ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Joachim Windmüller, Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren... ,,Asoziale" in der DDR (Rechtshistorische Reihe, Bd. 335), Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main etc. 2006, 448 S., kart., 68,00 €.

Unter der pejorativen Bezeichnung ,,Asoziale" verstanden die zuständigen deutschen Behörden seit jeher Personen, die am Rande der Gesellschaft lebten, ohne feste Arbeit waren, ihren Lebensunterhalt durch Bettelei und Prostitution bestritten, der Trunksucht verfielen, als ,,arbeitsscheu" galten oder obdachlos als Wanderer umherzogen. Dieser Personenkreis war in der Regel nicht kriminell, bewegte sich aber in einer Grauzone zwischen fürsorgerischen Maßnahmen und strafrechtlicher Verfolgung. Zu den repressiven Mitteln, die man zur Bekämpfung der ,,Asozialität" einsetzte, gehörte beispielsweise die Unterbringung in einem Arbeitshaus preußischer Prägung, in dem die Insassen harter Arbeit sowie strenger Zucht und Ordnung unterworfen wurden, um sie zu guten Staatsbürgern zu erziehen.

In der Weimarer Republik schuf man ein reichsweit einheitliches Fürsorgerecht, das für ,,asoziale" Personen deutlich reduzierte Unterstützungssätze vorsah. (1) Von Seiten der Fürsorgekreise, den politischen Parteien und großen Teilen der Frauenbewegung wurde zudem nachhaltig auf die Schaffung eines ,,Bewahrungsgesetzes" gedrängt, das eine Handhabe zur unbefristeten Zwangseinweisung ,,asozialer" Personen in Fürsorgeanstalten bieten sollte. (2) Im Nationalsozialismus wurde der avisierte Personenkreises nicht nur beträchtlich ausgeweitet, sondern die Verfolgung mit brutalen Mitten drastisch gesteigert und bis zur physischen Vernichtung der Menschen pervertiert. (3)

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Westdeutschland die Pläne zur Einführung eines Bewahrungsgesetzes für ,,asoziale" Personen wieder auf. Entsprechende Formulierungen flossen in das Bundessozialhilfegesetz von 1961 ein (§ 73 Abs. 2 und 3 BSHG), wurden aber 1967 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und 1969 endgültig aus dem Fürsorgerecht der Bundesrepublik gestrichen. (4) Welchen Weg der ,,Asozialenpolitik" der östliche Teil Deutschlands nach 1945 beschritt, war lange Zeit kaum beachtet worden, bis 2005 eine umfangreiche Studie von Sven Korzilius das Thema auf breiter Quellenbasis beleuchtete. (5) Der gleichen Materie wendet sich der Jurist Joachim Windmüller in der hier zu besprechenden rechtshistorischen Dissertation zu, die ohne Kenntnis der Parallelarbeit von Korzilius verfasst wurde.

Nach einem einführenden Teil, der sich mit Forschungsstand, Quellenlage und einem Exkurs über ,,Asoziale" im ,,Dritten Reich" befasst, gliedert sich die Untersuchung in vier chronologisch aufgebaute Hauptkapitel. Das erste dieser Hauptkapitel behandelt den Zeitraum von 1945 bis 1961 als Einheit, ohne das Ende der Sowjetischen Besatzungszone 1949 als Zäsur zu begreifen. Windmüller geht hier auf Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin, zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten sowie auf repressive Elemente der Sozialfürsorge ein. In erster Linie erfolgte eine Fortsetzung der strafrechtlichen Tradition in Gestalt von Strafgesetzbuch und Arbeitshausmaßregel, die ungeachtet ihrer ,,reaktionären" Provenienz auch im Sozialismus Gültigkeit behielten. Als neue Typen der Anstaltsunterbringung wurden in der DDR seit den Fünfzigerjahren so genannte ,,Heime für soziale Betreuung" und ,,Sozialheime" deklariert, die sich jedoch eng an die Arbeitshäuser der Vergangenheit anlehnten, also primär auf Disziplinierung und Arbeitserziehung der eingewiesenen ,,Asozialen" abstellten.

Der zweite Hauptabschnitt reicht vom Mauerbau 1961 bis zum Inkrafttreten des neuen ,,sozialistischen" Strafgesetzbuchs 1968. Im Zentrum steht die ,,Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung", die vom SED-Regime unmittelbar nach der Grenzabriegelung am 24. August 1961 erlassen wurde und eine nahezu unbeschränkte Handhabe dafür bot, alle Widerstände gegen die staatliche Ordnung sofort zu unterbinden. Haftlager wurden eingerichtet und eine unbefristete Internierungsdauer für ,renitente' Personen ermöglicht, so dass die Repression deutlich zunahm. Breiten Raum nehmen in dem Kapitel zudem die Initiativen der verschiedenen DDR-Ministerien und sonstigen Gremien zur Weiterentwicklung der Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung ein, die aufs Ganze gesehen jedoch wenig messbare Resultate zeitigten.

Der dritte Hauptabschnitt analysiert vorrangig das neue Strafgesetzbuch von 1968, das die Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung außer Kraft setzte, sowie die Politik der Siebzigerjahre. Als neues Instrument der ,,Asozialenbekämpfung" griff die Regierung der DDR nun auf § 249 StGB-DDR zurück, der flexibel eingesetzt und auch gegen politisch unangepasste Personen instrumentalisiert werden konnte. Dass es unter dem neuen SED-Chef Honecker keineswegs zu einer Lockerung des Verfolgungs- und Disziplinierungsdrucks kam, belegten die X. Weltjugendfestspiele im Sommer 1973 in Ostberlin, wo die Staatsführung zuvor eine Verhaftungswelle gegen missliebige Personen angeordnet hatte, um der Weltöffentlichkeit eine mustergültige sozialistische Republik präsentieren zu können.

Der letzte Hauptteil der Studie nimmt die Periode vom 3. Strafrechtsänderungsgesetz 1979 bis zum Ende der DDR in den Blick. Neben kleineren Korrekturen im Hinblick auf den berüchtigten § 249 StGB legten Regierung und Behörden jetzt zunehmend das Augenmerk auf ,,gefährdete" Kinder und Jugendlich sowie ,,Asoziale" mit psychischen Problemen. Auch wenn vermehrt sozialtherapeutische Ansätze - beispielsweise durch die Einrichtung von speziellen Arbeitsbrigaden - verfolgt wurden, änderte sich an der obrigkeitsstaatlichen Behandlung von devianten Personen in der DDR nichts Entscheidendes.

Da die Dissertationen von Korzilius und Windmüller derselben Fragestellung vornehmlich anhand der zentralen Überlieferung der einschlägigen DDR-Ministerien nachgehen, kommen sie zu ähnlichen, einander ergänzenden Ergebnissen. Beide Werke sind durch das Fehlen von Indizes nicht sonderlich benutzerfreundlich. Insgesamt verdient die Studie von Korzilius den Vorzug, da sein Ansatz breiter, die Archivarbeit intensiver und die Resultate gehaltvoller sind. Bei Windmüller vermag weder das oberflächliche erste Hauptkapitel (1945-1961) noch die Unterteilung des Materials in Klein- und Kleinstabschnitte restlos zu überzeugen. Angesichts des rechtshistorischen Ansatzes verwundert es, dass das ,,Bewahrungsgesetz" als wichtigstes ,,Asozialengesetz" in Weimarer Republik, NS-Zeit und Bundesrepublik außer Betrachtung bleibt und die umfangreiche Fachliteratur zu dem Thema nicht rezipiert wird. Das Literaturverzeichnis umfasst nur fünf Seiten, die Zitation der Fußnoten zeichnet sich oftmals durch eine extreme Lakonik aus und eine informative Zusammenfassung der Resultate vermisst man schmerzlich. Insgesamt bietet die Studie eine umfangreiche Materialsammlung, in der ein geduldiger Leser manches interessante Fundstück entdecken kann, aber nur schwerlich ein konzises Gesamtbild der ,,Asozialenpolitik" der DDR erhalten wird.

Matthias Willing, Marburg

Fußnoten:


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