ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Willy Albrecht (Hrsg.), Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien, Bd. I: 1946 bis 1948, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 1999, CXXXV, 555 S., geb., 98 DM.


Willy Albrecht, wissenschaftlicher Mitarbeiter des historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung und durch verschiedene Veröffentlichungen zur hier behandelten Zeit ausgewiesen, hat den ersten Band einer auf neun Bände angelegten Edition der Sitzungsprotokolle des Parteivorstandes und der Spitzengremien der SPD vorgelegt. Diese Editionsreihe wird die Zeit des Wiederaufbaus der SPD in der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Gründung der Bundesrepublik und der ,,radikalen" (Albrecht) Opposition der SPD auf Bundesebene umfassen. Die Bände sollen jeweils die Protokolle aus einer der rund zwei Jahre dauernden Amtsperioden eines Parteivorstands zwischen ordentlichen Parteitagen enthalten. Der erste Band bildet insofern eine Ausnahme, als der erste - 1946 gewählte - Vorstand bereits im Juni 1947 neu gewählt wurde.
Der vorliegende Band beginnt mit der konstituierenden Sitzung des Parteivorstands nach dessen Wahl auf dem ersten Nachkriegsparteitag in den Westzonen am 11. Mai 1946 und endet mit den Sitzungen der obersten Parteigremien am 10. und 11. September 1948 zur Vorbereitung des Parteitags in Düsseldorf. Entstehung und Zusammensetzung der betreffenden Gremien werden in der Einleitung Albrechts ausführlich erläutert. Das Gerüst der Edition bilden die Protokolle der Sitzungen des Parteivorstands. Dazu kommen die Protokolle der gemeinsamen Sitzungen von Parteivorstand und Parteiausschuss sowie Protokolle von Besprechungen, zu denen das ,,Büro", wie der geschäftsführende, aus fünf besoldeten Mitgliedern bestehende Parteivorstand intern genannt wurde, alle sozialdemokratischen Regierungschefs bzw. stellvertretenden Regierungschefs der Länder einlud. Ebenfalls wurden die gemeinsamen Sitzungen der Parteigremien mit der sozialdemokratischen Fraktion des Wirtschaftsrats der Bizone aufgenommen. Unmittelbar vor dem Parteitag Ende Juni 1947 in Nürnberg gab es auch gemeinsame Sitzungen des Parteivorstands bzw. des Parteivorstands und des Parteiausschusses mit der Kontrollkommission, die auch durch Protokolle vertreten sind. Stark erhöht wird der Quellenwert des Bandes dadurch, dass Willy Albrecht zusätzlich zu den Verlaufsprotokollen auch, soweit er sie ermitteln konnte, die verabschiedeten Beschlüsse und Resolutionen sowie wichtige Vorlagen für die Beratungen abdruckt. Auf weniger wichtige Beratungsunterlagen wird in den Anmerkungen eingegangen. Parallelüberlieferungen, etwa Aufzeichnungen anderer über die Gremiensitzungen, oder Kommuniqués für die Presse werden auch dann wiedergegeben, wenn sie schon woanders veröffentlicht wurden. Der besseren Zugriffsmöglichkeit für den Benutzer wurde hier in begrüßenswerter Weise Vorrang eingeräumt vor der Überlegung, durch einfache Verweise auf andere Publikationen Geld sparen zu können.
Die Themenschwerpunkte der Sitzungen des Vorstands und der anderen Gremien in der behandelten Zeit können mit Albrecht fünf Komplexen zugeordnet werden: 1. Innerorganisatorische Probleme wie Auf- und Ausbau der Parteizentrale in Hannover, Verhältnis der Zentrale zu den regionalen Organisationen, Widerstand gegen separatistische Bestrebungen (Flensburg, Saarland), Bemühungen um die Rückkehr von Emigranten und die Errichtung von Auslandsvertretungen der SPD, Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Sozialdemokraten in der SBZ durch die Errichtung eines ,,Ostbüros", erste Schritte zur Schaffung eines neuen Parteiprogramms sowie Angelegenheiten der Parteipresse. 2. Aufnahme der Beziehungen zu den sozialdemokratischen Parteien des Auslands, womit die Auseinandersetzung um die Frage der Kontrolle des Ruhrgebiets verknüpft war. 3. Schaffung eines ,,neuen" deutschen Staates (anfängliche Bemühungen um Erhaltung der staatlichen Einheit, dann Befürwortung zonaler Zusammenschlüsse einschließlich des Wirtschaftsrats für die Bizone, Versuche der Einflussnahme auf die Politik der Landesregierungen, Auseinandersetzungen um die Sozialisierung von Großbanken und Großindustrie, Bejahung des Marshallplans, Währungsreform in den Westzonen und Blockade Berlins, Vorbereitung des Parlamentarischen Rates). 4. Auseinandersetzungen mit anderen Parteien, vor allem KPD/SED und den ihr nahe stehenden Organisationen wie die VVN. 5. Beziehungen zu gesellschaftlich relevanten Gruppen der Westzonen wie Gewerkschaften, Kirchen, Künstlern und Intellektuellen. Auch die Beziehungen zu den Juden vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen und die Wiedergutmachungsfrage wurden thematisiert.
Die umfangreiche Einleitung erörtert wichtige Sachverhalte, die in den Protokollen erwähnt werden, und verweist auf die entsprechenden Dokumente. Umgekehrt enthalten Erwähnungen von Vorgängen in den Dokumenten Verweise auf die Einleitung. So ist für die zusammenhängende Darstellung der Tätigkeit des Parteivorstands und der ihn beschäftigenden Probleme die Dokumentenbasis gegeben, und der Leser der Protokolle geht nicht verloren in der Aneinanderreihung von Erwähnungen und Anspielungen auf Vorgänge, die sich nicht von allein erklären. Darüber hinaus beschränkt sich Albrechts Kommentar im sorgfältig erarbeiteten Anmerkungsapparat auf technisch-sachliche Erläuterungen und enthält sich, dem Standard einer wissenschaftlichen Edition entsprechend, aller inhaltlichen Bewertung.
Der Band leistet also die umfassende Wiedergabe der Diskussionen und Beschlüsse der Führungsgremien der SPD in den Jahren 1946 bis 1948, soweit sie schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Die Edition der Dokumente enthebt natürlich den Forscher nicht der Pflicht der Quellenkritik, zum Beispiel der Überlegung, inwieweit die protokollierten Vorgänge den tatsächlichen Vorgängen entsprechen. Dadurch, dass die vorliegenden Protokolle in der Regel den Verlauf von Diskussionen, die Namen der Diskutanten mit den von ihnen vertretenen Standpunkten und manchmal auch das Abstimmungsverhalten wiedergeben, lässt sich die Willensbildung im Parteivorstand in der Auseinandersetzung zwischen einzelnen Personen und Gruppierungen gut erkennen. Die in den edierten Dokumenten behandelten Vorgänge sind für die Forschung grundsätzlich nicht neu, da diese Dokumente auch bisher schon zugänglich waren. Die Möglichkeit aber, durch einen Griff ins Regal die Unmittelbarkeit der Quellen sprechen lassen zu können und nicht auf inhaltliche Wiedergaben aus zweiter Hand angewiesen zu sein, ist durch nichts zu ersetzen.
Im Anhang sind Übersichten über die Teilnahme der einzelnen Mitglieder der Gremien an den jeweiligen Sitzungen zusammengestellt. Außerdem finden sich Kurzbiographien über alle Mitglieder des Parteivorstands in den Jahren 1946 bis 1948, womit über diesen Personenkreis noch mehr Informationen gegeben werden als die kurzen biographische Anmerkungen enthalten, mit denen sowieso alle in den gedruckten Quellenstücken genannten Personen identifiziert werden.
Mit diesem Eröffnungsband ist ein viel versprechender Anfang einer neuen Editionsreihe gemacht worden. Sie ist ein wichtiger Beitrag in dem von verschiedenen Institutionen wie dem Bundesarchiv, der Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und den historischen Bereichen der politischen Stiftungen betriebenen Bemühen, zentrale Quellen zur Vorgeschichte und Geschichte der Bundesrepublik aus den Archiven zu holen und so der Forschung sowie allen anderen Interessierten leichter zugänglich zu machen.


Christoph Stamm, Bonn


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