ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hannes Heer, Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Aufbau-Verlag, Berlin 2004, 395 S., geb., 22,90 €.

In seiner Einleitung des Bandes legt der frühere Leiter der 1995 eröffneten und 1999 geschlossenen Ausstellung ,,Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944", der so genannten ersten ,,Wehrmachtsausstellung", Hannes Heer, offen, von welchen Prämissen er bei seinen Analysen ausgeht. Danach war die Nachkriegsrezeption von NS-Verbrechen und Vernichtungskrieg bis Mitte der Neunziger Jahre durch eine Tendenz zur Exkulpation der Täter, sofern es sich nicht um isolierte Gruppen handelte, geprägt. Erst Victor Klemperes Tagebücher, das Buch von Daniel Goldhagen zu den Deutschen als ,,Hitlers willige Vollstrecker" und nicht zuletzt die vom Autor selbst geleitete erste ,,Wehrmachtsausstellung" hätten einen Perspektivenwechsel hin zur ,,Volksgemeinschaft als Organ des NS-Regimes", die ,,durchdrungen vom Judenhass und befeuert vom Antibolschewismus zum Täterkollektiv [wurde], das sich in den Jahren 1939 bis 1945 nie da gewesener Verbrechen schuldig machte"(S. 8.), bewirkt. Mit der Schließung dieser ,,Wehrmachtsausstellung" aber habe wieder eine rückwärtsgewandte Sichtweise an Dominanz gewonnen, die den Deutschen den Status eines Volks von Opfern zuschreiben möchte; diesen Opfermythos befördere in erster Linie Jörg Friedrichs Buch ,,Der Brand".

Von diesen Prämissen ausgehend erörtert Hannes Heer die Verbrechen der Wehrmacht und den Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft damit anhand von acht Beispielen: dem ,,Verschwinden der Täter" in der 2001 eröffneten Ausstellung ,,Verbrechen der Wehrmacht; den Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1945", der zweiten so genannten ,,Wehrmachtsausstellung"; dem Verwischen der Spuren zu den Tätern durch die Verantwortlichen der Wehrmacht selbst; der Mentalität deutscher Soldaten an der Ostfront; der Rolle des damaligen Offiziers Ernst Jünger beim Verschweigen der Kriegsverbrechen; den Schwierigkeiten der Autoren Heinrich Böll und Erich Maria Remarque, deren wehrmachtskritische Werke nicht gedruckt (Böll) oder massiv zensiert (Remarque) wurden, während Peter Bamms Bestseller ,,Die unsichtbare Flagge" der Legende von der ,,sauberen Wehrmacht" zum Durchbruch verhelfen konnte; den vielfach gebrochenen Erzählungen von Besuchern der ersten ,,Wehrmachtsausstellung"; den Arbeiten des Historikers Bogdan Musial zur Schuld der Bolschewisten und ,,Tätern jüdischer Herkunft" (S. 272); der Umdeutung des Bombenkrieges über Deutschland als Beweis für die Opferrolle der Deutschen und dessen Parallelisierung mit Auschwitz bei Jörg Friedrich.

Der Autor belegt seine Thesen materialreich und gekonnt. Mit Recht verweist er darauf, dass die pauschale Kritik an den Fotos der ersten ,,Wehrmachtsausstellung" verkenne, dass diese den Brieftaschen der deutschen Soldaten entnommenen privaten Aufnahmen ein weitgehend authentisches Bild auf das massenhafte Aufhängen, Erschießen, Deportieren von Zivilisten und Totquälen ermöglichte. Sein Hinweis, dass solche Fotos meist aus osteuropäischen Archiven, in die sie als Beutestücke der Roten Armee gelangten, stammten, weil ,,die öffentlichen Archive der Bundesrepublik an einer Sammlung und Erschließung dieser privaten Soldatenfotos aus politischen Gründen nie interessiert waren und die Fotoalben der ehemaligen Landser von diesen vernichtet oder nicht zugänglich waren" (S. 56) erscheint plausibel. Ebenso ist die Kritik Heers an der Ende 2001 eröffneten und im Frühjahr 2004 geschlossenen zweiten ,,Wehrmachtsausausstellung", diese verzichte weitgehend auf konkrete Schauplätze des Vernichtungskriegs, wie dies die Vorgängerausstellung an konkreten Beispielen - etwa der 6. Armee auf dem Vormarsch nach Stalingrad oder dem Verhalten der Wehrmacht beim Judenmord in Serbien - macht, berechtigt.

Und doch können die Darstellungen Heers in einigen durchaus bedeutsamen Punkten nicht überzeugen. So räumt er zwar selbst ein, dass die in der ersten Ausstellung verwendeten Fotos ,,meist keine erklärenden Bildunterschriften" trugen und ,,fast nie der Name der Einheit vermerkt" war, unterstellt aber gleichzeitig den Verantwortlichen der zweiten ,,Wehrmachtsausstellung", deren Bildauswahl sei täterfreundlich, weil sie vorwiegend Fotomaterial der Propagandakompanien verwende. Dieser Deutung ist Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschung u.a. am Beispiel der Aufnahmen zum Judenmord bei Babij Jar überzeugend entgegengetreten.(1) Dass Heer keine differenzierte Bewertung der zweiten ,,Wehrmachtsausstellung" vornimmt und auch deren Orientierung am zeitgenössischen Kriegsvölkerrecht nicht zu würdigen vermag, ist wohl den Erfahrungen der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um 'seine' Ausstellung geschuldet, die sicher nicht nur wegen der wenigen offensichtlich falschen Bildlegenden geschlossen wurde. Immerhin bedauert er die seinerzeit von ihm initiierten juristischen Klagen gegen Bogdan Musial und Rolf-Dieter Müller als ,,Torheit", die aus ,,einer durch die permanenten Angriffe entstandenen Bunkermentalität" erklärt werden müsse (S. 315). Da er jedoch gleichzeitig Bogdan Musial mit einem fragwürdigen Beleg in die Nähe von Geschichtsrevisionisten rückt (S. 314, Anm. 40) erscheint dieses Bedauern als typisch für die seiner Darstellung immanenten Ambivalenzen. Leider setzt sich der Autor in keiner Weise mit der von pädagogischer und geschichtsdidaktischer Seite vorgebrachten und begründeten Kritik auseinander, die von ihm geleitete erste ,,Wehrmachtsausstellung" habe aufgrund ihrer selektiven Bildauswahl und Art der Präsentation ,,suggestiv auf viele Jugendliche gewirkt" und zu deren ,,emotionalen und fachlichen Überwältigung" geführt.(2)

Trotz dieser nicht weg zu diskutierenden Mängel insistiert der Rezensent darauf, dass Hannes Heer mit seinen Analysen tiefgründige Einsichten in die Realität des Vernichtungskrieges unter der Verantwortung der Wehrmacht ermöglicht und dessen geschichtspolitisch motivierte Deutungsmuster nach 1945 bis heute erhellt. Die Darstellung Heers kann mit beträchtlichem Gewinn gelesen werden, wenn der Rezipient deren Einseitigkeiten und Ausblendungen reflektiert. Denn Hannes Heer ist ein Meister beim textlichen In-Szene-Setzen seiner Anschauungen und Thesen, der dazu neigt, wohl begründete kritische Positionen zu marginalisieren.

Wigbert Benz, Filderstadt



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