ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hannes Heer, Hitler war's. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Aufbau-Verlag, Berlin 2005, 439 S., geb., 24,90 €.

Im Rückblick auf die historischen Debatten der letzten Jahre hat sich eine Interpretationslinie etabliert, die vor allem die unterschiedlichen Muster von öffentlichem Diskurs und historischer Wissenschaft betont: Emotionalität trifft hier auf Sachlichkeit, Moralisierung und Skandalisierung stehen gegen Analyse, einfache Thesen und Zuspitzungen gegen Differenzierung und Komplexität. Bevorzugtes Beispiel zur Veranschaulichung dieser Spannung ist neben der ,,Goldhagen-Kontroverse" die Auseinandersetzung um die sogenannte erste Wehrmachtsausstellung. Zwar wird deren Bedeutung für den Wandel des öffentlichen Geschichtsbewusstseins und die Infragestellung der noch Anfang der 1990er Jahre verbreiteten Legende von der ,,sauberen Wehrmacht" nur selten bestritten. Was deren fachlichen Ertrag angeht, so haben mittlerweile jedoch die skeptischen Stimmen überhand genommen. Nicht nur fehlerhafte Zuordnungen im Bildmaterial werden von einem Großteil der Historikerschaft bemängelt, sondern vor allem die pauschalisierende und sensationalistische Bearbeitung des Themas.

Als früherer Leiter der Ausstellung und Verfechter dieses Ansatzes gilt Hannes Heer. Er ist, während sich die einstigen Widerstreiter der Wehrmachtsdebatte, die Institute für Sozialforschung und Zeitgeschichte (aber auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt) vor dem Hintergrund der neu konzipierten Ausstellung um einen wissenschaftlich moderierten Konsens in der Wehrmachtshistoriografie bemühen, mittlerweile ins Fach der historischen Publizistik gewechselt. Dort setzt er nicht nur den im Rahmen der Wehrmachtausstellung entwickelten Ansatz einer ,,investigativen" Täterforschung fort, sondern widmet sich verstärkt auch dem Gesamtkontext der auf den Nationalsozialismus bezogenen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Im Mittelpunkt seiner Veröffentlichungen stand dabei zunächst eine scharfe Kritik an der neuen, ,zweiten' Wehrmachtausstellung, der er nicht nur eine Relativierung der Wehrmachtsverbrechen und eine Ausblendung des Täterkollektivs vorwarf, sondern auch exemplarischen Charakter zuschrieb für die Entwicklung des öffentlichen Geschichtsbewusstseins. Was der einen Seite als ,,Versachlichung" und ,,Verwissenschaftlichung" erschien, wurde von Heer in den Kontext einer Geschichtsbetrachtung gestellt, die letztlich auf eine Entlastung der Deutschen ziele. (1)

An diese These knüpft auch sein jüngstes Buch ,,Hitler war's" an. Der Band kommt natürlich nicht umhin, die (von beiden Seiten mit einer gewissen Neigung zu persönlich gefärbten Vorwürfen geführte und insofern für den Außenstehenden nicht ergiebige) Auseinandersetzung um das historische Bild der Wehrmacht aufzugreifen. So attestiert er dem am IfZ tätigen Historiker Christian Hartmann, der jüngst in einem Artikel in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte nachzuweisen versuchte, dass die an Verbrechen beteiligen Soldaten ,,sich eindeutig in der Minderheit" befanden, (2) eine auf Relativierung zielende ,,Geschichtsschreibung des Diminuitivs" (S. 289). Mit der Wehrmachtsdebatte befasst er sich jedoch nur in einem Teil der Publikation.

Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Auseinandersetzung mit populären Darstellungen des Nationalsozialismus in Film, Fernsehen und (historischer) Literatur. Heers Kritik an diesen Darstellungen, die er in kurzen Interventionen und längeren Aufsätzen entwickelt, findet zwei Ansatzpunkte. Zum einen moniert er die Tendenz, NS-Geschichte vor allem in ,,unterhaltsamer" Form, mit klar gezogenen Spannungsbögen und einfachen Identifikationsangeboten, zu erzählen. Damit verknüpft beobachtet er aber auch die ,,Renaissance" eines bestimmten Bildes vom ,Dritten Reich', das die NS-Verbrechen einer klar umrissenen Führungsschicht zuordnet, während es den Großteil der Funktionseliten und der Bevölkerung aus der historischen Verantwortung entlässt. Heer geht insofern von einer Renaissance aus, als dieses populäre Bild an einen älteren ,,Entschuldungsdiskurs" (S. 122) anknüpft, der bereits unmittelbar nach Kriegsende seine Ausformung fand und bis in die 1960er Jahre weitgehend unbestritten blieb. Nicht umsonst bezieht sich der Titel seines Buches auf eine Bemerkung von Saul K. Padover, der bei seinen Befragungen im Deutschland der Jahre 1944/45 verbittert festgehalten hatte: ,,Seit zwei Monaten sind wir hier zugange, wir haben mit vielen Menschen gesprochen [...] und wir haben keinen Nazi gefunden. [...] Alle Leute sind gegen Hitler. Sie sind schon immer gegen Hitler gewesen. Was heißt das? Es heißt, dass Hitler die Sache ganz allein, ohne Hilfe und Unterstützung irgendeines Deutschen durchgezogen hat." (S. 5)

Woran macht der Autor den roll back im öffentlichen Geschichtsbewusstsein konkret fest? Heer widmet sich einmal den Darstellungsmitteln und Erzählformen, dem Hitlerzentrismus und der ,,Verstrickungs"-Semantik in Guido Knopps Geschichtsfernsehen. Er weist auf den Publikumserfolg von Bernd Eichingers ,,Untergang" hin, dem Heer nicht nur eine verzerrte Darstellung des NS-Führungspersonals, sondern auch eine narrative ,,Auslöschung" des vorangegangenen 12-jährigen Terrorregimes attestiert. Und er widmet er sich dem Wirken Joachim Fests, der dem Leser nicht nur als einflussreicher Vertreter des von Heer kritisierten Geschichtsbildes sondern auch als ,,Brückenbauer" zwischen aktuellem und Nachkriegsdiskurs vorgestellt wird. Schließlich hatte Fest nicht nur in den 1970er Jahren Erfolg mit seiner um Verführung, Faszination, dämonischen Führer und deutsche Tragödie kreisenden NS-Geschichte, sondern konnte seine Ansichten jüngst wieder popularisieren - nicht zuletzt durch den Eichinger-Film, der neben Traudl Junges Erinnerungen in Fests 2002 erschienenem ,,Untergang"-Buch seine Blaupause fand. Heer präsentiert nicht nur eine kurze Werkgeschichte Fests und rekonstruiert dessen ,,unheilige" publizistische Allianz mit Albert Speer, er widmet sich auch den Grundzügen der in Büchern und Filmen zum Ausdruck kommenden Festschen Geschichtsauffassung. Sein Anliegen besteht nicht nur darin, die faktischen Verkürzungen und Ausblendungen im Werk zu benennen. Mit den Mitteln der Sprach- und Ideologiekritik versucht er auch die Festsche Rhetorik des ,,getäuschten Idealismus" und des ,,Schuldlos-schuldig-Werdens" auf ihren eigentlichen Kern zurückzuführen: die Minimierung gesellschaftlicher und individueller Verantwortung für die NS-Verbrechen.

Den gewissermaßen ,,forensischen" Fallgeschichten zur ,,Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit" stellt Heer mehrere ,,Gegenreden" zur Seite, formal und inhaltlich sehr unterschiedlich gehaltene Essays und Aufsätze, die andere Perspektiven und Zugänge zur NS-Geschichte vermitteln sollen. Neben einer Fallstudie zum Beginn des Vernichtungskriegs in der Sowjetunion und einer Würdigung Dietrich Bonhoeffers als Analytiker der NS-Herrschaft und Kritiker der deutschen Eliten findet sich hier auch eine ausführliche Studie zum neueren Phänomen des historischen ,,Familienromans" - das wohl interessanteste Stück des Buches. Heer liest die literarischen Auseinandersetzungen als Erinnerungsgeschichten und identifiziert dabei - grob gesprochen - zwei Modi des Schreibens: einen, der die NS-Verbrechen mit eigenem Leiden überblendet oder die historische Verantwortung aufgreift, um sie durch eine ,,Poetik der Unschärfe" unkenntlich zu machen (Thomas Medicus, Ulla Hahn, S. 214ff.) und einen anderen, der den Nationalsozialismus als Teil der Familiengeschichte anerkennt und kritisch reflektiert. In Werken von Autorinnen und Autoren wie Wibke Bruhns, Uwe Timm oder Stephan Wackwitz sieht Heer die Möglichkeit einer Literatur jenseits von identifikatorischer Schuldabwehr und familiärer Rechtfertigung, einer Literatur also, die den aufklärerischen Impuls der 1960er /1970er Jahre aufnimmt, sich jedoch nicht auf Schuldzuweisungen beschränkt, sondern den ,,Riss" zwischen den Generationen (S. 232) selbst zum Thema macht. Darüber hinaus sieht er in ihnen auch eine beispielhafte Form historischen Erzählens, das Distanz mit Empathie, persönliche Erfahrung mit Techniken wissenschaftlicher Rekonstruktion und Familien- mit Gesellschaftsgeschichte verbindet.

Was bleibt zu bilanzieren? Vieles von dem, was ,,Hitler war's" anspricht, ist aus Sicht medien- oder kulturwissenschaftlicher Forschung nicht neu; es liegen mittlerweile differenzierte(re) Studien nicht nur zur Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur der Nachkriegszeit, sondern auch zur Mythologie ,,tragischer Verstrickung", zu Guido Knopps Fernsehwelten wie zum neuen deutschen ,,Opferdiskurs" vor. Was Heer demgegenüber leistet, ist vor allem eine Darstellung für das breitere Publikum. Und was sein Buch charakterisiert, sind entschiedene Urteile und eine oft polemische, auch gezielt polarisierende Sprache. Geht also die eingangs aufgemachte Gegenüberstellung auf? Nicht ganz - und dies in zweierlei Hinsicht. Heer attackiert in öffentlichen Stellungnahmen zwar immer wieder die akademische Geschichtsschreibung. (3) Worum es ihm geht, ist offenbar jedoch nicht ein Generalangriff auf die Fundamente wissenschaftlichen Arbeitens, sondern eine Erweiterung der Wissenschaftler-Rolle im Sinne einer gesellschaftskritischen, historischen Aufklärung: Er selbst tritt mit dem Gestus des Wissenschaftlers auf, der die historischen Fakten und die ,,wirklichen geschichtlichen Abläufe" gegen die Mythologisierungen historischer Biografik und die ,,Scherenschnitte" des Unterhaltungsfernsehens (S. 165) setzt. Darüber hinaus zeigen Heers Interventionen und Kritiken, was auch jüngere Arbeiten zur Geschichtspolitik und der ,,Zeitgeschichte als Streitgeschichte" vermitteln: dass Erkenntnis und Interesse, Vorverständnis und Forschungsprozess nicht säuberlich voneinander zu trennen sind und die Berufung auf ,,Wissenschaftlichkeit" nicht nur der Einhaltung bestimmter Standards dient, sondern auch der symbolischen Abgrenzung in öffentlichen Debatten. (4) Ob man als Historiker daraus die Notwendigkeit verstärkter methodischer Kontrolle und rhetorischer Zurückhaltung ableitet oder darin eine Aufforderung zum offenen Disput über die Wertgrundlagen des eigenen Arbeitens sieht, ist ein anderes Thema.

Thomas Roth, Bonn


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