Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970 ( Formen der Erinnerung, Bd. 24), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 336 S., brosch., 52,90 €.
Diese ausgezeichnete Gießener Habilitationsschrift gehört in den Reigen gegenwärtiger aktueller wissenschafts- und institutionengeschichtlicher Aufarbeitungen und analysiert Kontinuitäten wie Neuausrichtungen der deutschen Mediaevistik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die disparate Vielfalt unterschiedlicher Schulen, Individualitäten und Charaktere musste dabei auf prägende Schwerpunkte reduziert werden. Im Einzelfall könnte das natürlich Widerspruch oder Modifikation hervorrufen. Insgesamt hat die Nicht-Mediaevistin freilich eine geschickte repräsentative Auswahl universitärer wie außeruniversitärer Mittelalterforschung vorgenommen und akribisch Methoden, Publikationen, Akten und Nachlässe studiert. Von besonderem Nutzen sind die Passagen zu den Neuanfängen nach der nationalen Katastrophe von 1945 zwischen Beharrung und Neuanfang, weil hier die einzigartigen Chancen einer neuen Forschergeneration deutlich herausgestellt werden. Kaum ein im Dritten Reich belasteter Historiker fiel dauerhaft aus der akademischen Kommunität heraus, kaum jemand verlor endgültig sein Amt. Trotzdem wirkte bei Themen, Methoden und Verbünden ein Aufbruch, der aus den Traditionsveränderungen der zwölf braunen Jahre erklärt werden kann. So vermittelt die Konzentration auf Generationenkohorten und ihre Denk- und Wissenschaftsmuster neue Einsichten in ein Thema, das bislang eher aus der Perspektive der Kontinuitäten von Deutungen und Forschungsschwerpunkten behandelt wurde.
Anne Nagel legt viele neuartige wie manche erwartbare Ergebnisse vor: Sie betont die prägende Rolle neuer mediaevistischer Zentren in Göttingen und Marburg, den beherrschenden Einfluss von Walter Schlesinger, Karl Bosl oder Gerd Tellenbach mit ihren Schulen, die Kontinuität der Monumenta Germaniae Historica in der Quellenerschließung trotz der räumlichen Verlagerung von Berlin über Pommersfelden nach München, den traditionsverhafteten neuen Schwung Hermann Heimpels bei der Gründung des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte, die Mischung aus Starrsinn und innovativer Interdisziplinarität im Konstanzer Arbeitskreis Theodor Mayers. Im angemessenen zeitlichen Abstand tritt damit ein facettenreiches Panorama hervor, das die Wirkungen der Jugenderfahrungen von Mediaevisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll mit ihrem neuen methodischen Elan und ihrer aufbruchswilligen Wissenschaftlichkeit verknüpft.
Umso härter traf es die einst jungen Neuerer, als sie in der Studentenbewegung 1968 zum Establishment erklärt wurden. Nun zeigten sich die Grenzen intellektueller Modernisierungsbereitschaft. Das so häufig beschworene Ende der deutschen Universität wollte den erwartungsvollen Studierenden, die in den 1970er und1980er Jahren an die Universitäten kamen, nicht mehr einleuchten. Der Wandel indes war nicht allein optisch offensichtlich. Darum überzeugt das gewählte zeitliche Ende der Untersuchung auch weniger als ihr Beginn. Bei größerer zeitlicher Nähe fällt die sichere historische Periodisierung natürlich schwerer. Vielleicht wird man mit wachsendem Abstand darum anders urteilen und den späteren thematischen Wandel von der deutschen zur übernationalen Geschichte, von der Struktur- zur Kulturgeschichte höher gewichten als den bloßen Formenwechsel im akademischen Umgang.
Es ist nicht zu verkennen, dass dieses Buch in Gießen entstand und darum deutlich von hessischen Perspektiven auf die Entwicklung des Fachs geprägt bleibt. Ein Blick auf die Zahl der Eintragungen im Register lehrt dies sofort. Gewiss ist kaum etwas Wichtiges vergessen. Doch die prägende Kraft der Mediaevistik in der Fortführung des römischen Auslandsinstituts und im Aufbau des Deutschen Historischen Instituts Paris bleibt vergleichsweise ebenso blass wie die Wiederentdeckung des christlichen Abendlands mit seinem neuen Europagedanken in einer kulturgeschichtlichen Ausrichtung oder die zunehmende Westorientierung der deutschen Mediaevistik. Die Rolle der Görres-Gesellschaft wird nicht in einem eigenen Kapitel gewürdigt. Wiederholt sind Eugen Ewig oder Theodor Schieffer zwar genannt, treten aber quantitativ deutlich hinter Theodor Mayer, Hermann Heimpel oder Walter Schlesinger zurück; ihre Schüler würden solche Orientierungspunkte vielleicht verrücken. So bleibt unverkennbar, dass vor allem die Konzentration auf institutionelle Ausformungen die Gewichtung dieses Buchs bestimmt. Es legt damit auf seine Weise Zeugnis vom hohen Stellenwert koordinierter Forschung im frühen 21. Jahrhundert ab.
Nachdenklich macht Nagels Einsicht, dass kaum ein mediaevistischer Leuchtturm der 1950er und 1960er Jahre die wissenschaftliche Endlichkeit oder die Zeitgebundenheit der eigenen Leistung bedachte. Listig wird ein eindrucksvoller Briefwechsel Dannenbauers mit Schlesinger ausgewählt (S. 299 f.), ohne plakativ herauszurufen, wie fremd auch späteren Mediaevisten die Kraft zur akademischen Selbstironie blieb. Manchen dient ja die neue Lust an der Geschichte des eigenen Fachs und der Gegenwartsverhaftung ihrer Vorgänger vor allem zur Überzeugung, endlich die angemessene historische Deutungshoheit errungen zu haben. Falls man sich in 50 Jahren noch mit derlei beschäftigt, wird man auf die Rückschau gespannt sein dürfen. Anne Nagel verfällt jedenfalls nicht in die flotte Rolle des Enttarnens, sondern schreibt in einer wohltuenden Mischung aus Engagement und Nüchternheit. Das macht die Stärke dieses Buchs aus.
Bernd Schneidmüller, Heidelberg