisse von 1989/90 nun eine Revolution waren oder nicht. Durch einen Vergleich mit anderen Revolutionen kommt er mit überzeugenden Argumenten zum Ergebnis, dass am revolutionären Charakter der Ereignisse kein Zweifel möglich sei. Es ist ein marxistischer Irrtum zu glauben, dass Revolutionen immer die Ablösung einer Klasse durch die nächste bezwecke und sich an utopischen Zielen orientiere. Kowalczuks Bitterkeit ist daher verständlich, wenn (meist westdeutsche) Historiker den Revolutionscharakter jener Ereignisse in Frage stellen und eine bloße Konsumorientierung der Bevölkerung als wichtigstes Motiv für den gesamtgesellschaftlichen Aufbruch ausmachen. Damit wird die Tragweite der Umwälzung verkannt und das Engagement und auch das Leiden zahlreicher Menschen entwertet. Kowalczuk nennt als Beispiel eine Entgleisung des damals grünen Politikers Otto Schily. Man könnte weitere Personen hinzufügen, die nach 20 Jahren immer noch nicht die Verhältnisse im SED-Staat und die Entwicklung zu dessen Ende begriffen haben. Dem könnte die Lektüre von Kowalczuks faszinierender, übrigens auch sprachlich glänzend geschriebener Studie abhelfen. Diesem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Vollkommen anders als die Arbeiten von Neubert und Kowalczuk ist Dieter Segerts Buch. Es hat es sich zum Ziel gesetzt, den Blick auf ein wenig beachtetes Thema zu lenken: die Bemühungen reformorientierter SED-Kreise an der Humboldt-Universität, im Herbst 1989 und im Jahre 1990 die Entwicklung der DDR mitzugestalten. Ziel ihrer Bemühungen war es, Staat, Gesellschaft und Hochschule zu demokratisieren, aber auch die SED zu reformieren und die DDR als eigenständigen Staat zu erhalten. Das Gesamtmanuskript entstammt offensichtlich verschiedenen autobiografischen Entwürfen des Verfassers und ist nicht aus einem Guss geschrieben. Während sich der erste Teil des Buches auf die Aktivitäten der SED-Reformkreise im Herbst konzentriert, enthält der zweite Teil Reminiszenzen aus davor liegenden Zeiten sowie Berichte und Reflexionen über den nach Ansicht des Autors strukturell gescheiterten deutschen Einigungsprozess sowie über das aus seiner Sicht problematische Zusammenwachsen Ost- und Westeuropas im Zuge der europäischen Integration.

Segerts Buch ist kein streng wissenschaftliches; es vermengt persönliche Erlebnisse mit historischer Darstellung. Das ist kein Nachteil, weil auf diese Weise Geschichte aus der Sicht eines Zeitzeugen konkret erkennbar und greifbar wird. Man könnte es also nach der Lektüre befriedigt aus der Hand legen mit der Erkenntnis, dass es diese Geschichte auch gegeben habe, wenngleich sie ohne politische Folgen geblieben sei. Bei näherem Hinsehen fallen jedoch Einzelheiten auf, die zu weiteren Nachfragen anregen. Zunächst muss man sich bewusst machen, dass der Personenkreis, dessen Aktivitäten Segert hier beschreibt, ein winziger Kreis von Dozenten, Forschern und Funktionären an der Humboldt-Universität war. Überregionale Bezüge oder der Blick auf die übrige Bevölkerung fehlen weitgehend. Segerts enge Welt sind Grundorganisation, SED-Kreisaktiv und Abteilungsparteiorganisation mit allen ihren Arbeitsausschüssen, Delegiertentagungen, Bereichssitzungen, Schulungsabenden und Parteileitungskonferenzen: die SED als Kosmos, außerhalb dessen es keine Wirklichkeit mehr gab. Man fragt sich, ob die hier beschriebenen Pläne, Entwürfe, Diskussionen und Resolutionen nicht viel mehr als ein Sturm im Wasserglas waren, zumindest im Vergleich mit den weltpolitisch maßgeblichen Entwicklungen in der gesamten kommunistischen Staatenwelt Europas unter Einschluss der DDR. Selbst wenn man das Scheitern der beschriebenen Aktivitäten außer Acht lässt, beschreibt der Verfasser Vorgänge, die allenfalls einer Fußnote wert wären. Ehrlicherweise gibt der Verfasser diese Blickverengung zu (S. 75), thematisiert sie aber in seinen Gedankengängen nur andeutungsweise und hinterfragt sie nicht.

So erkennt er nicht, dass die Reformbemühungen dieser kleinen intellektuellen SED-Zirkel im Herbst 1989 einsetzten, als die Staatspartei längst abgewirtschaftet hatte und die immer lautstärkeren Demonstrationen (,,Wir sind das Volk!") ihr jede Legitimation absprachen. Dass es seit den späten 1970er Jahren in der DDR Friedens- und Umweltgruppen, später auch Menschenrechtsgruppen gab, die durch ihre Vernetzung eine wachsende alternative politische Öffentlichkeit schufen, muss Segert entgangen sein. Nachträglich bedauert er nur, dass er und seine Partner nur systemimmanent dachten und planten und den Kontakt zu anderen als Parteikreisen nicht suchten (S. 65).

Die jahrzehntelange Unterdrückung durch SED, Staatsapparat und vor allem Stasi ist ihm bis zum Jahre 1989 offensichtlich unbekannt geblieben, und was er in Gesprächen mit Bürgerrechtlern im Winter 1989/90 über deren Leidenswege peinlich berührt anhören muss (S. 122), regt ihn auch nicht zu weiteren Nachfragen an. Wie er schreibt, habe er sich vor der Stasi niemals gefürchtet, weil er sich dem System zugehörig gefühlt habe (S. 237). Dass die Stasi auf der Bevölkerung wie ein Alpdruck lastete, teilweise mit Gewalt und Terror arbeitete, ging ihm bis 1989 offensichtlich nicht auf, so dass er noch im Herbst und Winter 1989/90 an deren Erhaltung dachte (S. 245). Die lange und teilweise blutige Geschichte der Willkürjustiz in der DDR wird bei ihm an keiner Stelle erwähnt. Man fragt sich, in welcher Wirklichkeit Segert gelebt hat. Hier sei ihm das gründliche Studium der inzwischen umfassenden Literatur zur weitgehend erforschten DDR-Geschichte und vor allem der anderen beiden hier besprochenen Bücher empfohlen.

Das Buch ist aber mit Blick auf eine andere Fragestellung als der des Verfassers interessant: Gemeint ist der soziale Autismus als typisches Phänomen einer Nischengesellschaft, wie es die DDR war. Man lebte in seinem Milieu, die Lebenswelten anderer - zumal kritisch oder oppositionell eingestellter Personenkreise - gab es nicht. Nur durch die dadurch verursachte mentale Isolation ist es zu erklären, dass der hier beschriebene Kreis von parteiinternen Akteuren noch im Herbst 1989 an eine Reform der wirtschaftlich zusammengebrochenen und politisch endgültig diskreditierten SED-Herrschaft denken konnte. Daher auch der Fehlschluss, dass im Herbst 1989 ein paar Reformer in der von galoppierender Schwindsucht befallenen SED auch das Volk gewesen seien, eine Annahme, die schon auf der - von Segert gründlich missverstandenen - Berliner Demonstration am 4. November 1989 korrigiert wurde.

Durch den engen Blickwinkel der DDR-Nostalgie gehen auch manche Einschätzungen und Urteile über die Demokratisierung der DDR und den Prozess der deutschen Einigung in die Irre. Es ist sicher richtig, dass im Verlauf der deutschen Einigung mancher Fehlgriff getan wurde. Hochschulkommissionen evaluierten beispielsweise Leistung und Bedeutung mancher DDR-Wissenschaftler nicht immer mit Sachkenntnis, Takt und Fingerspitzengefühl und verursachten in einigen Fällen auch unzweifelhaft Unrecht. Aber diese ,,Opfer" einer vielleicht übereilten und wenig sensiblen Personalpolitik fielen in relativ weiche Kissen; die ,,Säuberungen" des SED-Regimes in Verwaltung, Hochschule und anderen öffentlichen Bereichen waren - vor allem in der Frühphase der DDR - von wesentlich härterer Gangart. Der nach der Wiedervereinigung einsetzende Zusammenbruch der ehemaligen DDR-Wirtschaft mit Massenarbeitslosigkeit im Gefolge (S. 256) ist nicht der deutschen Einheit anzulasten, die weder den Wegfall der bisherigen Zielländer von DDR-Exporten noch die mangelnde Weltmarktfähigkeit ostdeutscher Betriebe verursacht hat. Vielmehr hat die deutsche Einheit die schlimmsten Notlagen abgefedert.

Unverständlich ist die Larmoyanz über die angebliche Zurückstellung der ostdeutschen Bevölkerung. Dass ,,Ossis" anfangs im öffentlichen Leben prozentual in geringerem Maße vertreten waren, hat mit ihrer unterschiedlichen Sozialisationsgeschichte zu tun. Aber diese Unterschiede verwischen sich täglich mehr. Es ist richtig, dass Bürger der neuen Bundesländer gelegentlich zurückhaltender sind und weniger aggressiv ihre Interessen vertreten. Aber dies liegt nicht an der Dominanz der ,,Wessis", sondern - wie der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz überzeugend untersucht hat - an jahrzehntelanger DDR-Erziehung zu Subalternität, unkritischer Staatsfrömmigkeit und Unterwürfigkeit, aus der sich die Bevölkerung mit der Parole ,,Wir sind das Volk!" 1989 in einer unblutigen Revolution schließlich zu befreien verstand. Und dass manche ehemalige DDR-Bürger nachträglich eine ostdeutsche Identität zu entdecken glauben, dürfte in vielen Fällen mit der Überfülle von neuen Eindrücken in Folge der veränderten Lebensumstände zusammenhängen. Ähnliche Phänomene kann man nach allen einschneidenden Umbrüchen der deutschen Geschichte (1918, 1933, 1945, 1961) beobachten, wo Menschen durch den Verlust ihrer vertrauten Lebenswelt sich rückwärts blickend an Vergangenes klammerten. Die ,,Ostalgie", deren Vertreter Segert zweifellos ist, hat hierin ihre Wurzeln.

Schließlich behauptet der Verfasser, dass die deutsche Einheit Traditionen und damit das Selbstbewusstsein der Menschen zerstört habe (S. 268ff.). Als ob nicht gerade das SED-Regime volkstümliche, regionale, lokale, christliche und andere Traditionen unterdrückt und Verbindungen zur Vergangenheit gekappt hätte. Regionen wie Vorpommern wurde der eigene Name verboten, Chemnitz und andere Städte sowie traditionsreiche Straßen und Plätze wurden allerorten umbenannt und historisch wertvolle Stadtbilder und Bauwerke wurden Opfer eines beispiellosen kulturgeschichtlichen Vandalismus. Und die ,,Würde" derer, die nach 1945 beziehungsweise 1949 ihr ,,Glück" im Aufbau der DDR fanden (S. 272), womit er nur die Generation der Altstalinisten meinen kann, verblasst vor der Würde derer, die unter dem SED-Regime gelitten und dennoch niemals ihre Hoffnung aufgegeben hatten, eines Tages das Glück zu erleben, den DDR-Staat zugunsten der deutschen Einheit verschwinden zu sehen.

Patrik von zur Mühlen, Bonn


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