ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Willy Albrecht (Hrsg.), Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien, Bd. II: 1948 bis 1950, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2003, CXI, 472 S., geb., 49,80 €.

Dem 1999 erschienenen, gleichfalls von ihm bearbeiteten ersten Band der Editionsreihe der Sitzungsprotokolle der Spitzengremien der SPD hat Willy Albrecht jetzt den zweiten Band folgen lassen.(1) Der Konzeption der Edition folgend umfasst Band II die Amtsperiode des Parteivorstands zwischen den Vorstandswahlen auf den ordentlichen Parteitagen vom 12. bis 14. September 1948 in Düsseldorf und vom 21. bis 25. Mai 1950 in Hamburg. Die Zusammensetzung und innerorganisatorische Entwicklung der betreffenden Gremien Parteivorstand, Parteiausschuss und Kontrollkommission werden wieder in der Einleitung ausführlich erläutert. Der Dokumententeil gliedert sich um 19 Hauptdokumente, die von Protokollen der Sitzungen des Parteivorstands, von gemeinsamen Sitzungen von Parteivorstand, Parteiausschuss und Kontrollkommission oder von Besprechungen der obersten Parteigremien mit sozialdemokratischen Landespolitikern, mit der SPD-Fraktion des Parlamentarischen Rates und mit der Bundestagsfraktion gebildet werden. Albrecht hat die im ersten Band angefangene begrüßenswerte Übung beibehalten, zusätzlich zu den Protokollen auch die verabschiedeten Beschlüsse und Resolutionen, die entsprechenden Pressemitteilungen sowie wichtige Vorlagen und Bezugstexte für die Beratungen abzudrucken. Als Beispiel (Anlage 6 zu Dokument Nr. 9) sei der eigentlich als gedruckte Broschüre vorgelegte ,,Plan A" genannt, das sehr konkrete, durchgerechnete und die finanziellen und produktionsmäßigen Kapazitäten berücksichtigende Wohnungsbauprogramm der SPD. Durch Querverweise sind Einleitung und Dokumente auch in diesem Band miteinander eng verknüpft.

Die Themenschwerpunkte der Sitzungen des Vorstands und der anderen Gremien in den betreffenden zwei Jahren gliedert Albrecht in der Einleitung in fünf Komplexe: 1. Innerorganisatorische Probleme wie Ausbau der Parteizentrale, Verhältnis zwischen zentralen und regionalen Parteigliederungen, Verhältnis des Parteivorstands zur Bundestagsfraktion und Beziehungen zur Sozialistischen Internationale und einzelnen sozialdemokratischen Partnerparteien auf europäischer Ebene. 2. Politische Auseinandersetzungen in der Zeit der Gründung der Bundesrepublik wie um die Schaffung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat, das Wahlgesetz, die Vorbereitungen für die erste Bundestagswahl, deren Ausgang und Bewertung, die Auseinandersetzungen um den provisorischen Bundessitz, die Konstituierung von Bundestag und Bundesrat und die Wahl des ersten Bundespräsidenten. 3. Die Souveränitätsbeschränkung der Bundesrepublik mit den Aspekten Besatzungsstatut und Ruhrstatut, Petersberger Abkommen, Frage der Beteiligung der SPD an einem diplomatischen Dienst, Auseinandersetzung um Art und Weise eines europäischen Zusammengehens, Kampf gegen die Remilitarisierungspläne der Bundesregierung und anhaltende Bemühungen der SPD um eine radikale Reform des Sozial- und Wirtschaftssystems. 4. Auseinandersetzungen mit den anderen politischen Parteien CDU und CSU, FDP und DP, Zentrum, KPD und Rechtsradikalen. 5. Beziehungen zu wichtigen überparteilichen Organisationen und Gruppierungen wie Gewerkschaften, Kirchen, Künstlern und Intellektuellen, Juden und anderen NS-Geschädigten.

Beim Durchgehen der Dokumente stößt der Leser, auch wenn er sich grundsätzlich in der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik auskennt, immer wieder auf einzelne Punkte, die aus heutiger Sicht bemerkenswert sind und fühlen lassen, wie anders die Zeiten vor über fünfzig Jahren waren, auch wenn unsere Gegenwart auf den damaligen Entscheidungen aufbaut. So lehnten in der Debatte um das Grundgesetz die Verfassungsexperten der SPD, Walter Menzel und Carlo Schmid, im September 1948 die heute selbstverständliche Bezeichnung ,,Bundesrepublik Deutschland" ab, weil sie ,,zu sehr einen staatlichen Charakter" verrate (S. 12), also nicht genügend den Charakter des Provisoriums betonte und dem Anspruch auf eine staatliche Wiedervereinigung entgegenzustehen schien. Menzel lehnte es sogar ab, entsprechend den Forderungen der Gewerkschaften soziale Inhalte ins Grundgesetz zu schreiben, u.a. weil dies ebenfalls ,,den Verfassungscharakter betonen" würde (S. 13). Die bekannte Schärfe der Rhetorik von Kurt Schumacher wird sichtbar in seinem Referat vor den Spitzengremien der Partei am 20. April 1949, wo er innerhalb weniger Zeilen (S. 166 f.) Formulierungen gebrauchte wie ,,Entscheidung auf Tod und Leben" und ,,Tod der Partei" und vom ,,räuberischen, betrügerischen und vertragsbrecherischen Charakter" der CDU/CSU sprach. Die Redeweise seines Stellvertreters Erich Ollenhauer unterschied sich davon deutlich, ohne dass er in einen inhaltlichen Gegensatz zu Schumacher kam (vgl. das Hauptreferat Ollenhauers am 22. Januar 1949, S. 80 ff.). Das Ausmaß des Problems der Flüchtlinge und Vertriebenen wird illustriert durch die Tatsache, dass in Schwaben 69 Prozent und in Schleswig-Holstein 65 Prozent aller SPD-Mitglieder Flüchtlinge und dabei in Schleswig-Holstein im Sommer 1949 45 Prozent aller Parteimitglieder arbeitslos waren (S. 237). Der Flüchtlingsstrom aus dem sowjetischen Machtbereich schwoll im Herbst 1949 derart an, dass am 16. November 1949 einige Vorstandsmitglieder darüber diskutierten, ob die innerdeutsche Grenze von westlicher Seite gesperrt werden solle (S. 291). Den Diskutanten war nicht bewusst - worauf Schumacher dann hinwies -, dass nach den Bestimmungen des seit einem halben Jahr geltenden Grundgesetzes keinem Deutschen der Zutritt verweigert werden durfte. Die Furcht vor einem Erstarken des ,,Neofaschismus" nach dem ,,Fall Hedler" ließ in der Vorstandssitzung am 13. März 1950 (S. 342 f.) einzelne Teilnehmer in Kategorien aus der Weimarer Republik von Gewaltanwendung auf der Straße, Gründung von Gewerkschaftshundertschaften in den Betrieben, Saalschutz, militärähnlicher Organisierung sowie Versagen von Justiz und Polizei sprechen (S. 360 ff.).

Der vollständige Abdruck der Reden und Referate Schumachers vor den Parteigremien macht noch einmal deutlich, dass seine schon damals von vielen als ,,Nationalismus" empfundene harte Position in der Frage der künftigen Organisation Europas, gegen die Besatzungsmächte, gegen das Ruhrstatut und das Besatzungsstatut in Wahrheit auf der Sorge um die sich langsam entwickelnde Demokratie in Westdeutschland beruhte. Jeder Punkt mangelnder Gleichberechtigung und eingeschränkter Souveränität, der auf Verordnung der Besatzungsmächte und nicht auf freiem, demokratischem Willen des deutschen Volkes beruhte, die Abtrennung des Saargebiets und anderer kleiner Gebiete im Westen, die Aufforderung zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und ein Arrangement mit dem kommunistischen Regime in der sowjetischen Zone untergruben für Schumacher die moralische, politische und rechtliche Legitimität des demokratischen Neuaufbaus und boten argumentative Einfallstore für Rechtsradikale und Kommunisten.

Im Anhang sind Übersichten über die Teilnahme der einzelnen Mitglieder der Gremien an den jeweiligen Sitzungen zusammengestellt. Außerdem finden sich Kurzbiografien über diejenigen Mitglieder des Parteivorstands in den Jahren 1948 bis 1950, die nicht bereits 1946 bis 1948 Mitglieder waren und daher in Band I behandelt worden sind. Der zweite Band der Editionsreihe folgt nahtlos dem editorischen Niveau des ersten und lässt auf baldige Fortsetzung der Reihe hoffen.

Christoph Stamm, Bonn





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