Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, Oldenbourg Verlag, München 2003, 275 S., brosch., 39,80 €.
,,Der Nationalsozialismus - als Ideologie wie als praktizierte Herrschaft - ist mehr als 50 Jahre nach seinem Untergang keine abgeschlossene Ära der deutschen und der universalen Geschichte; die zwölf Jahre des 'Dritten Reiches' bilden immer noch eine politische, moralische und wissenschaftliche Herausforderung, die tief in den alltäglichen Diskurs hineinreicht." schrieben Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß in ihrem Vorwort zur Enzyklopädie des Nationalsozialismus (Stuttgart 1997, S. 7). Bei der Arbeit an dieser Herausforderung hat die Geschichtswissenschaft eine nie da gewesene Fülle von Studien zu einem äußerst komplexen Forschungsfeld hervorgebracht. Dass die Literatur sowohl zum NS-Regime insgesamt als auch zu einzelnen Forschungsfeldern für den Spezialisten kaum mehr zu überschauen ist, gilt heute beinahe als Gemeinplatz. Die Schwierigkeiten bei der Deutung des Nationalsozialismus, das zeigen schon die zahlreichen Forschungskontroversen, haben sich indessen nicht verringert, sondern verkompliziert. Streit entsteht häufig nicht dort, wo die Quellenlage prekär erscheint, sondern bei der Interpretation der Forschungsergebnisse. Das ist vielfach der Fall, wenn sich politische oder moralische mit wissenschaftlichen Kategorien mischen und eine Bewertungsunübersichtlichkeit erzeugen oder, wenn in der Wissenschaft quer zu etablierten Paradigmen gearbeitet wird.(1)
Nachfolgend geht es vor allem um die Besprechung einer Forschungsbilanz, zusätzlich zu ihrem inhaltlichen Ertrag ein spezifisches Licht auf die Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Deutung wirft. Daran anschließend wird im letzten kürzeren Teil dieses Beitrags zu einer Bewertung dieses konzeptionellen Neuansatzes Stellung genommen.
Diese Stellungnahme bezieht sich auf die unlängst in dieser Zeitschrift erschienene Rezension von Rüdiger Hachtmann(2) zu meiner Arbeit über das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten. Der Verfahrensweise von Rüdiger Hachtmann, weder das von mir verwendete Analysekonzept vorzustellen, noch das Wesentliche des Interpretationsmodells zu bewerten und stattdessen seine eigenen Gedanken zum thematischen Herangehen zu äußern, soll damit begegnet werden.
Die parallele Bezugnahme auf die Arbeiten von Riccardo Bavaj und Michael v. Prollius erscheint angebracht, da sie der Versuch eint, die Ambivalenz des Nationalsozialismus und die Antagonismen seiner Erklärungen, wenn nicht aufzulösen, so doch kompatibel zu machen. Ausgangspunkt der Arbeit von R. Bavaj und der des Rezensenten ist die Erkenntnis, dass die Ergebnisse der Forschung und der Streit um ihre Deutung sich häufig erschöpft haben, bevor sie zufrieden stellende Antworten zu geben vermögen. Es liegt nun nahe, Fortschritte einmal nicht in weiteren Detailstudien zu suchen, sondern dort, wo es sehr schwierig wird: in der Entwicklung von Analysekonzepten und Interpretationsmustern, die dem Verständnis wesentlicher Zusammenhänge dienen. Etwas Neues, einen Erkenntnisgewinn, vermögen derartige Arbeiten durch die Verarbeitung des Bekannten unter einer veränderten Perspektive zu erzielen. Gerade hierzu bieten theoriegeleitete Analysen historischer Zusammenhänge beträchtliche Chancen.(3)
Riccardo Bavaj verleiht mit seiner detaillierten Forschungsbilanz zur Moderne im Nationalsozialismus dem ambivalenten Modernisierungsparadigma Erklärungskraft und löst die Widersprüche zwischen ,,modernists" und ,,modernisern" auf. ,,Die konsequente Verwendung des Modernisierungsparadigmas als interpretatorischem Generalzugang zur NS-Herrschaft" (S. 3) ermöglicht ihm eine gleichermaßen facettenreiche wie kompakte Deutung des Nationalsozialismus. Zwei weitere Vorteile sind mit dieser Vorgehensweise verbunden: Erstens wird die Entstehung der Moderne weniger als Ergebnis einer Evolution als vielmehr als das Produkt einer kontingenten Entwicklung begriffen. Dies entspricht einer Auffassung, welche die Nicht-Linearität historischer Ereignisse betont und Raum lässt für ein historisches Verständnis jenseits einfacher Ursache-Wirkungszusammenhänge. Zweitens wird damit ein Schritt in Richtung Werturteilsfreiheit des Wissenschaftlers getan.
Um die Frage zu beantworten ,,ob bzw. was säkulare Begriffe wie Moderne, Modernität und Modernisierung mit dem 'Dritten Reich' zu tun haben"(4), hat Riccardo Bavaj keine Mühen gescheut. Die über 65 Seiten des klein gedruckten, übersichtlich gegliederten Literaturverzeichnisses belegen dies. Der junge Bonner Historiker geht wie folgt vor: Nach einer Einleitung, die den Rahmen für die Darstellung absteckt, folgen zwei Abschnitte. Der deutlich kürzere erste Teil bietet auf 40 Seiten einen Forschungsüberblick über die Debatte von Nationalsozialismus und Moderne. Er ist noch einmal unterteilt in ältere und neuere Deutungen der Forschung. Erstere reichen u.a. von Franz Borkenau und Hermann Rauschning über Ralf Dahrendorf, Joachim Fest und Ernst Nolte bis zu Klaus Hildebrandt, Horst Matzerath und Heinrich Volkmann sowie Hans-Ulrich Thamer. Sie mündeten Ende der Achtzigerjahre in die weithin geteilte Auffassung, der Nationalsozialismus habe zumindest indirekte Modernisierungseffekte befördert, die sich zu einem nicht zu leugnenden Modernisierungsschub verbanden. Dieser Forschungskonsens wurde durch Martin Broszats Historisierungsforderung und Rainer Zitelmanns Deutung, Hitler sei ein bewusster ,,Sozialrevolutionär" gewesen, erschüttert. Zusätzlich angefacht wurde die Debatte durch die kontroversen Beurteilungen der Verortung des Nationalsozialismus in der deutschen und europäischen Geschichte (Kontinuität und Diskontinuität, deutscher Sonderweg, Diktaturenvergleich). In der jüngeren Auseinandersetzung um Modernität und Modernisierung im Nationalsozialismus stehen sich im Grunde zwei Lager gegenüber: Während das ,,normative Lager" Modernisierung positiv-fortschrittlich begreift und folglich im Nationalsozialismus nur eine vorgetäuschte Modernisierung oder einen Mythos der Modernisierung erkennt, fokussiert dagegen das ,,empirische Lager" die modernisierenden Absichten und Wirkungen der Nationalsozialisten. Riccardo Bavaj arbeitet sehr anschaulich eine dritte, auf Detlev Peukert, daneben auch auf Tim Mason und Zygmunt Baumann zurückgehende Position heraus. Diese weiß wesentliche Aspekte der beiden antagonistischen Lager zu subsumieren und begreift die Moderne selbst als ambivalent und kontingent. In dieser Sicht ist der Nationalsozialismus ,,eine, wohl die fatalste Entwicklungsmöglichkeit der Moderne" (Detlev Peukert, S. 53). Diese Perspektive wird im zweiten, umfangreichen Teil ,,Das 'Dritte Reich': Ein Phänomen der Moderne" fruchtbar gemacht.
Vor allem zwischen den Zeilen wird dabei die Streitkultur geschichtswissenschaftlicher Auseinandersetzungen sichtbar, zu denen ,,[w]eltanschauliche Voreingenommenheit" (S. 3), Deutungskämpfe bis hin zum Kampf um die ,,kulturelle Hegemonie" (Ulrich von Hehl, S. 3), ,,Political Correctness" und Spitzfindigkeit, teils beabsichtigtes, teils fahrlässiges Missverstehen, Missgunst und gekränkte Eitelkeiten, aber auch iterativer Erkenntniszuwachs und eine bemerkenswerte Interpretationsbandbreite zählen. Angesichts dieser schwierigen Gemengelage schickt Riccardo Bavaj in seiner Einleitung voraus: ,,Gerade bei der Modernisierungsdebatte fällt auf, dass über die verschiedenen Lesarten einer Quelle hinaus auch Texte der Forschungsliteratur zuweilen auf sehr verschiedene Weise verstanden und teilweise unzulässig selektiv in die Argumentation der eigenen Sichtweise eingebaut werden können:" (S. 2 f.)
Die klare Struktur der eigentlichen Forschungsbilanz, die sich im Literaturverzeichnis widerspiegelt, deckt alle wichtigen NS- Themenfelder ab: 1. Gesellschaft, 2. Wirtschaft und Rüstung, Wissenschaft, 3. Technik und Umwelt, 4. Kunst, Kultur, Städte- und Wohnungsbau sowie 5. Rassenpolitik. Unter dem Leitmotiv der Ambivalenz der Moderne wird in sehr gut lesbarer, streckenweise gelehrter Form die beträchtliche Vielfalt der Erkenntnisse und Deutungen der Forschung gebündelt. Auf diese Weise entsteht neben der Deutung auch ein instruktives Gesamtbild des Nationalsozialismus.
In diesem ist der ambivalente Charakter der nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik nicht zu übersehen. Utopische, revolutionäre, restaurative, integrierende und ausschließende, harmonisierende und mobilisierende Strömungen verbanden sich zu einer ,,eigentümlich-dialektischen 'Einheit von Wirtschafts-, Sozial- und Rassenpolitik'" (S. 60). Deutlich wird dies an der ,,Volksgemeinschaft", die als ,,Dritter Weg" verstanden werden kann, der die Klassengesellschaft überlagerte, die sozialökonomische Prägung des Bewusstseins der Gesellschaft aufzuheben und zu ersetzen suchte. Zwar wurde die rassisch selektierte, technisch fortgeschrittene Wohlstandsgesellschaft letztendlich nicht etabliert, aber die Aufweichung sozialer Bindungen und die propagandistisch geleitete Veränderung des sozialen Bewusstseins blieb weit über die zwölf Jahre des ,,tausendjährigen Reiches" wirksam. Trotz der anti-individualistischen, anti-gesellschaftlichen, pro-gemeinschaftlichen Bestrebungen fand zugleich ein erheblicher ,,Rückzug ins Private" statt. Es entstand eine Art ,,totalitäre Demokratie" (Ronald Smelser), die sich nach den Vorstellungen der DAF zu einem totalitären Wohlfahrtsstaat entwickelt hätte. Tatsächlich blieb die Sozialpolitik hinter den Leistungen der Weimarer Republik zurück. Auffällig ambivalent ist auch die Familienpolitik und die Stellung der Frau. Kurzum, in der von Riccardo Bavaj herausgearbeiteten Perspektive erscheint die nationalsozialistische Gesellschaftspolitik ,,[w]eniger als Gegenentwurf zur Moderne denn als Entwurf einer anderen Moderne" (201). Eine Auffassung, die hinsichtlich der Konzepte und ihrer Realisierung noch deutlicher hätte herausgearbeitet werden können, aber zugegebener Maßen nicht im Mittelpunkt einer Forschungsbilanz, sondern dann nur als Teil eigenständiger Publikationen existieren kann.(5)
Der Abschnitt über Wirtschaftsordnung, Wachstums- und Beschäftigungspolitik (S. 128-135) bleibt hinsichtlich der Organisation der Ordnung und seiner Ausprägungen als autarkistischer Großraumwehrwirtschaft recht blass.(6) In der Wirtschaft standen erhebliche Rationalisierungsanstrengungen, mit ,,Ingenieurtrupps" des Amts für Betriebsführung und Berufserziehung als Vorläufer von Unternehmensberatern, erheblichen, nicht ausgeschöpften Potenzialen in der Organisation, Koordination sowie der Umsetzung der Massenfertigung bei relativ geringer Arbeitsproduktivität gegenüber. Hervorgehoben sei aus dem Kapitel Wissenschaft, Technik, Umwelt noch die Verbindung von ,,Naturschutz, Zivilisationsskepsis und verkehrstechnische[r] Modernisierung" zu einem ,,erprobte[n] Modell" mit nachhaltigen Wirkungen (S. 152). Der nationalsozialistische ,,Rassenstaat" (Michael Burleigh/Wolfgang Wippermann) erscheint mit der Vernichtung und Züchtung von Leben als totalitäre Variante der Moderne, die sich mit der rassisch-organischen Siedlungen im östlichen ,,Lebensraum" zu einem ,,gigantische[n] Projekt des Social Engineering" auswuchs. In der Vernichtung von Menschen als Mischung aus archaischer Ermordung und fabrikmäßiger Beseitigung kommt der Geist der Moderne in seiner pervertierten und grausam konsequenten Form der ,,Banalität des Bösen" (Hannah Arendt) vollzogen durch die Technokraten der ,,Generation des Unbedingten" (Michael Wildt) zum Ausdruck.
In der Schlussbetrachtung fasst Riccardo Bavaj die Ergebnisse zu einem Bild der Moderne zusammen, das durch Kontingenz gezeichnet ist. Das "Dritte Reich" war als ein totalitärer und moderner Rassenstaat ,,in seinem Kern ausgesprochen vorwärts gewandt und zukunftsgerichtet" (201). Beabsichtigte Modernisierungseffekte wie die der Unterhaltungs- und Freizeitindustrie wurden mit der Instrumentalisierung des allgemeinen, nicht auf zu haltenden Industrialisierungsprozesses verbunden und vom Versuch einer harmonisch-ästhetischen und organischen Versöhnung von Technik und Natur sowie der Begünstigung der Erosion und Enttraditionalisierung von Sozialstrukturen flankiert. Ziel war ,,eine fortschrittliche, straff geordnete, nach rassisch-biologistischen Kriterien selektierte Leistungsgesellschaft, abgesichert durch ein modernes zentralisiertes, rationalisiertes und differenziertes Sozial- und Gesundheitssystem". (S. 203). Als Revolution erscheint in dieser Perspektive allein die Errichtung eines Rassenstaates. Deutlich werden die Gefahren und Konsequenzen der Moderne trotz oder gerade wegen der Singularität des ,,Dritten Reiches".
Riccardo Bavaj gelingt es mit seiner Forschungsbilanz die Komplexität der Ergebnisse und Interpretationen der NS-Forschung mit dem Modell der Ambivalenz der Moderne zu vereinen. Damit lässt sich das ,,Dritte Reich" historisieren. Der Versuch des NS-Regimes, die Moderne in eine nationalsozialistische Richtung zu lenken, wird so deutlich erkennbar wie selten zuvor. Zugleich macht die konzise Bilanz deutlich, wie schwierig es ist, zu neuen bzw. tragfähigen Aussagen zu kommen. Allerdings zeichnen sich auch die Grenzen der analytischen Kraft des Ambivalenz-Ansatzes ab. Da Komplexität nicht durch Simplizität, sonder nur durch reduzierte Komplexität bearbeitet werden kann, muss das facettenreiche Forschungsbild im Detail durch partielle Unüberschaubarkeit und Unvereinbarkeit, zuweilen Beliebigkeit gekennzeichnet sein. Vielleicht kommt es damit der Wirklichkeit näher, begreif- oder handhabbarer wird es gleichwohl auf dieser Ebene nicht. Jedoch ermöglicht die klare Gliederung der Arbeit einen hilfreichen Zugriff und eine Übersicht über die Fülle der Details. Hinzu kommt, dass die Erkenntnis um die Ambivalenz und Antagonismen von Nationalsozialismus und Moderne ein überaus respektables und bedenkenswertes Ergebnis darstellen. Nur in welcher Weise ist mit der festgestellten Paradoxie umzugehen? Was bedeutet etwa die Gleichzeitigkeit politischer Partizipation und der Rückzug ins Private? Ist die Aufgabe der Historiker darauf beschränkt, die Welt zu verstehen? Ausgeblendet bleiben beim Ambivalenz-Paradigma die Muster der Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise des Nationalsozialismus. Ohne die Kenntnis dieser Muster bleibt das Verständnis des Nationalsozialismus und seines Wesens unvollständig, wird ein frühzeitiges Wahrnehmen künftiger Zivilisationszusammenbrüche erschwert. Ist hier eine Grenze der Geschichtswissenschaft erreicht? Kann diese Grenze durch Interdisziplinarität, z.B. einer Zusammenarbeit mit der Philosophie, der Soziologie oder den Wirtschaftswissenschaften, überwunden werden? An diesen Fragestellungen setzt meine Arbeit über das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten in der Friedenszeit an.(7)
Gegenstand ist ein interdisziplinäres, institutionenökonomisch unterlegtes Modell, das die Widersprüche im Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten (Struktur und Handlung, Funktion und Intention, Polykratie und Monokratie) durch die Identifikation elementarer Prinzipien einer spezifisch nationalsozialistischen Ordnung aufzulösen sucht. Ziel ist es, ,,Intention, Planmäßigkeit und Rationalität mit Zufall, Improvisation und Irrationalität zu verbinden"(8), und damit den Gegensatz zweier unterschiedlicher Forschungsperspektiven gleichsam vereinend für einen neuen Ansatz nutzbar zu machen. Dazu wird unter dem Blickwinkel der Steuerungsperspektive herausgearbeitet, dass die nationalsozialistischen Machthaber in ständiger Organisationstätigkeit (nicht Planungstätigkeit) begriffen waren. Sie schufen einerseits Großorganisationen wie den Reichsnährstand, die Deutsche Arbeitsfront und den Vierjahresplan und änderten andererseits durch ,,Ad hoc"-Interventionen und zahlreiche Bürokratisierungs- und Lenkungsmaßnahmen die Wirtschaftsordnung grundlegend. Wichtige Entscheidungen wurden im Zuge ,,Politischer Prozesse" getroffen, d.h. durch Machtkämpfe hinter den Kulissen. Wie die Organisationstätigkeit verliefen sie ,,emergent", d.h. die Strategien waren weniger planvoll als vielmehr aus Augenblick und Gelegenheit geboren.(9) Den Nährboden dafür bildete eine grundlegende Umwälzung von Gesellschaft und Wirtschaftsweise. Es entstand die ,,Kultur des Krieges", eine grundlegende Veränderung der überkommenen Normen und Werte in Richtung der nationalsozialistischen Kriegs- und Beutewirtschaft. Diese Werteveränderung klingt bei Riccardo Bavaj in anderem Zusammenhang mit der ,,Volksgemeinschaft" (S. 58 ff.), der ,,Erosion traditionaler Bindungen" (S. 73 ff.) der ,,Veränderung des sozialen Bewusstseins" (S. 77f.), der ,,Familie und Stellung der Frau" (S. 106 ff.) sowie der Rassenpolitik an. In der Emergenz des Systems verbinden sich die Teilmodelle mit Marktprozessen zu einer spezifisch nationalsozialistischen Vorgehensweise und Ordnung. Dieser Erklärungsansatz lässt sich wegen der ,,genetischen Identität" von Wirtschafts- und NS-System auf das NS-Herrschaftssystem insgesamt anwenden und so zu einer neuen, im Jargon der Siebzigerjahre formuliert, ,,Theorie des Faschismus"(10) ausweiten.
Ein mit dieser Vorgehensweise verbundenes Problem ist die für Historiker ungewöhnliche, vermutlich - so ist zu befürchten - unverständliche Arbeitsweise, eines Denkens und Arbeitens in Modellen, die methodisch den Wirtschaftswissenschaften nahe steht. Gleichwohl sind damit Erkenntnisgewinne für die Geschichtswissenschaft durch einen Blick über den eigenen Tellerrand möglich, zur Überprüfung eines überkommenen Begriffsverständnis sogar unerlässlich. Das gilt für den Begriff des Systems, der für Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Physiker und Biologen, aber auch für Historiker(11) keinesfalls, ja zum Teil niemals mit ,,starr" oder ,,statisch" gleichgesetzt wird wie Rüdiger Hachtmann behauptet. Die Begriffe ,,Kriegswirtschaft in Friedenszeiten" und ,,Mix aus Markt und Befehl" mit ihrer begrenzten Erklärungskraft nicht einfach als des Rätsels Lösung stehen zu lassen, wie der Berliner Historiker vorschlägt, sondern die dahinter verborgenen spezifischen Funktionsmuster und die Eigenständigkeit der NS-Ordnung herauszuarbeiten, ist nun gerade das Anliegen meiner Arbeit.(12)
Riccardo Bavaj hat wie (der oben zitierte) Hans-Erich Volkmann zu bedenken gegeben, dass es sich nicht einfach um eine Kriegswirtschaft im Frieden, sondern um ein Gegenmodell zu angelsächsischer Marktwirtschaft und Freihandel in Gestalt einer ,,Großraumwehrwirtschaft" handelt. Hervorgehoben sei schließlich die allgemeine Systemtheorie, die als Metatheorie über starke Integrationskraft verfügt und zugleich einen Erkenntnisgewinn durch die Erklärung der Funktionsweise sozialer Systeme bietet. Dabei deutet einiges darauf hin, dass deren Funktionsfähigkeit allerdings auf ,,natürlichen Mustern" beruht.(13) Wenn diese gestört werden, etwa durch Interventionen, ,,schlägt" das System früher oder später zurück - je später desto heftiger. In der Nachkriegszeit belegen dies die Folgen einer zerrütteten Währung und deformierten Wirtschaftsordnung.
Kurzum, es bleibt festzuhalten: Das Anliegen beider Arbeiten zielt darauf, in die Herausforderung der Deutung des Nationalsozialismus neue Impulse einzubringen - weniger durch die Entdeckung von neuen Quellen und Details, als vielmehr durch innovative Deutungen, die das Phänomen durch eine andere Sichtweise zu erhellen suchen. Dabei muss zugleich gefragt werden: Ist der Boden für eine ,,Renaissance" der Theorie bereitet? Und: Ist ein Paradigmenwechsel zu der Sicht auf das Phänomen Nationalsozialismus möglich?
Michael v. Prollius, Berlin
Fußnoten:
1 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1976.
2 Rüdiger Hachtmann, Rezension: Michael von Prollius, Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente Organisation und Politische Prozesse, Paderborn 2003, in: AfS-Online, Oktober 2003, URL: http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80541.htm
3 Vgl. Hans Meier, Deutungen totalitärer Herrschaft 1919-1989, in: VfZ 50 (2002), S. 349-366, der die Notwendigkeit und Tendenz zu einer zusammenhängenden Sicht totalitärer Herrschaft nach einer Phase verdienstvoller Fakten-Rekonstruktion hervorhebt.
4 Klaus Hildebrandt im Vorwort von Bavaj, Ambivalenz, VII.
5 Vgl. entsprechende Ansätze für den Bereich der NS-Wirtschaft, z.B. zur Autarkie im Großwehrwirtschaftsraum, bei Hans-Erich Volkmann, Ökonomie und Expansion. Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik, München 2003; zur deutschen Volkswirtschaftlehre Christina Kruse, Die Volkswirtschaftslehre im Nationalsozialismus, Freiburg 1988 und Hauke Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren, Marburg 1998 sowie Jan Block: Die Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 im Urteil der Nationalsozialisten, Frankfurt a. M. u.a. 1997.
6 Hier vermag eine Neuerscheinung diesen Jahres Abhilfe zu leisten, da Volkmann (Ökonomie und Expansion) die NS-Expansionspolitik aus ökonomischem Blickwinkel betrachtet. Im Mittelpunkt steht die NS-Außenwirtschaftspolitik mit den drei Schwerpunkten Konzeption, Umsetzung durch militärische Expansion und Mitwirkung von Großwirtschaft und Agrareliten. Die wieder abgedruckten Aufsätze vermitteln Einblicke in das wirtschaftspolitische Kalkül der NS-Protagonisten und der deutschen Wirtschaftseliten. Es entsteht ein plastisches Bild des Lebensraumverständnisses als Kombination rasseideologischer, machtpolitischer sowie ernährungs- und industriewirtschaftlicher Komponenten.
7 Vgl. von Prollius: Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten.
9 Emergenz/emergent bedeuten hervorkommen, auftauchen, emporkommen jenseits von bloßem Zufall und Improvisation. Der Emergenz-Begriff wird außerhalb der Geschichtswissenschaften bereits seit Jahren mit beträchtlichem Erkenntnisgewinn verwandt. Eine dezidierte Emergenz-Theorie steht nach wie vor aus.
10 Siehe zuletzt in Aufsatzform den Überblick von Meier, Deutungen totalitärer Herrschaft.
11 Vgl. Ludolf Herbst, Entkoppelte Gewalt - Zur chaostheoretischen Interpretation des NS-Herrschaftssystems, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 28 (1999), 117-158.
12 Eine Antwort auf die von Rüdiger Hachtmann aufgeworfenen Frage nach der Rezeption des Ersten Weltkriegs im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik bietet bereits Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982.
13 Vgl. Frederic Vester, Die Kunst vernetzt zu Denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, München 2002.