ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 10), Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 479 S., geb., 42,00 €.

Als 1998 auf dem Frankfurter Historikertag die Rolle der deutschen Geschichtswissenschaft während der NS-Zeit diskutiert wurde, brach ein schon länger in der Luft liegender Disput offen aus: Wichtige Historiker der frühen Bundesrepublik, wie Otto Brunner, Werner Conze, Hermann Heimpel und Theodor Schieder, waren angesichts belastender Schriften und enger Verflechtungen mit dem NS-Wissenschaftsbetrieb in das Visier einer meist jüngeren Forschergeneration geraten. Vor allem ältere Fachkollegen, oft Schüler der angegriffenen, längst verstorbenen akademischen 'Väter', sahen sich zum Widerspruch veranlasst. Der Streit war entfacht und bestimmte in den kommenden Jahren die Diskussionen.

Immer häufiger tauchte dabei auch der Name des Tübinger Zeithistorikers Hans Rothfels auf, mit dem Jan Eckel sich im Rahmen einer bei Ulrich Herbert in Freiburg/Breisgau entstandenen, preisgekrönten Dissertation nun umfassend beschäftigt hat.

Der 1891 in Kassel geborene Rothfels hatte nach frühzeitiger verletzungsbedingter Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg im Anschluss an Promotion (1918) und Habilitation (1923) eine viel versprechende akademische Karriere eingeschlagen, die 1926 durch die Berufung auf das Ordinariat für Neuere Geschichte an der Universität Königsberg gekrönt worden war. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Rothfels auf Grund seiner jüdischen Abstammung binnen weniger Monate aus dem wissenschaftlichen Betrieb entfernt. 1939 emigrierte er dann zunächst nach England, anschließend in die USA, wo Rothfels seit 1946 an der Universität von Chicago lehrte. 1951 nahm der Emigrant einen Ruf der Universität Tübingen an und wirkte bis zu seinem Tod 1976 in zahlreichen Leitungsfunktionen als einer der einflussreichsten und renommiertesten westdeutschen Historiker.

Eine makellose akademische Vita also, wie man auf den ersten Blick meinen möchte. In den letzten Jahren äußerten Historiker, wie Ingo Haar und Karl-Heinz Roth, aber massive Zweifel an dieser lange vorherrschenden Deutung. Sie werteten Rothfels' Arbeiten aus den 1920er- und 1930er-Jahren als Beleg für dessen Nähe zur völkischen Rechten und damit zumindest indirekt auch zum Nationalsozialismus. Nicolas Berg kritisierte außerdem Rothfels' selektiven Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1950er-und 1960er-Jahren. Diese Interpretationen führten zu teilweise heftigem Widerspruch, vor allem seitens ehemaliger Rothfels-Schüler wie Hans Mommsen und Heinrich August Winkler. Mehrere Tagungen widmeten sich in der Folgezeit dem vermeintlichen 'Problemfall' Rothfels. (1)In diesen spannungsgeladenen Kontext fügt sich Eckels Untersuchung ein. Methodisch gestützt auf die Theorie des ,,Radikalen Konstruktivismus" möchte er die Auswirkungen der jeweiligen zeitgenössischen Gegenwart auf die wissenschaftliche Tätigkeit des Historikers Rothfels untersuchen. Zu diesem Zweck unterteilt Eckel dessen wissenschaftliche Vita in fünf Abschnitte, die folgerichtig auch die Hauptkapitel bilden: (Erster) Weltkrieg und Nachkriegszeit (I.), die Königsberger Jahre (II.), die NS-Zeit (III.), Emigration und Remigration (IV.) und schließlich die Zeit seit Rückkehr in die Bundesrepublik (V.). Für diese Perioden analysiert Eckel jeweils die historiografische Produktion Rothfels', das institutionelle und kollegiale Umfeld sowie die generellen gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen, insbesondere unter wissenschaftsgeschichtlichen Vorzeichen. Die Verwendung dieses starren Untersuchungsrasters erleichtert einerseits die Vergleichbarkeit der (Zwischen-)Ergebnisse, führt allerdings auch zu einigen Abgrenzungsproblemen und Redundanzen innerhalb der einzelnen Unterkapitel, was sich schon an den zahlreichen Querverweisen im Anmerkungsapparat ablesen lässt.

Inhaltlich gelingt es Eckel durch die Auswertung zahlreicher gedruckter Quellen, einiger Interviews von Zeitzeugen und verschiedener Archivalien (wie Nachlässen und Personalakten), anschaulich die Brüche und Kontinuitäten in Rothfels' wissenschaftlicher Arbeit freizulegen. Die über Jahrzehnte beibehaltenen Themen, wie die Bismarckforschung sowie die Geschichte Mittel- und Osteuropas, waren dabei gerade in der Weimarer Republik mit starkem Gegenwartsbezug zu verstehen. Gleiches galt für Rothfels' Diagnose der neueren deutschen Geschichte, die er im ständigen Wechsel von Aufschwung und Krise sah. Zeitlebens blieb für Rothfels ein etatistisches Ordnungs- und Stabilisierungsdenken der entscheidende Bezugspunkt.

In der Sache fair und plausibel erörtert Eckel die problematischen Schriften und Ansichten Rothfels' zur politischen ,,Neuordnung" des ,,Ostens" während der Königsberger Zeit. Einerseits verweist er auf die revisionistische, nationalistische und chauvinistische Stoßrichtung dieser Arbeiten (S. 122), die sich damit auch mit nationalsozialistischen Positionen verbinden ließen (S. 137). Andererseits betont Eckel mehrfach Rothfels' entschiedene Distanzierung von sämtlichen rassistisch begründeten Ansprüchen (S. 137, 156, 181).

Letztlich zeigt sich in Rothfels' Haltung und Geschichtsschreibung das ganze Dilemma eines nationalkonservativen, jüdisch-deutschen Intellektuellen während der (ausgehenden) Weimarer Republik und zu Beginn der NS-Zeit. Als Folge des traumatischen Einschnittes von 1918/19 wirkte zunächst die Hoffnung auf eine 'nationale Erneuerung' stimulierend. Nach 1933 war Rothfels jedoch unter den neuen politischen Machtverhältnissen schnell sämtlicher Partizipationschancen beraubt, sodass die NS-Zeit für ihn den entscheidenden lebensgeschichtlichen Bruch bedeutete. Diese persönliche Zerrissenheit führte sogar so weit, dass Rothfels trotz eindringlicher Warnungen seines einzigen engeren Freundes im akademischen Milieu, Siegfried A. Kaehler, eine Emigration als Landesverrat empfand. Erst im buchstäblich letzten Moment (im August 1939) entschloss Rothfels sich unter dem Druck immer härterer Repressionen zu diesem für ihn vermutlich lebensrettenden Schritt. Doch obwohl er im Vergleich zu anderen deutschen Emigranten in den Vereinigten Staaten schnell und erfolgreich Fuß fasste, wurden diese niemals zu einer wirklichen Heimat.

Sehr schön gelingt es Eckel, für die Zeit nach 1945 die Verflechtungen traditioneller Denk- und Werkstrukturen mit neueren, westlich-abendländischen Einflüssen aufzuzeigen. Dabei bildeten Arbeiten zum deutschen Widerstand die geistige Brücke zwischen dem US-amerikanischen Exil und der 'alten Heimat' Deutschland. Indem der Emigrant weite Teile der deutschen Bevölkerung von einer NS-Belastung freisprach, stieß er nicht nur auf eine begeisterte Resonanz im Nachkriegsdeutschland, sondern schuf gleichzeitig die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rückkehr in die westdeutsche Zunft. Mit Etablierung der ,,Zeitgeschichte" als geschichtswissenschaftliche Disziplin verstand Rothfels es zudem, auf das dringende Bedürfnis nach wissenschaftlicher Aufarbeitung der jüngsten, krisenhaften Vergangenheit des 20. Jahrhunderts eine fachliche Antwort zu geben. Diese bezog sich nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern setzte - in Rothfels' Verständnis - schon mit der weltgeschichtlichen Zäsur des Jahres 1917 ein. Eckel arbeitet die damit verbundenen Implikationen präzise heraus, wobei einige wichtigen Feststellungen, etwa zu Rothfels' fehlender Beschäftigung mit der Weimarer Republik oder dem Nationalsozialismus (S. 308), nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen dürften. Überdies mag man bedauern, dass eine ,,intellektuelle Biographie" im Stile Eckels den - offensichtlich sehr charismatischen - Menschen Hans Rothfels doch zu sehr in den Hintergrund treten lässt. Dadurch wirken die Beschreibungen wichtiger, gar existentieller Lebenssituationen (wie etwa im Kontext der Auswanderung) merkwürdig blass und unterkühlt.

Ungeachtet dieser Einwände vermag Eckel ein insgesamt schlüssiges, differenziertes Bild von einem der wichtigsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts zu zeichnen. Dies bestätigt auch der kurze Exkurs am Ende der Arbeit in Form des Vergleiches von Gerhard Ritter (2) und Hans Rothfels: Hier zeigt sich sehr anschaulich das Potenzial moderner Wissenschaftlerbiografien, die nicht der Gefahr einer allzu ausschnitthaften, isolierten Wahrnehmung des jeweiligen Protagonisten erliegen.

Das Hauptverdienst von Eckels Studie liegt somit darin, auf Basis umfangreicher Quellenstudien die bisherige Rothfels-Diskussion in einen umfassenderen biografischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext eingebettet zu haben. Gleichzeitig stellt sie aber auch einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft dar. Zu hoffen bleibt deshalb, dass ähnlich angelegte Arbeiten zu weiteren wichtigen Leitfiguren folgen, um so zu einem tieferen Verständnis der Fachentwicklung im 20. Jahrhundert zu gelangen.

Edgar Liebmann, Wuppertal

Fußnoten:


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