Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Sven Korzilius, ,,Asoziale" und ,,Parasiten" im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung (Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR, Bd. 4), Böhlau-Verlag, Köln etc. 2005, 744 S., geb., 105,50 €.
Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 sah für die Delikte Landstreicherei, Bettelei, Spiel, Trunk, Müßiggang, Prostitution, Arbeitsscheu, schuldhafte Obdachlosigkeit und Vernachlässigung der Unterhaltspflicht Haft von bis zu zwei Jahren in einem Arbeitshaus vor (§§ 361, 362 StGB). Die vom Strafrecht bedrohten Personengruppen, die sich nahezu ausnahmslos aus Angehörigen der Unterschichten zusammensetzten und von behördlicher Seite als Bedrohung des Gemeinwesens angesehen wurden, fasste man nicht selten unter der pejorativen Bezeichnung ,,Asoziale" zusammen. Neben Justiz und Polizei nahmen sich vor allem Fürsorge und Psychiatrie dieser Klientel mit einer Mischung aus Repression, Sozialdisziplinierung und Erziehung an. Nachdem Wolfgang Ayaß Mitte der 1990er Jahre eine grundlegende Studie zur Verfolgung von ,,Asozialen" im Nationalsozialismus vorgelegt hat, (1) beleuchtet nun Sven Korzilius mit seiner rechtshistorischen Dissertation deren Ausgrenzung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR. (2) Dieses sehr umfangreiche Werk gliedert sich in fünf Hauptkapitel, die chronologisch angeordnet sind.
Das erste Hauptkapitel widmet sich ausführlich der ,,Asozialen"-Problematik in der Sowjetischen Besatzungszone, die der Autor im Wesentlichen durch Kontinuitäten bei der Sanktionierung von deviantem Verhalten geprägt sieht. Da die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches ihre Gültigkeit behielten, wurden trotz der speziellen Nachkriegssituation weiterhin die erwähnten Bagatelldelikte von den Behörden geahndet. Darüber hinaus legte man in der SBZ besonderes Augenmerk auf die Durchsetzung von Arbeitspflicht und Arbeitsmoral, wobei in vielen Fällen der Entzug von Lebensmittelkarten als wirksames Druckmittel diente. Eingehend untersucht werden die verschiedenen Anstalten, Arbeitslager und Jugendwerkhöfe, in denen oftmals katastrophale Zustände und rechtstaatliche Defizite herrschten.
Knapper gehalten ist das zweite Hauptkapitel, das die Entwicklung des Strafrechts der DDR in den 1950er Jahren analysiert. Korzilius sieht diese Phase von der Konkurrenz dreier etwa gleich starker Strömungen gekennzeichnet, die er als ,,Traditionalismus", ,,Stalinismus" und ,,Abolitionismus" bezeichnet. Wirtschaftlicher Konsolidierung auf der einen Seite stand eine lähmende Unsicherheit auf der anderen Seite gegenüber, die unter anderem durch den 17. Juni 1953 und seine Folgen, den XX. Parteitag der KPdSU sowie den Ungarnaufstand im Jahr 1956 hervorgerufen worden war. Trotz stalinistischer Gewaltmaßnahmen wie die Ausweisungen aus dem Wismut-Gebiet und die Zwangsaussiedlungen im Grenzgebiet zur Bundesrepublik herrschte ein relativ offenes gesellschaftliches Klima. Den ,,Asozialen" widmeten die Sicherheitskräfte seinerzeit nur geringe Aufmerksamkeit. Mit den ,,Heimen für soziale Betreuung" wurden zwar vom Staat neue Einrichtungen für ,,Gefährdete" ins Leben gerufen, die moralisierende Attitüde und disziplinierende Behandlungsweise gegenüber den so genannten Randgruppen änderte sich hingegen kaum. Im Sinne einer ,,Pfadabhängigkeit" macht der Autor in der DDR eine ähnliche Entwicklung wie in der Bundesrepublik aus: ,,Innovative Ansätze gab es auf keiner Seite, diskutiert wurden lediglich Variationen des bestehenden Rechts, wobei sich Befürworter und Gegner einer Aufrechterhaltung strafrechtlicher Sanktionen in etwa die Waage hielten." (S. 258)
Das dritte Hauptkapitel stellt die neuen rechtlichen Bestimmungen in das Zentrum der Betrachtung, die in den 1960er Jahren gegen ,,asoziale" Personen wirksam wurden. Am 24. August 1961, unmittelbar nach dem Mauerbau erließ der Ministerrat der DDR eine ,,Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung", die eine polizeirechtliche Generalklausel enthielt, das alte Recht des § 361 StGB erheblich verschärfte und die Möglichkeit bot, den betroffenen Personenkreis nahezu beliebig auszuweiten. Entgegen der weit verbreiteten Forschungsmeinung, die höchst bedenkliche Verordnung als Reaktion auf den 13. August 1961 zu interpretieren, betont Korzilius, sie dürfe nicht in einem zu engen Zusammenhang mit dem Mauerbau gesehen werden, sondern sei als Versuch der Umsetzung der sowjetischen ,,Parasitengesetze" zu werten (S. 265). In der Folgezeit verdrängte die ,,Vorordnung über Aufenthaltsbeschränkung" sukzessive die Sanktionen nach dem Strafgesetzbuch. Die Lage in den Arbeitserziehungseinrichtungen wurde weiterhin von Disziplinierung, Drill, schlechten Haftbedingungen und mangelnder Rechtsstaatlichkeit dominiert. Zählbare Erfolge der Zwangsmaßnahmen stellten sich kaum ein, weil die Gefährdetenfürsorge zersplittert war und die Massenorganisationen und Betriebskollektive mit der Betreuung der ,,gefährdeten" Personen überfordert waren. Ferner fand eine zunehmende ,,Pathologisierung" von ,,asozialem Verhalten" statt, die an früher gebräuchliche Erklärungsmuster vor allem aus der Weimarer Zeit anknüpfte. 1968 trat schließlich nach einem längeren Diskussionsprozess innerhalb der juristischen Fachkreise das neue Strafgesetzbuch in der DDR in Kraft. ,,Asoziales" Verhalten wurde jetzt in § 249 StGB als Tatbestand neu gefasst, konservierte aber weitgehend die Regelung des alten § 361 StGB. Die DDR setzte demnach die staatlich-repressive Tradition der Vergangenheit fort, während in der Bundesrepublik diesbezüglich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre eine Liberalisierung erfolgte.
Der ausführliche vierte Hauptteil reicht vom Erlass des neuen Strafgesetzbuches 1968 bis zum Ende der DDR. In diesem Zeitraum wuchs die Zahl der wegen ,,asozialem" Verhalten kriminalisierten Personen ,,fast explosionsartig" an (S. 706). Zielscheibe der Behörden wurden nun auch häufig nicht angepasste junge Leute (,,Tramps", ,,Punks", ,,Gammler" usw.) (3) sowie Ausreisewillige. Zur Erklärung der signifikant gestiegenen Delinquenzzahlen greift Korzilius auf Konzeptionen der Mentalitätsgeschichte und der Milieutheorie zurück. Demnach hätte die Arbeiterschaft nach einer Öffnung in den 1950er und 1960er Jahren unter der Regierung Honeckers kaum Aufstiegschancen besessen. Die Folge sei eine Entsolidarisierung sowie verschärfte Konkurrenz innerhalb der Unterschichten gewesen, was die Zahl von Anzeigen wegen ,,Arbeitsbummelei" und deviantem Verhalten empor schnellen ließ. Die Zunahme totalitärer Tendenzen könne deshalb nicht primär als Ergebnis einer ,,durchherrschten Gesellschaft" von ,,oben" nach ,,unten" aufgefasst werden, sondern sei Resultat einer zugespitzten Statuskonkurrenz vor allem innerhalb der Betriebe gewesen, auf die die DDR-Führung mit einer verstärkten Repression reagiert habe.
Ein kurzes fünftes Hauptkapitel untersucht die Rehabilitierung der Opfer der ,,Asozialenpolitik" in der DDR durch bundesdeutsche Gerichte vor, während und nach der deutsch-deutschen Vereinigung. Eine generelle Entschädigung der Kläger erfolgte nicht, vielmehr prüften die westdeutschen Gerichte jeweils die gesetzlichen Grundlagen der Verurteilung und die Frage der Verhältnismäßigkeit individuell. Eine Zusammenfassung sowie Quellen- und Literaturverzeichnis beschließen das Werk.
Die Studie von Korzilius basiert auf einem breiten Quellenstudium, vereint verschiedene methodologische Ansätze überzeugend, erschließt ein wichtiges rechtspolitisches Fachgebiet umfassend und setzt sich kritisch mit der Forschung auseinander. Freilich wird man nicht allen Thesen vorbehaltlos zustimmen können. Beispielsweise wäre es angebracht gewesen, die Auffassung von weitgehender Kontinuität in der ,,Asozialen"-Politik der SBZ/DDR, die sich wie ein roter Faden durch die Monografie zieht, in einzelnen Punkten stärker zu differenzieren. Die zum Ausdruck gebrachte personelle Kontinuität (z.B. S. 23, 189) wird zumindest von den im Buch enthaltenen Kurzbiografien kaum gestützt und dürfte im Vergleich zur Bundesrepublik nicht zuletzt aufgrund der strengeren Entnazifizierungsrichtlinien wesentlich geringer ausfallen. Übertrieben erscheint die behauptete Kontinuität bei den öffentlichen und privaten Fürsorgeträgern, die sogar als ,,Pressure-groups" bezeichnet werden (S. 700), da die Reorganisation traditioneller Akteure (z.B. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge) unterbunden wurde, teilweise neue Akteure (z.B. Volkssolidarität) hinzutraten und man schon frühzeitig die Zentralisation der Fürsorge einleitete. Zu hinterfragen wäre zudem, ob die Entlassung von störenden Personen aus der ,,Betriebsgemeinschaft" in der DDR ohne weiteres ,,in einer Kontinuitätslinie mit dem Ausschluß ,Gemeinschaftsfremder'" im Nationalsozialismus gesehen werden kann (S. 647), da dem ,,Gemeinschaftsfremdenbegriff" die rassistisch definierte ,,Volksgemeinschaft" zugrunde lag und das seit 1939 geplante ,,Gemeinschaftsfremdengesetz" völlig andere Konsequenzen (z.B. ,,Entmannung", Todesstrafe) androhte. Übersehen wurde (S. 69 f.; S. 166 ff.), dass das neue Fürsorgerecht der SBZ vom 22. April 1947 ebenfalls eine Arbeitshausmaßregel bei ,,asozialem" Verhalten beinhaltete. (4) Diese kritischen Einwände stellen jedoch das insgesamt positive Gesamturteil nicht in Frage. Sven Korzilius hat eine sehr kenntnisreiche Dissertation vorgelegt, die weit über dem Durchschnitt liegt.
Matthias Willing, Marburg
Fußnoten:
1 Wolfgang Ayaß, ,,Asoziale" im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995.
2 Vgl. Matthias Zeng, ,,Asoziale" in der DDR. Transformation einer moralischen Kategorie, Münster 2000; Thomas Lindenberger, ,,Asoziale Lebensweise". Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines ,,negativen Milieus" in der SED-Diktatur. In: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 227-254.
3 Vgl. Paul Kaiser, Heckenscheren gegen Feindfrisuren. Das Vokabular der Macht: Asozialität, Dekadenz und Untergrund, in: Michael Rauhut/Thomas Kochan (Hrsg.), Bye, bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004, S. 267-282.
4 Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Sozialfürsorge vom 22. 4. 1947 gemäß Befehl Nr. 92 des Obersten Chefs der SMAD v. 2. 9. 1947, Zu Ziffer 2, V. In: Zentralverordnungsblatt 1947, S. 219.