Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Gerhard A. Ritter (Bearb.), Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977 (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 23), R. Oldenbourg Verlag, München 2006, 514 S., 19 Abb., brosch., 59,80 €.
,,Der Inhalt eines Gelehrtenlebens wird in der Regel in seinem wissenschaftlichen Werk enthalten sein, und es bleibt oft genug ein Unternehmen von begrenztem Ertrage, über das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Arbeit hinaus nach dem biographisch-geschichtlichen Untergrund zu fragen, aus dem sie hervorgewachsen ist." Mit dieser grundsätzlichen Bemerkung leitete 1962 Hans Herzfeld die Kommentierung einer Edition ausgewählter Briefe von und an Friedrich Meinecke ein. (1) Die anfängliche Skepsis Herzfelds traf allerdings im Falle des 1954 verstorbenen Meineckes, dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselfunktion in der damals noch überschaubaren akademischen Geschichtswissenschaft zukam, gewiss nicht zu. Jenseits einer bloßen Werkexegese erwies sich die auszugsweise Veröffentlichung der privaten Korrespondenz vielmehr als wahre Fundgrube für biografische und wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen, wie seinerzeit schon Herzfeld überzeugend darlegen konnte.
Mit der von Gerhard A. Ritter bearbeiteten Edition liegen nun weitere ,,Briefe und Aufzeichnungen" mit unmittelbarem Bezug zu Meinecke vor. (2) Der kürzlich mit dem Preis des Historischen Kollegs ausgezeichnete Münchner Emeritus hatte als junger Student an der Freien Universität Berlin den greisen Meinecke in Berlin-Dahlem noch persönlich kennengelernt und sich anlässlich von dessen 50. Todestag 2004 intensiver mit ihm beschäftigt.
Im Mittelpunkt der nun veröffentlichten Dokumente stehen neben Meinecke, der einleitend von Ritter als ,,Historiker, politischer Zeitgenosse und akademischer Lehrer" gewürdigt wird, vor allem seine ,,emigrierten Schüler". Diese hatten - meist in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren - unter Anleitung Meineckes promoviert, sich habilitiert oder pflegten zumindest zeitweilig engeren Kontakt mit ihm. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 mussten sie dann wegen ihrer jüdischen Abstammung oder politischen Überzeugung aus Deutschland fliehen, und fanden nach zum Teil langen, beschwerlichen Umwegen häufig in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat. Zu diesem Personenkreis zählen Hans Rothfels, Dietrich Gerhard, Gerhard Masur, Hajo Holborn, Felix Gilbert, Hans Baron, Helene Wieruszowski, Hans Rosenberg, Hedwig Hintze, Eckart Kehr, Hanns Günther Reissner und Gustav Mayer. In dieser Reihenfolge werden die Genannten vom Bearbeiter zunächst in Kurzporträts vorgestellt. Abgerundet wird die knapp 100 Seiten umfassende Einleitung durch einige grundsätzliche Überlegungen zu den Beziehungen zwischen deutscher und amerikanischer Geschichtswissenschaft vor allem in den Jahren nach 1945.
In den folgenden, knapp 200 Schriftstücken, die Ritter zum großen Teil aus den Nachlässen der behandelten Historiker im In- und Ausland zusammengetragen hat, zeigt sich eindrucksvoll die Komplexität des Verhältnisses zwischen Meinecke und seinen Schülern. Zu begrüßen ist dabei die Entscheidung des Bearbeiters, nicht nur Briefe an Meinecke und dessen Witwe Antonie, sondern auch die Korrespondenz der Schüler untereinander zu berücksichtigen, wodurch das Gesamtbild erheblich an Schärfe und Aussagewert gewinnt.
Neben der teilweise beklemmenden Schilderung existenzieller Nöte werden der große Respekt und der tiefe (nach 1945 auch in Form materieller Unterstützung sich ausdrückende) Dank deutlich, den die Schüler ihrem akademischen Mentor z.T. über Jahrzehnte hin entgegenbrachten. Das hinderte sie aber nicht, sich von dessen stark ideengeschichtlicher Ausrichtung zum Teil deutlich abzusetzen. Dieses Verhalten lässt sich exemplarisch bei Hajo Holborn beobachten, der sich zu Beginn der 1950er-Jahre wiederholt grundsätzlich und kritisch mit Meineckes Ansichten über die ,,Irrwege" deutscher Geschichte und den Stellenwert des deutschen Idealismus auseinandersetzte.
Größtenteils herrschte ein durchaus offener, kreativer Dialog, in dem unterschiedliche methodische, thematische und politische Strömungen sichtbar werden, womit gleichzeitig auch die Vielschichtigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft schon während der Weimarer Republik deutlich zu Tage tritt. Im Falle der emigrierten Meinecke-Schüler reichte das politische Spektrum von dem (1933 früh verstorbenen) ,,Linksaußen" (S. 92) Eckart Kehr bis zu dem nationalkonservativen Hans Rothfels. Letzterer entschied sich 1951 als einziger der vorgestellten Historiker für eine dauerhafte Rückkehr in die noch junge Bundesrepublik und deren Wissenschaftsbetrieb. (3) Für die emigrierten Kollegen hingegen blieb der ,,Blutgraben, der Deutschland seit 1933 umzog, zu weit und zu tief" (so Gerhard Masur), zumal sich viele unter ihnen zwischenzeitlich in der neuen Heimat gut eingelebt hatten, und sich, wie beispielsweise Hajo Holborn, ganz als amerikanische Bürger fühlten. Dennoch blieben sie dem Land ihrer Herkunft und Jugend sehr verbunden: So nahmen beispielsweise Gerhard, Gilbert, Masur und Rosenberg Gastprofessuren in der Bundesrepublik wahr und lieferten wichtige Impulse für die Weiterentwicklung einzelner Forschungsfelder im Kontext von Mediävistik, Renaissanceforschung sowie Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte. Mit ihren Hauptwerken prägten sie überdies entscheidend die US-amerikanische Forschung gerade auch über Deutschland (so im Falle Holborns). Nachdrücklich wird damit die große Bedeutung dieser ,,Brückenbauer" (S. 8) für die Entwicklung der amerikanischen wie der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 deutlich. Dies gelte, so Ritter, besonders im Falle von Hans Rosenberg, der mit ,,seinen Arbeiten sowie seinen intensiven persönlichen Kontakten zu vielen jüngeren deutschen Historikern [...] zu dem wohl noch vor Conze bedeutendsten Wegbereiter der modernen deutschen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte" wurde (S. 81 mit Anmerkung 69). Mit dieser Wertung nimmt der Nestor der deutschen Sozialgeschichtsschreibung dezidiert Stellung in der Diskussion über die Anfänge dieser Forschungsrichtung. Statt den Blick zu sehr auf Otto Brunner, Werner Conze und Theodor Schieder zu richten, weist Ritter (ähnlich wie beispielsweise auch Hans-Ulrich Wehler) auf die gerade nicht von völkischen und rassischen Denkmodellen durchtränkten Ansätze Rosenbergs als ,,Wurzelboden der modernen Sozialgeschichte der Bundesrepublik" hin. Dieses Plädoyer verdient Beachtung, zumal es noch eine weitere Stoßrichtung impliziert. Mit Hinweis auf die Fischer-Kontroverse sowie den Durchbruch der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte wurden bisher häufig (erst) die 1960er-Jahre als entscheidende Zäsur für die inhaltliche und methodische Neuausrichtung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft angesehen. Ritter hingegen reklamiert mit Bezug auf Rosenberg und auch die eigenen ersten Arbeiten den Trend zu neuen Fragestellungen und Forschungsfeldern schon in den 1950er-Jahren. Dagegen lässt sich allerdings einwenden, dass die 1958 von Rosenberg in den USA veröffentlichte Studie über ,,Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660-1815" in Deutschland - auch mangels entsprechender Übersetzung - anfangs kaum rezipiert wurde. (4) Außerdem scheinen die zweifellos starken Einflüsse von Rosenberg und später auch von Ritter zunächst vor allem auf das Umfeld der (West-)Berliner Freien Universität beschränkt gewesen zu sein, an der beide in den 1950er-Jahren tätig waren. (5)
Dennoch bereichern Ritters Einschätzungen auf jeden Fall die Diskussionen um die Wurzeln der modernen Sozialgeschichte wie die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, insbesondere mit Blick auf diejenigen Teile der ,,Zunft", welche durch das nationalsozialistische Regime zur Emigration gezwungen wurden, und erst seit wenigen Jahren von der Forschung wieder stärker wahrgenommen werden. 6 Darin liegt, neben dem tiefen Einblick in die lange Zeit vergessene Welt der emigrierten Schüler Meineckes und ihrer Bedeutung für die Geschichtswissenschaft auf beiden Seiten des Atlantiks, der große Wert dieser vorzüglichen Edition. Sie trägt damit entscheidend dazu bei, den ,,biographisch-geschichtlichen Untergrund" (Hans Herzfeld) der deutschen und transatlantischen Geschichtswissenschaft weiter freizulegen.
Edgar Liebmann, Hagen
Fußnoten:
1 Hans Herzfeld, Friedrich Meinecke. Der Historiker, der Politiker und der Mensch nach seinem Briefwechsel, in: ders., Ausgewählte Aufsätze. Dargebracht als Festgabe zum siebzigsten Geburtstage von seinen Freunden und Schülern, Berlin 1962, S. 26. Herzfelds Kommentierung bezog sich auf Friedrich Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, hrsg. und eingel. v. Ludwig Dehio und Peter Classen, Stuttgart 1962.
2 In Auszügen auch Gerhard A. Ritter, Die emigrierten Meinecke-Schüler in den Vereinigten Staaten. Leben und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld zwischen Deutschland und der neuen Heimat: Hajo Holborn, Felix Gilbert, Dietrich Gerhard, Hans Rosenberg, in: HZ 284 (2007), S. 59-102; außerdem ders., Friedrich Meinecke, die Gründung der Freien Universität Berlin und das Friedrich-Meinecke-Institut, in: Gisela Bock/Daniel Schönpflug (Hrsg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, S. 193-210.
3 Zu Rothfels vgl. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005 sowie meine Besprechung im AfS 48, 2008, online, 28.01.2008, URL: http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80901.htm.
4 Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660-1815, Cambridge/Mass. 1958. Vgl. auch Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970, München 2005, S. 393, der darauf hinweist, dass erst zwei Rezensionen von Hans Herzfeld (zusammen mit Wilhelm Berges 1962) und Gerhard Oestreich (1965) Rosenbergs Arbeit in einer breiteren Fachöffentlichkeit bekannt machten.
5 Prononciert zu dieser Deutung jetzt Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, S. 71-73; dort auch - in gewohnt zuspitzender Form - das Verdikt, dass insgesamt ,,die Situation in der deutschen Geschichtswissenschaft in den 50er Jahren wenig erheiternd [war]".
6 Hier nur der Hinweis auf Gabriela Eakin-Thimme, Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933, München 2005 sowie Mario Kessler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln 2001 und ders. (Hrsg.): Deutsche Historiker im Exil (1933-1945). Ausgewählte Studien, Berlin 2005.