ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Michael von Prollius, Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente Organisation und Politische Prozesse, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003, 411 S., geb., 51 EUR.

Die Grundidee mutet durchaus originell an: Zu "testen", inwieweit aktuelle Managementkonzepte und Theorien der modernen Wirtschaftswissenschaften die Strukturen des eigenartigen, komplexen volkswirtschaftlichen Gebildes aufhellen können, das sich seit 1933 in Deutschland ausbildete. Schon bald jedoch lässt die Arbeit den Leser enttäuscht, schließlich verärgert zurück: Das Zauberwort "emergent", das der Verfasser einführt, erklärt nichts. Die allgemeinen Einsichten, die er bietet, sind trivial; in der Darstellung - dem Anspruch nach "eine integrierte und strukturierte Gesamtsicht" - erfährt man nichts, was man nicht schon wüsste. Vereinzelte gelungene Einsichten können an diesem Gesamteindruck nichts ändern, etwa die - freilich nicht neue - Feststellung, dass "der Begriff der Anarchie der Erklärung des Phänomens [NS-Ordnung, NS-Wirtschaftspolitik] nicht gerecht wird" oder dass die NS-typische "Totalität durch die dynamische Interaktion konkurrierender Blöcke oder Gruppengewalten" entstanden sei.

Der Verfasser ist u.a. an zwei Grundproblemen gescheitert: Erstens versucht er, die Wirtschaftsstrukturen, wie sie sich 1933 bis 1939 herausbildeten, zum "System" zu machen. Allein diese Basiskategorie ist irreführend, weil sie die historische Dimension, die ungeheure Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung ausblendet. Es haben sich zu keinem Zeitpunkt Strukturen ausgebildet, die sich in ein statisches "System" pressen lassen, über das sich dann bestimmte Managementlehren stülpen ließen. Das mag der Verfasser gespürt haben, betont er doch auch, dass das Wirtschaftssystem "offen, fließend, niemals abgeschlossen, niemals statisch" (also kein "System") war - ohne allerdings auf den Systembegriff zu verzichten oder seinen inflationären Gebrauch auch nur einzuschränken. Irreführend und zugleich symptomatisch sind die in diesem Zusammenhang gewählten Attribute: Das "NS-Wirtschaftssystem" sei "ein gestörtes, ,unnatürliches`" gewesen und habe "Defizite prinzipieller Natur" gehabt. Mit Verdikten dieser Art macht der Verfasser ein geschlossenes, "gesundes" und "natürliches" marktwirtschaftliches System, das es nicht gibt, zur Richtschnur. Auch zahlreiche andere Begriffe, wie z.B. der "nicht-intendierten Strategien", sind zumindest problematisch. Zweitens betont der Verfasser zwar mehrfach, dass das NS-Regime auf Krieg zielte; er spricht mitunter auch von einer für die Nationalsozialisten charakteristischen "Kultur des Krieges". Auf die naheliegende Idee, dass es sich bei dem "Mix aus Markt und Befehl", das sich seit 1933/34 herausbildete, um eine Kriegswirtschaft in Friedenszeiten gehandelt haben könnte, kommt er nicht. Die ebenso naheliegende Frage, ob und in welchem Maße die für die konkreten Formen der Wirtschaftspolitik verantwortlichen Funktionsträger des Dritten Reiches, die zumeist keine "echten" Nazis waren, die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges systematisch rezipierten, um für einen erneuten "Griff zur Weltmacht" besser und frühzeitig genug gerüstet zu sein, stellt er nicht. Ärgerlich ist schließlich der sprachliche Gestus, mit dem der Verfasser vor den Leser tritt: Er habe "auf unkonventionelle Weise versucht, neue Akzente zu setzen", selbstverständlich "jenseits der ausgetretenen Pfade". Die Grundfrage nach dem Wirtschafts-"System" muss im übrigen nicht falsch sein - wenn sie historisiert und akteurszentriert beantwortet wird: Von welchen wirtschaftstheoretischen Konzepten ließen sich die Wirtschaftspolitiker und Wirtschaftsfachleute im Dritten Reich, häufig ja kompetente Experten, die sich den wirtschaftspolitisch inkompetenten Nazis zur Verfügung stellten, leiten? Wie, auf welchem theoretischen Level, diskutierten sie die gravierenden Probleme, die sich aus den ständigen Ad-hoc-Improvisationen ergaben? Entgegen seinem Anspruch bleibt der Verfasser konventionell, wenn er - wie viele vor ihm - vom NS-Wirtschafts-"System" behauptet, es habe "nicht" oder "schlecht funktioniert". Über lange Zeiträume hat es vielmehr erschreckend "gut" funktioniert. Spannend wäre es, die klassischen Prämissen einmal auf den Kopf zu stellen und zu fragen: Besaß das NS-Wirtschafts-"System" nicht auch starke Elemente ökonomischer Effizienz? Wieso gelang es diesem vermeintlich "ineffizienten" System so leichthändig, andere hochindustrialisierte Staaten wie Frankreich militärisch niederzuwerfen und sich über einen so langen Zeitraum gegenüber potenten Gegnern, die dem Dritten Reich ökonomisch um ein Vielfaches überlegen waren, zu behaupten? Dafür war keineswegs allein, aber doch auch die innere wirtschaftliche Verfassung, die ökonomische Binnenstruktur des "Großdeutschen Reichs" sowie neu implementierte wirtschaftspolitische Mechanismen und Institutionen verantwortlich, die allen (in den apologetischen Darstellungen der Nachkriegszeit zudem übertriebenen) Reibungsverlusten zum Trotz bemerkenswerte "Erfolge" und über lange Zeit eine beachtliche, mit Blick auf die Folgen: schreckliche "dynamische Stabilität" zeitigte. Aber dies wäre ein ganz anderes Buch.


Rüdiger Hachtmann, Berlin


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