ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jaana Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, V&R unipress, Göttingen 2006, 476 S., kart., 59,90 €.

Nachdem zuletzt Anne C. Nagel sehr instruktiv die Nachkriegsentwicklung der bundesdeutschen Mediävistik von 1945 bis 1970 beschrieben hat (1), scheint die etwa zeitgleich (2003) fertiggestellte Arbeit von Jaana Eichhorn auf den ersten Blick die logische Fortsetzung zu sein, rückt doch nun die Frühneuzeitforschung in den Mittelpunkt einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung. Mit ihrer von Wolfgang Reinhard betreuten Freiburger Dissertation möchte Eichhorn ,,Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung" (so der Untertitel) freilegen. Folgerichtig stellt die Verfasserin zu Beginn zunächst den verwendeten (,,historischen") Diskursbegriff vor, der durch die Frage nach der Produktion und Verbreitung von ,,Wissen", ,,Wahrheit" und ,,Erkenntnissen" (S. 21) geprägt ist. Außerdem geht Eichhorn auf grundlegende Ansätze der Wissenschaftstheorie und -geschichte ein, indem sie beispielsweise das Modell des Paradigmenwechsels (Thomas S. Kuhn), des Denkstils (Ludwik Fleck) sowie systemtheoretische und ethnomethodologische Konzepte beschreibt. Daran anschließend werden die besonderen Bedingungen geschichtswissenschaftlicher Forschung erörtert, etwa in Form der Bedeutung von fachspezifischen Netzwerken oder externen Einflüssen wie Politik, Öffentlichkeit, Medien und Verlagen.

Erst nach über einhundert Seiten wendet sich Eichhorn dann ihrem konkreten Untersuchungsgegenstand zu, der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung nach 1945. Sie schreitet dabei nicht chronologisch voran, sondern orientiert sich an ausgewählten, überwiegend fachinternen Diskursen. So untersucht Eichhorn zunächst die Bedeutung der Frühen Neuzeit auf den Historikertagen von 1951 bis 2000, um anschließend die Kontroversen zu beschreiben, die innerhalb der Frühneuzeitforschung um verschiedene Schlüsselbegriffe wie Absolutismus, Selbstzeugnis, Eigensinn und Aneignung geführt wurden. In den beiden folgenden, breiter angelegten Hauptkapiteln werden dann die Hexenforschung und der ,,Mythos vom Alten Reich" als besonders markante Diskurse vorgestellt.

Problematisch an dieser Auswahl ist zunächst, dass damit a priori grundlegende Entwicklungen innerhalb des Teilgebietes Frühe Neuzeit ausgeblendet werden. So fehlt es mit Hinweis auf die Schwierigkeiten einer distanzierten Analyse des eigenen Doktorvaters an Überlegungen zur Durchsetzung des Konfessionalisierungs-Konzeptes (S. 25), sicherlich einer der wichtigsten Schwerpunkte frühneuzeitlicher Forschung in den letzten gut 60 Jahren. Ebenso fällt die nahezu vollständige Abstinenz rechts- und wirtschaftsgeschichtlicher Themen wie Policey, Frühkapitalismus und Protoindustrialisierung auf.

Auch hinsichtlich der untersuchten Diskurse zeigen sich Disparitäten. Soziale Proteste im Kontext der Begriffe ,,Eigensinn" und ,,Aneignung" diskutiert Eichhorn hauptsächlich als Formen bäuerlichen Widerstands. Gleichzeitig schränkt sie ihre Überlegungen hinsichtlich der Diskursentwicklung im Wesentlichen auf die Forschungen am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte in den 1970er- und 1980er-Jahren ein. Die Pionierstudien von Dieter Groh, der in Konstanz schon früh mit ähnlichen Ansätzen operierte, finden hingegen ebenso wenig Erwähnung wie städtische Revolten oder Proteste der Handwerker (Gesellenstreiks). Hinsichtlich der aktuellen Hexenforschung bezieht Eichhorn außerdem grundlegende neuere Ergebnisse aus rechtsgeschichtlicher Perspektive nicht in ihre Darstellung ein. (2)

Der Paradigmenwechsel in den Forschungen zum Alten Reich schließlich wird zwar nachvollziehbar entschlüsselt. Die Bemerkung Eichhorns, dass die Neubewertung des Alten Reiches durch Historiker wie Volker Press, Friedrich Hermann Schubert und Karl Otmar von Aretin ohne neue Quellenfunde zustande gekommen sei (S. 346), ist aber nicht haltbar. Gerade die bahnbrechenden Forschungen Aretins in den 1950er- und 1960er-Jahren beruhten auf umfangreichen, langjährigen Archivstudien, die seinem Hauptwerk überhaupt entsprechende Wahrnehmung und Seriosität verschafften. In diesem Zusammenhang ausschließlich mit politischen Veränderungen in der Bundesrepublik während der 1960er- und 1970er-Jahre zu argumentieren, ist dann doch zu kurz gegriffen.

In Verbindung mit dem Anspruch, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung zu beleuchten, wird ein weiteres Problem der Arbeit offensichtlich: Der völlige Verzicht auf Archivalien, etwa Nachlässe, oder auch auf Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen wirkt sich ungünstig auf den Gang der Argumentation und die Identifizierung möglicher Netzwerke oder institutioneller Zentren der Frühneuzeitforschung aus. Allein auf Basis der bis Anfang 2003 zugänglichen Literatur, die im Anmerkungsapparat auch bei Wiederholungen immer im Volltext zitiert wird und zudem einige deutliche Lücken aufweist (3), bleibt somit beinahe zwangsläufig vieles vage und spekulativ. Nachträgliche Konstruktionen, mit denen die Forschungen in den 1980er-Jahren zum frühneuzeitlichen Untertanenverhalten durch Referenz auf einen 2001 erschienenen Roman erklärt werden, in welchem das Lebensgefühl der 1980er-Jahre pauschal mit Vorstellungen von Widerstand durch ,,Nichtstun und sanfte Verweigerung von Disziplin" (S. 232) beschrieben wird, wirken nicht überzeugend.

Im Ergebnis ist festzustellen, dass es Eichhorn zwar gelungen ist, für die Frühneuzeitforschung nach 1945 durchaus wichtige Diskurse zu identifizieren und diese näher zu beschreiben. Den Anspruch, für ihren Untersuchungsgegenstand ,,die Entstehung einer neuen historischen Teildisziplin, problematische Fragen der Epochenbildung sowie die spezifische Interaktion von Geschichtswissenschaft und öffentlichem Geschichtsinteresse detailliert nachzuvollziehen" (so die Verlagsinformation und der Einbandtext) vermag Eichhorn allerdings auf Grund der genannten Einschränkungen nur bedingt einzulösen.
Eine zusammenhängende Analyse über Entstehung, Entwicklung und Struktur der Frühen Neuzeit als geschichtswissenschaftlicher Disziplin bleibt deshalb nach wie vor ein Desiderat der Forschung.

Edgar Liebmann, Hagen

Fußnoten:


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