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Cuba / Reiner Radermacher. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 21 S. = 76 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




  • Die Elián-Affaire ermöglichte der Clinton-Administration, den überragenden Einfluss der Lobby der Exil-Cubaner in den USA zu brechen und damit für die kommende Administration den Weg zu einer rationaleren Cuba-Politik zu öffnen. In Cuba gelang es dem Regime, die Rückkehr Eliáns als Ergebnis des unermüdlichen Kampfes des cubanischen Volkes unter der weitsichtigen Anleitung seiner revolutionären Führung erfahrbar zu machen.

  • Mit dem ersten offiziellen Besuch eines deutschen Regierungsmitglieds im Ministerrang seit der Unabhängigkeit(!) Cubas - Heidemarie Wieczorek-Zeul - begann die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Die Normalisierung des deutsch-cubanischen Verhältnisses fördert die Wirtschaftsbeziehungen: Hermes-Bürgschaften in Höhe von 25 Millionen DM wurden bereitgestellt.

  • Nach den bedrohlich geringen Werten der Vorjahre (1997: 2,5 Prozent; 1998: 1,2 Prozent) wuchs 1999 das cubanische BIP um erstaunliche 6,2 Prozent. Motor für diese Entwicklung ist der Tourismus. Die Dollarisierung der Wirtschaft und mit ihr die soziale Differenzierung der cubanischen Gesellschaft setzen sich rasant fort.

  • Die Restrukturierung des Zuckersektors hat in der letzten Saison erstmals wieder ein Ergebnis von über 4 Mio. Tonnen erbracht. Auch die übrige Agrarproduktion wurde gesteigert, gleichwohl gibt es weiterhin Versorgungslücken. Bei der Tabakernte wurden auf der Grundlage der Leistungsfähigkeit kleinbäuerlicher Produzenten und der wachsenden Investitionsbereitschaft ausländischer Investoren sehr gute Ergebnisse erzielt.

  • Erdöl bleibt - trotz eigener Förderung - das wichtigste Importprodukt. Die alten Kraftwerke russischer bzw. tschechischer Provenienz müssen umfassend modernisiert werden. Ohne das know how und die Kapitalstärke internationaler Unternehmen lassen sich die cubanischen Erdölvorkommen nicht erschließen.

  • Das für 2010 gesetzte Ziel von 7 Mio. Touristen - aus ökologischer und sozialer Sicht eher ein Alptraum - wird nur erreicht, wenn es den um eine neue Cuba-Politik bemühten Kräften in den USA gelingt, das Reiseverbot für US-Touristen aufzuheben. Aktuell führt Cuba Verhandlungen mit 14 ausländischen Tourismuskonzernen über neue Hotelprojekte.

  • Trotz der positiven Dienstleistungsbilanz bleibt eine Finanzierungslücke in Höhe von voraussichtlich 500 Mio. US-$, die auch von den Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland und den ausländischen Direktinvestitionen im Rahmen der joint ventures nicht geschlossen werden kann.




Das Wichtigste auf einen Blick

Mit der Rückkehr des Jungen Elián González nach Cuba ging am 28. Juni dieses Jahres eine sieben Monate andauernde Medienschlacht zu Ende, die der Weltöffentlichkeit erneut vor Augen führte, in welchem Ausmaß das Handeln der politischen Führung Cubas von Entwicklungen in den USA abhängig ist, welchen Einfluss aber auch umgekehrt cuban issues auf die Politik der USA haben können. Als herausragende Ergebnisse des neuesten Kapitels der scheinbar endlosen Geschichte schlechter Beziehungen zwischen den USA und Cuba sind auf der politischen Ebene zwei Punkte zu nennen: In den USA ist es der Clinton-Administration gelungen, den überragenden Einfluss der Lobby der Exil-Cubaner zu brechen und damit einen Weg zu öffnen, auf dem die kommende Administration zumindest erste Schritte hin zu einer rationaleren Cuba-Politik vollziehen kann. In Cuba ist es dem Regime gelungen, den „unvermeidbaren Sieg" als Ergebnis des unermüdlichen Kampfes des cubanischen Volkes unter der weitsichtigen Anleitung seiner revolutionären Führung erfahrbar zu machen und sich damit einmal mehr mit Legitimation aufzuladen.

Eingesetzt wurden dabei Mechanismen der Massenmobilisierung, die nach dem Ende der Elián-Saga keineswegs beseitigt, sondern als permanente Einrichtung etabliert wurden. Einige Anzeichen deuten darauf hin, dass sich die politische Führung – an erster Stelle Fidel Castro – dieses Instruments bedienen will, um in der cubanischen Version einer Kulturrevolution die bestehenden Institutionen auszuhebeln und gegen den Widerstand von Technokraten und Reformern die Vision von der egalitären Gesellschaft beständig solidarischer Menschen mit hohem revolutionärem Bewusstsein zu verteidigen.

Mit dem erfolgreichen Abschluss eines offiziellen Besuchs von Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul auf Cuba konnte nicht nur die Aufnahme der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit vollzogen, sondern auch ein wichtiger Schritt der Normalisierung der deutsch-cubanischen Beziehungen getan werden.

Nach den bedrohlich geringen Werten der Vorjahre (1997: 2,5 Prozent; 1998: 1,2 Prozent) konnte die Wirtschaft Cubas 1999 mit einer Steigerung des BIP um 6,2 Prozent ein außerordentlich hohes Wachstum erzielen. Grundlage für diese Entwicklung ist in erster Linie der Tourismus, dessen Wachstumskurve sich zwar abflacht, der aber nach wie vor der Motor der wirtschaftlichen Rekonstruktion nach dem Höhepunkt der Krise zu Beginn der neunziger Jahre ist. Außerdem macht sich die kumulierende Wirkung anderer Faktoren positiv bemerkbar wie die fortschreitende Erholung des Zuckersektors, die Verbesserung der Energieeffizienz, die Steigerung der nationalen Erdölförderung sowie die allmähliche Ausweitung der industriellen Produktion.

Angesichts der Lohnerhöhungen der letzten Jahre hat sich mittlerweile eine positive Trendwende in der Einkommensentwicklung vollzogen, die allerdings noch weit davon entfernt ist, den zu Beginn der neunziger Jahre eingetretenen drastischen Kaufkraftverlust zu kompensieren. Vor allem aber setzt sich die Dollarisierung der Wirtschaft und mit ihr die soziale Differenzierung rasant fort. Ein wesentlicher Stützpfeiler des politischen Systems der Insel – die weitgehend egalitäre Gesellschaft – wird von der Säure des US-Dollar zunehmend korrodiert – ein Prozess, der sich durch die Mobilisierung der Massen und Vitalisierung des revolutionären Bewusstseins nicht aufhalten lassen wird.

Politische Situation

Die Ereignisse der letzten Monate haben der interessierten Weltöffentlichkeit erneut vor Augen geführt, in welchem Ausmaß das Handeln der politischen Führung Cubas von Entwicklungen in den USA abhängig ist, welchen Einfluss aber auch umgekehrt cuban issues auf die Politik der USA haben können – eine Interdependenz, die angesichts der wahrlich nicht unerheblichen Unterschiede zwischen beiden Staaten schon erstaunlich ist.

Anlass für die erneute Auslösung der ewigen Spirale aus Aktion und Reaktion war diesmal das Schicksal eines kleinen Jungen, dessen Geschichte schnell erzählt ist: Am 26. November 1999 wird vor der Küste Floridas der damals fünfjährige Elián González aus den Fluten gerettet – einer von nur drei Überlebenden eines Versuchs der (sowohl aus cubanischer wie US-amerikanischer Sicht) „illegalen" Übersiedlung von Cuba in die USA, den elf Cubaner – darunter die Mutter und der Stiefvater des Jungen – mit dem Leben bezahlen. Im Gegensatz zur sonst üblichen Praxis repatriieren die US-Behörden den Jungen nicht in sein Herkunftsland, sondern geben ihn in die Obhut der in Miami lebenden Familie seines Großonkels. Sofort aufkommende Bedenken, dass damit nicht nur das US-Familienrecht, sondern auch das Migrationsabkommen zwischen Cuba und den USA verletzt werde (wonach auf hoher See aufgegriffene Cubaner das ansonsten für sie geltende besondere Asylrecht nicht in Anspruch nehmen können und nach Cuba zurückzuführen sind), können sich zunächst nicht durchsetzen. Der leibliche Vater des Jungen, Juan Miguel González, der ebenso wie die mütterlichen und väterlichen Großeltern in Cuba lebt, verlangt daraufhin die sofortige Aushändigung seines Sohnes an ihn – und wird in dieser Forderung von der cubanischen Regierung unterstützt.

In den folgenden Monaten entwickelt sich in den USA ein für Laien kaum verständlicher Rechtsstreit darüber, wem das Sorgerecht für Elián González zustehe, welche US-Behörde für den Fall zuständig sei, ja, welches Gericht auf der Grundlage welcher Rechtsnorm (Familienrecht, Einwanderungsrecht, Asylrecht) überhaupt angerufen werden könne. Am 6. April 2000 reist schließlich der Vater (mit der neu angetrauten Ehefrau und dem erst kürzlich geborenen Halbbruder Eliáns) in die USA, um dort seine Rechte direkt geltend zu machen . Eben dies hatten Sprecher der Exil-Lobby mehr provokativ denn ernsthaft gefordert in der festen Annahme, das Regime in Cuba werde den jungen Mann nicht in die Freiheit ziehen lassen und damit das Risiko eingehen, dass dieser dort die Seiten wechsele. Nach seiner Ankunft werden Juan Miguel González prompt vielfältige Angebote gemacht, doch können ihn selbst die Aussicht auf Beträge in Millionenhöhe nicht dazu bewegen, für sich und seine Familie Asyl in den USA zu beantragen.

Im April kommen die juristischen Scharmützel zu einem ersten Ergebnis, wonach dem leiblichen Vater Eliáns – wenig überraschend – das Sorgerecht und der Einwanderungsbehörde INS die verwaltungstechnische Zuständigkeit zugesprochen werden. Da sich die Pflegefamilie weigert, den Jungen an die INS zu übergeben (und in dieser Haltung von der Mehrheit der cubanischen Gemeinschaft in Miami demonstrativ unterstützt wird), stürmen am 22. April bewaffnete Kräfte das Haus des Großonkels und erzwingen mit dieser spektakulären Aktion die Überführung Eliáns zu seinem Vater nach Washington. Nachdem alle juristischen Möglichkeiten der Berufung ausgeschöpft sind und auch der Kongress mit Blick auf die mittlerweile eindeutige Mehrheitsmeinung der US-amerikanischen Bevölkerung von politischen Interventionen (wie einer Verleihung der US-Staatsbürgerschaft an Elián) absieht, wird Ende Juni auch das über die Familie González verhängte Ausreiseverbot aufgehoben. Am 28. Juni besteigt Elián mit Vater, Stiefmutter und Halbbruder ein Charterflugzeug und kehrt nach Cuba zurück wo der Vater als Dank für seine Standhaftigkeit von Fidel Castro persönlich mit einem der höchsten Orden des Landes ausgezeichnet wird.

Dieser in seinem rechtlichen Kern eher simple Fall war Anlass für eine der wohl bizarrsten internationalen Medienkampagnen der letzten Jahre, die mit fast allen Mitteln geführt wurde und teilweise mehrfach täglich die gesamte Skala von schlechter soap opera bis schockierender reality show durchlief. In letzter Instanz waren für dieses Spektakel drei unterschiedliche Regie-Teams verantwortlich:

Die Lobby der Exil-Cubaner in den USA, an ihrer Spitze die „Cuban American National Foundation" (CANF), setzte ihre geballte Finanzkraft und ihr hervorragend organisiertes Beziehungsgeflecht in Politik, Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft sowie natürlich in den Medien ein, um anhand des Falles Elián ein dreifaches Ziel zu erreichen: Die bereits seit langem als skandalöse Komplizenschaft angeprangerte Zusammenarbeit zwischen den Regierungen der USA und Cubas bei der Kontrolle des anhaltenden Migrationsstroms von der Insel sollte zu Fall gebracht und damit die Rückkehr zur ungeschmälerten Anwendung jener Sonderregelung durchgesetzt werden, die Einwanderern aus Cuba automatisch den Status eines politischen Asylanten gewährt und ihnen zugleich die Möglichkeit einräumt, nach wenigen Jahren für den Erwerb der vollen US-Staatsbürgerschaft zu optieren. Mit einer Art Zuverlässigkeitstest – „Für oder gegen das Bleiberecht für Elián?" – sollten die Interessen der Exil-Cubaner in den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf eingebracht und die beiden aussichtsreichsten Kandidaten Al Gore und George Bush jr. noch vor den Wahlen auf die Fortsetzung der bisherigen, maximalistischen Cuba-Politik festgelegt werden. Schließlich galt es, die in den letzten Jahren unter Druck geratene Hegemonie in der Cuba-Frage offensiv zu verteidigen und die bedrohlich populär gewordenen Initiativen zur „Aufweichung" der Sanktionspolitik mit einem Schlag in der Versenkung verschwinden zu lassen. Mit wachsender Irritation und schließlich auch Frustration mussten die hardliner des Cuba-Exils in den USA jedoch feststellen, dass sie die Zeichen der Zeit gleich mehrfach fehlgedeutet hatten. Eine Dekade nach dem Ende des Kalten Krieges lässt sich selbst im berühmt-berüchtigten Mittleren Westen der USA niemand mehr mit dem Gespenst des Kommunismus beeindrucken. Die Sorge über den Migrationsdruck aus dem Süden des Kontinents und der Unmut über das wachsende Gewicht der „Hispanos" in der US-Gesellschaft kann den rechtschaffenen Bürger dagegen sehr wohl dazu bewegen, die Rückführung (insbesondere!) eines Kindes in seine Heimat zu befürworten – und zwar ganz gleichgültig, welches Regime dort an der Macht ist.

Die organisierten Exil-Cubaner stehen am Ende der sieben Monate andauernden, auch in finanzieller Hinsicht kostspieligen Kampagne vor einem Scherbenhaufen, haben sie doch nicht nur eine Niederlage erlitten, sondern sind erstmals in ihrer Geschichte in die Isolierung geraten – selbst in ihrer Hochburg Miami, wo die „übrigen" Einwanderer aus Lateinamerika (die in Wirklichkeit die Mehrheit stellen) ihre Interessen durch das rabiate Auftreten der Exil-Cubaner gefährdet sehen.

Die US-Administration nutzte – unterstützt vom liberalen Teil des politischen Establishment sowie bestimmten Sektoren der Wirtschaft – diese ihr unverhofft in den Schoß gefallene Gelegenheit, um zwei miteinander verbundenen seit langem angestrebten Zielen ein Stück näher zu kommen: Dass die bisherige US-amerikanische Cuba-Politik zumindest obsolet geworden ist, möglicherweise aber von Anfang an einer falschen Strategie folgte, wird heute von immer mehr Entscheidungsträgern in den USA konstatiert. Dementsprechend gewinnen die Kräfte an Gewicht, die mit Blick auf das wirtschaftliche Potential der Insel – das von der Konkurrenz aus Canada, Europa und Asien fleißig genutzt wird – nach einer neuen Cuba-Politik verlangen. Eine neue Politik gegenüber Cuba lässt sich aber nur gegen den Widerstand der Exil-Cubaner durchsetzen, die in knapp 40 Jahren eine außerordentliche Organisationsfähigkeit erlangt haben. Nur wenn es gelingt, die absolute Definitionshoheit dieser Interessengruppe zu brechen, kann eine Wende in der US-amerikanischen Cuba-Politik eingeleitet werden.

Fintenreich ließ sich daher die Clinton-Administration auf – naturgemäß langwierige – juristische Auseinandersetzungen mit den Vertretern der Exil-Cubaner ein und nutzte diesen weiten Zeitrahmen, um die Exil-Lobby in den Augen der Öffentlichkeit Stück für Stück aus der Mitte der Gesellschaft hinauszudrängen – zunächst als starrköpfige, gegen die Werte der Familie agierende Fundamentalisten an den radikalen Rand und dann als skrupellose, Recht und Gesetz ignorierende Extremisten ins Abseits. Mit diesem langsam aufgebauten Befreiungsschlag hat die scheidende Regierung zweifellos den Weg eröffnet, auf dem die kommende Administration zumindest erste Schritte hin zu einer rationaleren Cuba-Politik gehen kann.

Die politische Führung Cubas und an ihrer Spitze der comandante en jefe Fidel Castro erkannte blitzschnell die Chance, die Bevölkerung der Insel einmal mehr für eine symbolische Schlacht gegen den „Hort des Bösen" im Norden zu mobilisieren, und zwar mit einem Thema, bei dem nicht ideologische, sondern humanitäre Argumente die Grundlage bildeten. Die mit erstaunlicher Geschwindigkeit aufgebaute argumentative wie technische Kulisse diente als Hintergrund für eine Medienkampagne a la cubana. Dies ist z.T. durchaus wörtlich zu nehmen: Die vor der de facto US-Botschaft in Habana gelegene, wenig demonstrationsfreundliche Parkanlage wurde in wenigen Wochen in eine Art Freilichttheater umgebaut. Diese auf Dauer angelegte Einrichtung - offiziell auf den Namen „Tribuna Anti-Imperialista José Martí" getauft - diente dann als wichtigster Versammlungsort der perfekt organisierten Massenmobilisierung.

Das Regime verfolgte drei Ziele: Der Weltöffentlichkeit sollte ins Gedächtnis geprägt werden, dass nicht die Situation auf der Insel die Ursache für die in letzter Zeit wieder anwachsende Bereitschaft vieler Cubaner ist, das Land zu verlassen, folglich auch nicht die cubanische Regierung dafür verantwortlich zu machen ist, wenn immer wieder Menschen ums Leben kommen bei dem Versuch, mit schwächlichen Nachen die scheinbar so nahe Küste Floridas zu erreichen. Entscheidender soll vielmehr der Sogeffekt der Sonderregelung im US-amerikanischen Migrationsrecht sein, die illegalen Einwanderern aus Cuba – im Gegensatz zu ihren Schicksalsgenossen aus Haiti oder dem Süden des Kontinents – die Sicherheit eines Anspruchs auf Aufnahme und späterer Einbürgerung in die USA bietet. Der „unvermeidliche Sieg", d.h. die nach internationalem wie US-amerikanischem Recht zwingende Rückführung des zum Halbwaisen gewordenen Jungen an den Wohnsitz seines leiblichen Vaters, sollte nicht als zwangsläufiges Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens in den USA erfahren werden, sondern als Folge des unermüdlichen Kampfes des cubanischen Volkes unter der weitsichtigen Anleitung seiner revolutionären Führung – die sich somit einmal mehr über ein selbstorganisiertes Quasi-Plebiszit ihre Legitimation besorgen konnte.

Vor allem aber diente die erneute Aufführung des bereits seit 40 Jahren inszenierten Stücks „David (sozialrevolutionär und daher gut) gegen Goliath (hegemonial und daher böse)" der Mobilisierung der Bevölkerung. Andere Themen wurden so aus dem privaten Diskurs verdrängt. Die im Zuge der Dollarisierung entstandenen Risse in der cubanischen Gesellschaft wurden mit dem Kitt eines starken Gemeinschaftsgefühls überdeckt, die eingetretene Distanzierung der Geführten von den Führern wieder ein Stück weit reduziert, die unlösbare Verknüpfung zwischen sozialen Errungenschaften und nationaler Souveränität erneut beschworen und die revolutionäre Führung als Garant der Unabhängigkeit Cubas bestätigt. Mit diesem Ziel wurden Massenaufmärsche zunächst vor der ständigen Vertretung der USA in Habana (formal die Außenstelle der Schweizer Botschaft) sowie später an jedem Samstag in allen größeren Städten organisiert. Auf diesen Tribuna Abierta genannten Kundgebungen wurde nicht einfach nur die Rückkehr des Jungen Elián gefordert, vielmehr nutzten Vertreter aller nur denkbaren Organisationen und Institutionen des cubanischen Systems die Gelegenheit, um unermüdlich die Mängel der USA – von Jugendkriminalität und Drogenkonsum über Obdachlosigkeit und Massenarmut bis hin zu Individualismus und Konsumismus – zu denunzieren und dagegen die Errungenschaften der Revolution – von der Schul- und Universitätsausbildung für alle über die freie Gesundheitsfürsorge bis hin zur inneren Sicherheit und der Solidarität am Arbeitsplatz und im Stadtviertel – zu setzen. Hinzu traten „Runder Tisch" (Mesa Redonda) genannte Sendungen, die täglich von 17:00 bis 19:00 Uhr von beiden Kanälen des staatlichen Fernsehens sowie von allen Runkfunkstationen übertragen wurden und bei denen tatsächliche oder angebliche Experten in einer seltsamen Mischung aus bebilderter Volkshochschule, ideologischem Lehrgang, Wochenschau und Schauprozess die aktuellen Entwicklungen im „Fall Elián" oder deren Hintergründe erläuterten. In der Regel befand sich Fidel Castro unter dem im Studio anwesenden Publikum, das den optischen Hintergrund der formal als Podiumsgespräch angelegten Präsentation abgab.

Nun wäre anzunehmen, dass Cuba nach der Rückkehr Eliáns zur Normalität zurückgefunden hätte, doch das Gegenteil ist der Fall: In einem weitschweifigen Leitartikel in der Partei- und Tageszeitung Granma wurde dem offenkundig wenig begeisterten Volk verkündet, dass sowohl die samstäglichen Tribunas Abiertas (nun in allen Städten des Landes) als auch die täglichen Mesas Redondas (nun mit Rücksicht auf das Kinderprogramm von 18:00 bis 19:45 Uhr) „bis auf weiteres" fortgesetzt werden würden. Die damit angekündigte Massenmobilisierung in Permanenz wurde mit dem Hinweis begründet, dass der Kampf gegen das „genozidhafte" US-Sonderrecht für cubanische Migranten bis zu dessen Verschwinden weiter geführt werden müsse.

Es gibt jedoch Stimmen, die auf eine andere Interpretationsmöglichkeit hinweisen und dabei an einer bemerkenswerten politischen Kurskorrektur ansetzen, die - quasi im Windschatten der Elián-Kampagne vollzogen - als eine Art Testfall für zukünftige Dinge verstanden werden kann. Gemeint ist der überraschende Rückzug Cubas aus dem nun als Cotonou-Vertrag bezeichneten Post-Lomé-System, das die EU mit den AKP-Staaten verbindet. Cuba hatte an den seit Ende 1998 geführten Verhandlungen über die Schaffung eines neuen Rahmens der Kooperation zwischen beiden Staatengruppen als Beobachter aktiv teilgenommen und reichte im März 2000 offiziell den Antrag auf Einbeziehung in das neue Vertragswerk ein, nachdem die AKP-Staaten Ende 1999 die Mitgliedschaft angeboten hatten. Diesem letzten Schritt waren allerdings Wochen des Zögerns vorausgegangen, die auf intensive Diskussionen innerhalb der politischen Führung des Landes hindeuteten. Letztlich setzten sich jedoch offenkundig jene Kräfte durch, die den handels-, finanz- und entwicklungspolitischen Chancen geregelter Beziehungen mit der EU mehr Gewicht beimaßen als den Risiken, die sich für Cuba aus dem Grundwertekatalog des neuen Nord-Süd-Paktes bzw. dem Instrument des „politischen Dialogs" ergeben könnten. Vor diesem Hintergrund fiel zunächst nicht weiter auf, dass der anstehende Besuch einer Verhandlungsmission der EU-Troika – die vor der für Mai in Fidji angesetzten Unterzeichnungskonferenz mit der cubanischen Regierung Gespräche über die Konditionen der Aufnahme in das neue Rahmenabkommen führen wollte – auf cubanischen Wunsch auf die Zeit nach dem Süd-Süd-Gipfel der „Gruppe der 77" verschoben wurde. Dieses Gipfeltreffen der Entwicklungsländer – das vom 12. bis 14. April in Habana abgehalten wurde – nutzte das Regime zur Selbstdarstellung Cubas als „Leuchtturm in der Dunkelheit des Neoliberalismus", ja, gar als „einzige Hoffnung der Menschheit" sowie zur Bekräftigung ihres Führungsanspruchs als entschiedener Verteidiger der Interessen der Völker der Dritten Welt.

Nur wenige Tage später, am 18. April, fand in Genf bei der Menschenrechtskommission der UN die Abstimmung über die von Tschechien eingebrachte Resolution zur Kritik Cubas wegen der andauernden Verletzung von elementaren Menschenrechten statt. Diese Resolution wurde mit 21 gegen 18 Stimmen (bei 14 Enthaltungen) angenommen; zu den Befürwortern (neben u.a. den USA, Kanada und Japan) zählten in Vertretung der EU auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Portugal und Spanien. In diesem Zusammenhang wird häufig von einer „Verurteilung" gesprochen, doch ist dies sachlich falsch, und zwar gleich zweifach: Die UN-Menschenrechtskommission verhängt keine (endgültigen) Urteile, sondern richtet Ermahnungen an bestimmte Länder. Daher taucht auch das Wort „verurteilen" in der Cuba-Resolution an keiner Stelle auf. Am Vormittag des 18. April veranstaltete das Regime daraufhin einen „Protestmarsch" des „kämpfenden Volkes", der einhundert- bis zweihundertausend Menschen an der tschechischen Botschaft in Habana vorbeiführte. Zugleich wurden für den 19., 21. und 23. April Mesas Redondas angekündigt, die diesmal der Analyse des „schändlichen Verhaltens" der EU in Genf gewidmet waren. Am 20. April sagte das cubanische Außenministerium den für den 27. und 28. April vorgesehenen Besuch der EU-Troika ab. Am 26. April schließlich teilte der Außenminister Cubas seinen Kollegen der 71 AKP-Staaten schriftlich mit, dass Cuba den Aufnahmeantrag zurückziehe, da das Instrumentarium von Post-Lomé der EU nur dazu diene, Cuba zum Opfer inakzeptabler Forderungen zu machen.

Damit war eine für cubanische Verhältnisse drastische Kurskorrektur vollzogen worden, die um so bemerkenswerter ist, als sie erheblichen diplomatischen Flurschaden bei den AKP-Staaten anrichtete, die sich nachdrücklich für die Integration Cubas in das neue Vertragswerk eingesetzt hatten. Niemand vermochte zu erkennen, welche neue Tatsache zwischen März (Einreichung des Aufnahmeantrags) und April (Rücknahme des Antrags) eingetreten sein sollte, war doch der Inhalt des Vertrages (inkl. des politischen Teils) wie auch das Prozedere der Aufnahme (auf der Grundlage der Zustimmung aller EU-Mitgliedsstaaten) seit langem bekannt. Selbst der vorgebliche Auslöser der Meinungsänderung – die Resolution der UN-Menschenrechtskommission – kann das Regime nicht überrascht haben, wurden die Verhältnisse auf Cuba in den zurückliegenden Jahren doch stets in einer gesonderten Resolution kritisiert, und zwar immer mit den Stimmen der Mitgliedsländer der EU (1998 stellt die einzige Ausnahme von dieser Regel dar).

Neu waren also nicht die Tatsachen, sondern deren Bewertung durch die politische Führung der Insel. Genauer gesagt: Die noch im März unterlegenen Kräfte innerhalb dieser keineswegs homogenen Führung konnten im April ihre Sicht der Dinge durchsetzen und eine Kurskorrektur herbeiführen. Als Mittel zum Zweck wurde – das Parlament, den Staats- und Ministerrat sowie das Zentralkomitee und Politbüro gleichermaßen umgehend – die Mobilisierung der Massen eingesetzt, deren „Empörung" über die „Manipulation" der USA und die „Komplizenschaft" der EU die Änderung der (außen-) politischen Linie „erzwang".

Diese Strategie erinnert sehr stark an die Logik der chinesischen Kulturrevolution, als ein alternder Mao Tse-tung seine Visionen innerhalb der Institutionen der Revolution nicht mehr durchsetzen konnte und deshalb einen Mechanismus in Gang setzte, der eben diese Institutionalisierung aus den Angeln hob: Die Mobilisierung der Massen über einen permanenten Propagandafeldzug. Sollte Fidel Castro nach einer ähnlichen Lösung suchen, um gegen den Widerstand von Technokraten und Reformern seine Vision von der egalitären Gesellschaft beständig solidarischer Menschen mit hohem revolutionärem Bewusstsein zu verteidigen?

Mit dem überraschenden Wendemanöver der cubanischen Regierung wurde der seit langem bestehende Status offizieller Nicht-Beziehungen zwischen Cuba und der EU endgültig festgeschrieben, stellte die Integration in das multilaterale Post-Lomé-System doch die einzig verbliebene Möglichkeit dar, eine Normalisierung zu erreichen, nachdem Verhandlungen über ein bilaterales Abkommen schon 1996 gescheitert waren. Erkennbar wird, dass die cubanische Diplomatie nun darum bemüht ist, den allein noch gangbaren Ausweg aus dieser Situation zu nutzen, nämlich die direkten Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU auszubauen. Diese Ersatz-Strategie mag kurzfristig durchaus Ergebnisse erbringen (da in der Tat die Beziehungen zu einzelnen EU-Ländern verbesserungsfähig sind), wird langfristig aber scheitern, da sie die Tatsache ignoriert, dass zentrale Fragen – wie z.B. der Zugang zum EU-Markt – schon lange in Brüssel und nicht mehr in Madrid, Paris, London oder Berlin entschieden werden, und vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit der fehlende Zugang zum Europäischen Entwicklungsfonds nicht durch den Zufluss bilateraler Mittel kompensiert werden kann.

Vor diesem Hintergrund verständlich, dass die cubanische Führung der Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland eine hohe Priorität einräumte und ausgesprochen sensibel auf Signale reagierte, die seit dem Regierungswechsel zu diesem Thema in Bonn bzw. Berlin zu registrieren waren. Politische Gäste aus Deutschland – wie eine Delegation des Ausschusses für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Januar) und eine Delegation des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages (Februar) sowie der Parlamentarische Staatssekretär im BMBF, Wolf Michael Catenhusen (März) und der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Christoph Zöpel (April) – konnten sich daher bei ihren Besuchen in Cuba zuvorkommender Aufmerksamkeit ihrer hochrangigen Gesprächspartner gewiss sein. Selbst auf Äußerungen, die in anderen Zeiten als „Provokation" oder als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten Cubas" zurückgewiesen worden wären (wie z.B. zur bestehenden Einschränkung der politischen Rechte), wurde ausgesprochen konziliant reagiert.

Von dieser positiven Atmosphäre konnte auch Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul profitieren, die im Mai – und damit nur knapp einen Monat nach der so heftig kritisierten Abstimmung in Genf und dem Rückzug Cubas aus dem Post-Lomé-System – Cuba einen Besuch abstattete, mit dem die Aufnahme der bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit demonstrativ vollzogen wurde. In jeglicher Hinsicht eine Premiere, handelte es sich doch um den ersten Besuch eines deutschen Politikers im Ministerrang nicht nur seit 1959, sondern seit der Unabhängigkeit Cubas. Dass die Ministerin am Ende ihres Aufenthalts (außerhalb des offiziellen Programms) zu einem Gespräch mit Fidel Castro gebeten wurde, bestätigte den Eindruck, dass die Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland als Chefsache behandelt wird. Die Einladung des deutschen Bundeskanzlers an Castro zu einem offiziellen Staatsbesuch würde in diesem Prozess sicherlich einen Höhepunkt darstellen.

Wirtschaftliche Situation

Mit einer Steigerung des BIP um 6,2 Prozent konnte 1999 die Wirtschaft Cubas – nach den bedrohlich geringen Werten der Vorjahre (1997: 2,5 Prozent; 1998: 1,2 Prozent) – ein außerordentlich hohes Wachstum erzielen. Grundlage für diese Entwicklung ist in erster Linie der Tourismus, dessen Wachstumskurve sich zwar abflacht, der aber nach wie vor der Motor der wirtschaftlichen Rekonstruktion nach dem Höhepunkt der Krise zu Beginn der 90er Jahre ist. Außerdem macht sich die kumulierende Wirkung anderer Faktoren positiv bemerkbar wie die fortschreitende Erholung des Zuckersektors, die Verbesserung der Energieeffizienz (um 5,4 Prozent) sowie die Steigerung der nationalen Erdölförderung. Da die aufgezeigten Tendenzen anhalten, ist damit zu rechnen, dass sich auch im Jahr 2000 der Wachstumsprozess fortsetzen wird, wenn er auch etwas geringer als im Vorjahr ausfallen dürfte (die aktuellen Schätzungen gehen von 4,6 Prozent aus).

Zu den genannten Faktoren tritt als weitere positive Tendenz die allmähliche Ausweitung der industriellen Produktion hinzu: 1999 konnte hier ein Wachstum von 6 Prozent und zugleich die Zunahme der Arbeitsproduktivität um durchschnittlich 4,6 Prozent erreicht werden. Die neu erwachten Wachstumskräfte sind vor allem in der Leichtindustrie (Bekleidung und Haushaltswaren) sowie in der Nahrungsmittelindustrie zu finden. Allerdings ist der Weg bis zu einer umfassenden Erholung noch weit: Die Nahrungsmittelindustrie z.B. erreichte 1999 gerade mal 19 Prozent ihrer Kapazität von 1989.

Eckdaten der wirtschaftlichen Entwicklung (Mio. US-$)


1995

1996

1997

1998

1999

2000*

BIP (Mio. Peso)**

13.184

14.218

14.572

14.754

15.674


BIP

16.981

18.842

19.767

20.325

22.100


BIP-Zuwachs

2,5%

7,8%

2,5%

1,2%

6,2%

4,6%

Inflationsrate

-9,8%

-7,3%

-1,1%

2,8%

1,4%

2,5%

Exporte

1.507

1.866

1.823

1.444

1.443

1.700

Importe

2.882

3.481

4.088

4.230

4.316

5.100

Handelsbilanz

-1.375

-1.615

-2.265

-2.786

-2.873

-3.400

Zahlungsbilanz

-409

9

-437

-396

-389

-500

Haushaltsdefizit/BIP


2,4%

2,0%

2,5%

2,4%

2,8%

** = zu konstanten Preisen von 1981 (ein Deflator ist nicht bekannt)
* Prognose
Anmerkung: Alle Daten sind mit einem hohen Unsicherheitsfaktor behaftet, da vielfach Schätzungen gesicherte statistische Angaben ersetzen müssen, die nicht (mehr) vorhanden sind (ab 1990 wurden zahlreiche Reihen eingestellt), nicht zugänglich sind (da sie angesichts der US-Sanktionen als Staatsgeheimnis gelten) oder von Verzerrungen gekennzeichnet sind (so existiert aufgrund der parallelen Wechselkurse von 1:1 sowie ca. 1:20 keine allgemein anerkannte Methode der Umrechnung des Peso in Dollar).

Die Entwicklung wird zudem von erheblichen Engpässen bei den Investitionen und beim Import von Vorprodukten behindert. Bei den Investitionen zeichnet sich eine Lösung ab, sind ausländische Kapitalgeber doch zunehmend bereit, sich auch außerhalb des bisher bevorzugten Tourismussektors zu engagieren. So stellt eine spanische Firma 4 Mio. US-$ für die Ausweitung einer Milchabfüllanlage, ein italienisches Unternehmen 2 Mio. US-$ für die Modernisierung des größten Verpackungsbetriebs Cubas und ein israelischer Investor erhebliche Mittel zur Steigerung der Produktion von Fruchtsäften – die 1999 bei 300.000 Tonnen lag – auf 1 Mio. Tonnen zur Verfügung. Zweifellos ist diese Entwicklung erfreulich, doch entsteht mittelfristig ein neues Problem: Die Rentabilität sämtlicher ausländischer Investitionen in der verarbeitenden Industrie wird in US-$ kalkuliert, d.h. die erzeugten Produkte sind für den internen Dollar-Markt im Tourismussektor bzw. den Dollar-Läden bestimmt – und werden somit einen großen Teil der cubanischen Bevölkerung nicht erreichen.

Zucker-Produktion (1000 Tonnen)

-

92/93

93/94

94/95

95/96

96/97

97/98

98/99*

99/2000

Lager
Saisonbeginn

824

352

396

367

395

398



Produktion

4.365

4.024

3.475

4.446

4.252

3.200

3.780

4.060

nationaler Konsum

869

716

581

670

733




Exporte

3.968

3.264

2.603

3.830

3.582

2.569

2.950


Lager
Saisonende

352

396

367

395

398




* = vorläufig

Zwar hat seit Beginn der neunziger Jahre die Zuckerproduktion ihre bis dahin überragende Bedeutung für die Ökonomie Cubas schrittweise eingebüßt, doch ist ihr Gewicht sowohl in der Außenwirtschaft (Devisenerlöse) als auch in der Binnenwirtschaft (Nahrungsmittelindustrie und Beschäftigung) nach wie vor so groß, dass Probleme im Zuckersektor die gesamtwirtschaftliche Entwicklung spürbar abbremsen können. Dies wurde nicht zuletzt 1998 deutlich, als die Erntesaison lediglich 3,2 Mio. Tonnen Zucker erbrachte – den niedrigsten Wert in der modernen Geschichte der Insel – und der Zuwachs des BIP auf magere 1,2 Prozent gedrückt wurde. Dementsprechend ist positiv zu werten, dass der seitdem eingeleitete Restrukturierungsprozess auch in der letzten im Frühjahr 2000 abgeschlossenen Saison fortgesetzt werden konnte, die erstmals wieder ein Ergebnis erbrachte, das (wenn auch nur leicht) die Marke von 4 Mio. Tonnen überschritt. Nach dem Wegfall der präferenziellen Absatzbedingungen im Rahmen des RGW ist jedoch nicht mehr die erzeugte Menge, sondern die Effizienz des gesamten Produktionsprozesses – von der Aussaat über den Einschlag bis zur Erzeugung des Rohzuckers – von ausschlaggebender Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Rentabilität des nach wie vor führenden Exportprodukts. Auch auf diesem Gebiet wurden offensichtlich die in den Vorjahren eingeleiteten Anstrengungen fortgesetzt, konnten die Kosten doch um gut 11 Peso pro Tonne gesenkt werden. Dies ist jedoch alles andere als ein durchschlagender Erfolg, wie die enorme Spannweite bei den Produktionskosten belegt: Während die effizientesten Zuckermühlen mittlerweile bei 270 bis 290 Peso pro Tonnen liegen, wird das andere Ende der Skala von Betrieben markiert, die Kosten von 400 Peso pro Tonne Zucker verursachen. Die weitere Steigerung der Effizienz dürfte ein schwieriges Geschäft werden, liegt der Ertrag pro Hektar doch weiterhin deutlich unterhalb des weltweiten Durchschnitts, kommt die mit knappen Devisen finanzierte Erneuerung des Maschinenparks nur langsam voran, hat sich die Arbeitsproduktivität kaum verbessert und ist die (nicht nur vorübergehende) Schließung strukturell unrentabler Zuckermühlen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen bisher unterblieben.

Ein weiterer schon traditioneller Problembereich ist die Agrarproduktion jenseits des Zuckersektors. Auch hier konnte jedoch in den letzten Jahren eine Wende zum Besseren eingeleitet werden, wurde doch 1998 ein Wachstum von 18,2 Prozent und 1999 von 15,1 Prozent erzielt. So gelang es, vor allem bei Nahrungsmitteln die Zuwächse zu stabilisieren, doch gibt es nach wie vor Versorgungslücken (insbesondere bei Reis, Pflanzenöl, Rindfleisch und Milch). Der Agrarsektor wird im laufenden Jahr (selbst bei erhoffter Zunahme von acht Prozent) erst ein Produktionsniveau erreichen, das gerade mal 60 Prozent des Standes von 1990 ausmacht. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass der Agrarminister, Alfredo Jordán, auf eine rasche Produktivitätssteigerung drängt, die er sich vor allem von der weiteren Dezentralisierung der großen Produktionskooperativen verspricht. Stärkeren Einfluss auf die Steigerung der Produktmenge und der Produktivität dürfte die Tatsache haben, dass Produzenten, die Überschüsse bei bestimmten Agrarerzeugnissen erzielen (die für den Tourismussektor oder die Dollar-Läden bestimmt sind), nicht mehr in Peso, sondern in US-Dollar bezahlt werden. Dass die Erhöhung des Durchschnittslohns der rund 1 Mio. Landarbeiter auf 350 Peso pro Monat einen ebenso belebenden Effekt auf die Arbeitsproduktivität haben wird, darf indessen bezweifelt werden.

Eine nachhaltige Steigerung der Agrarproduktion (insbesondere bei Nahrungsmitteln) wird sich erst auf der Grundlage der Nutzung des Produktionspotentials kleinbäuerlicher Familienbetriebe erreichen lassen, die in Cuba (von Sonderprodukten abgesehen) nach wie vor nur eine marginale Rolle spielen. Dass in diesem Sektor erhebliche Wachstumskräfte schlummern, wurde erneut bei den Ergebnissen der Tabakernte deutlich, die fast ausschließlich von Kleinbauern erzeugt wird: Trotz ungünstiger klimatischer Bedingungen konnte eine Ernte von rund 40.000 Tonnen eingebracht werden, die damit 6 Prozent über der im Vorjahr erzielten Menge lag.

Mit der Leistungsfähigkeit dieser kleinbäuerlichen Produzenten rechnen offensichtlich auch ausländische Investoren, die sich über joint ventures den Zugang zu dem in Cuba erzeugten Rohmaterial von hoher Qualität sichern: Das gerade erst von „Tabacalera de España" und „La Seita/France" geschaffene Gemeinschaftsunternehmen „Altadis" erwarb Ende 1999 für erstaunliche 500 Mio. US-$ einen Anteil von 50 Prozent an der staatlichen „Corporación Habanos" – der bedeutendsten Vertriebsfirma cubanischen Tabaks, die 1999 über den Verkauf von 120 Mio. Zigarren einen Nettoerlös von 64 Mio. US-$ erzielte. Weitere joint ventures folgten im Jahr 2000: Unter der Beteiligung von brasilianischem Kapital wurde „Brascuba" geschaffen, und eine auf den Kanarischen Inseln ansässige Firma ist Partner in dem neuen Unternehmen „Compañía de Tabacos Isleños" (Cotais), das sich auf die Produktion von Kleinzigarren spezialisieren will, die vor allem innerhalb der EU verkauft werden sollen.

Tabak nimmt mit gut 10 Prozent jedoch nur den dritten Rang in der Exportstruktur Cubas ein und wird somit von Nickel überboten, der einen Anteil von knapp 20 Prozent am Exportwert erreicht (während Zucker mit gut 40 Prozent nach wie vor an der Spitze steht). Dieser Stand der Dinge ist Ergebnis einer umfassenden Restrukturierung des Nickel-Sektors, der zu Beginn der neunziger Jahre praktisch vollkommen stillgelegt werden musste. Von entscheidender Bedeutung für die Wiederbelebung erwies sich ein joint venture mit der canadischen Firma „Sherritt", die knapp 100 Mio. US-$ in die bestehenden Anlagen bei Moa (Provinz Holguín) investierte. Auf dieser Grundlage konnte die Produktion rasch gesteigert werden, die 1998 mit 68.000 Tonnen Nickel den höchsten Wert in der Geschichte des Landes erreichte. 1999 konnte dieses Volumen zwar gehalten, nicht jedoch die Zielvorgabe von 73.000 Tonnen erfüllt werden. Dementsprechend richten sich hohe Erwartungen an neue joint ventures mit australischen und südaf-rikanischen Unternehmen, die in weitere Vorkommen bei Pinares de Mayarí (Provinz Holguín) bzw. San Felipe (Provinz Camaguey) investieren.

Hauptprodukte im Außenhandel Cubas (1998)

Anteil am Export

Anteil am Import

Zucker

41,6%

Erdöl

16,4

Nickel

18,2%

Maschinen

15,3

Tabak

12,7%

Nahrungsmittel

9,9

Meeresfrüchte

8,8%

Chemieprodukte

7,0


Rohstoffe

6,1



Mit der Auflösung des RGW sah sich Cuba quasi über Nacht genötigt, seine relativ hohen Erdöleinfuhren nun mit Devisen auf dem Weltmarkt zu erwerben – die wohl einschneidendste Folge des „Herausfallens" der Insel aus der knapp 20 Jahre währenden Integration in ein internationales Wirtschaftsgeflecht sui generis. Seit Beginn der 90er Jahre nimmt daher „Erdöl" die führende Position auf der Liste der Importprodukte ein. Angesichts der schmalen Basis der Exporterlöse traten die Ausgaben für die Erdölimporte jedoch zunehmend in Konflikt mit dem wachsenden Importbedarf der langsam wieder in Gang kommenden verarbeitenden Industrie und des Tourismussektors. Zur Lösung dieses Problems setzte die Regierung auf eine Doppelstrategie: Zum einen wurden Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz in Angriff genommen und auf diesem Wege der Erdölverbrauch von 13,8 Mio. Tonnen (1989) auf 8 Mio. Tonnen (1999) reduziert. Zum anderen wurde die nationale Erdölförderung drastisch gesteigert: von 670.000 Tonnen (1990) auf 2,1 Mio. Tonnen (1999); Ende 2000 sollen 2,8 Mio. Tonnen erreicht werden. Ausländische Investoren spielten dabei eine ganz wesentliche Rolle und sollen dies auch in Zukunft tun: Die vor 1990 installierten Kraftwerke russischer bzw. tschechischer Provenienz müssen umfassend modernisiert werden, und ohne das know how und die Kapitalstärke internationaler Unternehmen lassen sich die im cubanischen Teil des Golfes von Mexiko vermuteten Erdölvorkommen nicht erschließen. Von den 1993 zur Exploration freigegebenen 45 Parzellen wurden 20 an ausländische Konsortien vergeben, die bis heute rund 600 Mio. US-$ investiert haben. 1999 wurden weitere 59 Parzellen ausgeschrieben, für die sich Unternehmen aus Europa, Kanada und Lateinamerika interessieren.

Hauptpartner Cubas im Außenhandel (1998)

Export

Import

Russland

26,2%

Spanien

21,9%

Niederlande

11,8%

Frankreich

10,7%

Kanada

11,3%

Kanada

9,8%

Spanien

6,7%

Italien

7,6%

Weißrussland

6,6%

China

5,7%

Ägypten

4,0%

Venezuela

5,4%

...

...

...

...

Deutschland

1,3%

Deutschland

3,1%





Cuba hat seit Beginn der neunziger Jahre die Palette seiner Außenhandelspartner stark diversifizieren können, doch bleibt die außenwirtschaftliche Abhängigkeit von den Devisenerlösen nur weniger Rohstoffe bestehen. Zudem haben sich in den letzten Jahren die terms of trade bei der für Cuba charakteristischen Warenstruktur im Export und im Import verschlechtert: Zwar stieg der Weltmarktpreis für Nickel im Vergleich zum Vorjahr um rund 60 Prozent, und somit wird das aus diesem Exportprodukt erzielbare Einkommen im Jahr 2000 auf voraussichtlich 500 Mio. US-$ anwachsen (1999: 350 Mio. US-$). Diese Entwicklung kann jedoch die gegenläufige Tendenz beim Zucker nicht kompensieren, dessen Preis zum Jahresbeginn erneut nachgab und damit ein Niveau erreicht, das 1/3 unter dem des Jahres 1998 liegt. Hinzu kommen die exorbitanten Steigerungen der Rohölpreise, wodurch die Rechnung für die Einfuhr von Erdölprodukten – trotz aller Anstrengungen auf diesem Gebiet – deutlich höher ausfallen wird. Bereits 1999 konnte aber angesichts der im Vergleich zum Vorjahr stagnierenden Exporterlöse das chronische Handelsbilanzdefizit nur über die Einschränkung der Importe auf dem Niveau des Vorjahres eingefroren werden. Soll die Wiederbelebung der verarbeitenden Industrie nicht abgewürgt werden, so steht dieser Ausweg im Jahr 2000 nicht mehr zur Verfügung. Es ist daher – trotz einer leichten Steigerung der Exporterlöse – mit einer Ausweitung des Handelsbilanzdefizits auf 3,4 Mrd. US-$ zu rechnen.

Entwicklung des Tourismus-Sektors


1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000*

Personen
(in 'ooo)

560

619

745

1.004

1.170

1.416

1.603

2.000

Umsatz
(Mio. $)

756

850

1.100

1.350

1.546

1.816



* Prognose
Anteil nach Herkunftsländern (1999): Kanada: 17,2%; Deutschland: 11,4%; Italien: 10,0%; Spanien: 9,2%; Frankreich: 8,3%; Großbritannien: 5,4%; México: 4,4%; Argentinien: 2,7%; alle übrigen: 31,4%


Wie bereits in den Vorjahren, so werden auch diesmal die Einnahmen aus dem Tourismus einen wesentlichen Beitrag zur Schließung der Lücke in der Zahlungsbilanz erbringen. Allerdings sind in der gerade begonnenen Dekade deutlich geringere Wachstumsraten in diesem Wirtschaftszweig zu erwarten (Schätzungen gehen von durchschnittlich 12 Prozent aus) als in der Aufbauphase der neunziger Jahre. Es ist daher fraglich, ob die für Ende 2000 erwartete Zahl von 2 Mio. Besuchern realistisch ist. Mit Sicherheit lässt sich das für 2010 gesetzte Ziel von sieben Millionen Touristen – aus ökologischer wie aus sozialer Sicht eher ein Alptraum denn eine positive Perspektive – nur erreichen, wenn es den um eine neue Cuba-Politik bemühten Kräften in den USA gelingen sollte, das im Rahmen des Helms-Burton-Gesetzes bestehende Reiseverbot für US-Touristen schon bald aufzuheben. 1999 besuchten immerhin 15.663 US-Bürger Cuba offiziell, d.h. ausgestattet mit der benötigten Genehmigung des US-Schatzamtes (65 Prozent mehr als 1998). Die Zahl der nicht ganz legal (über Mexiko oder die Bahamas) eingereisten Touristen aus den USA soll „einige Zehntausend" betragen. Eben darauf scheint aber die cubanische Regierung zu setzen, wird doch unverdrossen an dem Ausbau der – keineswegs ausgelasteten - Kapazitäten gearbeitet: Nach Angaben des Tourismus-Ministeriums werden entsprechende Verhandlungen mit 14 ausländischen Tourismuskonzernen geführt. Bereits im Oktober 1999 wurde ein Vertrag mit einem kanadischen Investor abgeschlossen, der in den kommenden zehn Jahren 20.000 neue Hotelräume errichten und dafür einen Betrag von 250 Mio. US-$ einsetzen wird. Ein neues joint venture mit einer französischen Firma wird mit 52 Mio. US-$ ein Hotel in der Altstadt von Habana renovieren – das erste von acht ähnlichen Vorhaben. Vor allem aber wird der Ausbau des Angebots auf der Inselkette von Cayo Coco vorangetrieben (wo acht neue Hotels mit 2.800 Zimmern existieren), das nach Habana und Varadero bereits der drittwichtigste Zielort des international vermarkteten Tourismus ist.

Auslandsschulden** (Mio US-$)


1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000*

Staatl. bilateral

3.992

4.550

6.035

5.853

6.248

5.737


Staatl. multilateral

503

601

561

521

575

17


Warenkredite

2.058

2.403

1.199

1.169

1.673

1.845


Banken

2.501

2.919

2.640

2.577

2.687

3.456


andere

29

31

30

26

27

23


GESAMT

9.083

10.504

10.465

10.146

11.209

11.078

13.300

** Hinzu kommen noch Schulden in Höhe von 19,7 Mrd. Transfer-Rubel, die während der Mitgliedschaft Cubas im RGW entstanden sind. Wendet man die Formel an, die 1996 zur Bewertung entsprechender Altschulden Nicaraguas benutzt wurde, so dürfte der aktuelle Wert des Transfer-Rubel-Betrags bei 1,2 Mrd. US-$ liegen.
* Prognose
Verteilung nach Ländern (1999): Japan: 20,6%; Argentinien: 14,5%; Spanien: 10,6%; Frankreich: 10,5%; Großbritannien: 9,9%; Italien: 4,3%; Mexiko: 4,0%; Schweiz: 2,3%; Deutschland: 2,0%; Belgien: 2,0%; alle übrigen: 19,3%.
Verteilung nach Währungen (1999): US-$: 26,7%; Yen: 23,5%; DM: 19,8%; Schweiz. Franken: 6,3%; Cnd-$: 5,2%; Peseten: 4,3%; Pfund Sterling: 3,7%; Franc: 3,0%; alle übrigen: 7,5%.


Trotz der – dank der Einnahmen aus dem Tourismus – positiven Dienstleistungsbilanz bleibt eine Finanzierungslücke in Höhe von voraussichtlich 500 Mio. US-$ bestehen, die auch von dem anhaltenden Devisenzustrom in Form von Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland (auf rund 800 Mio. US-$ im Jahr 2000 veranschlagt) und dem Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen im Rahmen der joint ventures nicht geschlossen werden kann. Die für andere Länder übliche Lösung einer solchen Situation – die Kreditaufnahme im Ausland – bleibt Cuba weitgehend versagt, da der Inselstaat zum einen nicht Mitglied von IWF und Weltbank ist und zum anderen Schulden in Höhe von gut 11 Mrd. US-$ aufweist, die z.T. seit 1986 nicht mehr bedient werden. Seit einigen Jahren ist die cubanische Regierung jedoch darum bemüht, ihre internationale Kreditwürdigkeit wiederherzustellen und hat mit diesem Ziel bilaterale Umschuldungsverhandlungen mit verschiedenen Gläubigerländern aufgenommen. Nach dem erfolgreichen Abschluss derartiger Gespräche mit Großbritannien und Italien konnte Ende 1999 mit Japan eine Vereinbarung über die Umschuldung von 125 Mio. US-$ staatlicher Kredite mit kurzer Laufzeit erzielt werden. Bereits im März 1998 wurde mit den kommerziellen Kreditgebern Japans ein Abkommen über die Umschuldung von immerhin 750 Mio. US-$ unterzeichnet. Damit stehen Cuba seit Februar 2000 wieder neue japanische Exportkredite in einem Kreditrahmen von 120 Mio. US-$ zur Verfügung. Einen weiteren Erfolg auf diesem Gebiet konnte der de facto-Ministerpräsident Carlos Lage bei seinem Besuch in Deutschland im März dieses Jahres erzielen, als endlich eine Einigung über die Modalitäten der Rückzahlung der Schulden Cubas erreicht werden konnte, die auf 210 Mio. DM festgelegt wurden. Damit konnte ein seit Jahren schwelender Konflikt beseitigt werden, der weniger um die Anerkennung der mit der alten Bundesrepublik kontraktierten Kredite in Höhe von 230 Mio. DM geführt als vielmehr über die Behandlung der auf 830 Mio. Transfer-Rubel angesetzten „Schulden" ausgefochten wurde, die noch im Rahmen des RGW in der DDR aufgelaufen und im Zuge der Vereinigung von der neuen Bundesrepublik übernommen worden waren. Nach der überfälligen Beseitigung dieser mehr politischen denn finanziellen Altlast stehen nun auch für das Cuba-Geschäft wieder Hermes-Bürgschaften in Gesamthöhe von 25 Millionen DM zur Verfügung (Höchstbetrag pro Antrag ist 1 Million DM). Deckungen für Projektfinanzierungen, für Geschäfte auf Gegenseitigkeitsbasis und für strukturierte Finanzierungen sind möglich. Für Geschäfte mit Kreditlaufzeiten von mehr als 360 Tagen bestehen Deckungsmöglichkeiten nur von Fall zu Fall. Somit ist zu hoffen, dass auch deutsche Investoren die größte Insel der Karibik für sich entdecken.

Soziale Situation

Die insgesamt positive wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre mit einem Wachstum von durchschnittlich gut 4 Prozent seit 1995 ist keineswegs ein statistisches Datum der Makroökonomie geblieben, sondern hat durchaus die Mehrheit der cubanischen Bevölkerung erreicht. Zu erwähnen ist hier an erster Stelle die Stabilisierung und allmähliche Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Personennahverkehr sowie Strom- und Wasserversorgung. Auch konnte das über das Rationierungssystem der libreta verteilte Kontingent an Grundnahrungsmitteln quantitativ und vor allem qualitativ verbessert werden. Schließlich sind die Ergebnisse der langsam fortschreitenden Überwindung des dramatischen Anpassungsschocks zu Beginn der 90er Jahre auch unmittelbar erfahrbar geworden: Über 60 Prozent der im (nach wie vor dominierenden) staatlichen Sektor Beschäftigten haben mittlerweile eine Anpassung ihrer Löhne erhalten, die 1999 um durchschnittlich 5,7 Prozent von 211 Peso/Monat (1998) auf 223 Peso/Monat (1999) gestiegen sind. Außerdem erhalten mittlerweile rund 1 Mio. Arbeiter und Angestellte einen Teil ihres Gehalts in Form von Prämien in konvertierbaren Peso (gesonderte Geldnoten, die innerhalb Cubas als Äquivalent zum US-Dollar gelten) in Höhe von durchschnittlich 19 US-$ im Monat ausgezahlt – was zum Wechselkurs für Privatpersonen umgerechnet 380 Peso ausmacht.

Struktur der Beschäftigung (%)

Sektor


1992

1993

1994

1995

1996

Staat

93,5

92,1

82,6

78,8

76,1


zivil

81,4

80,5

76,9

73,3

70,8


nicht zivil

12,1

11,6

5,7

5,5

5,3

nicht Staat

6,4

7,9

17,4

21,2

23,9


Kooperativen

1,4

1,4

7,7

10,2

10,4


private Bauern

3,0

3,3

3,9

4,1

4,1


Selbständige

1,4

2,4

4,3

5,4

8,0


andere

0,7

0,9

1,4

1,5

1,4




Die mit diesen Daten angezeigte positive Trendwende in der Einkommensentwicklung ist allerdings noch weit davon entfernt, den zu Beginn der neunziger Jahre eingetretenen drastischen Kaufkraftverlust zu kompensieren: Betrachtet man allein die Peso-Gehälter, so deckten diese 1999 gerade mal 60 Prozent des bereits 1990 bestehenden Niveaus ab. Dennoch hat die Menge der käuflich erworbenen Lebensmittel im Vergleich zum Vorjahr um 18,2 Prozent zugenommen, wobei der Umsatz der rationierten Güter nur um 6,5 Prozent stieg, dagegen die freien Agrarmärkte (wo Agrarprodukte gegen Peso verkauft werden, jedoch zu Preisen, die in US-Dollar kalkuliert sind) um 35 Prozent zulegten und die Dollar-Läden einen Zuwachs von immerhin 9,2 Prozent zu verzeichnen hatten. Die Auflösung dieses Widerspruchs bewirken die in Cuba zirkulierenden US-Dollar, zu denen mittlerweile immerhin gut 60 Prozent der Bevölkerung Zugang haben – sei es über Zuwendungen von Familienangehörigen im Ausland, über die Einnahme von Trinkgeldern im Tourismussektor oder über die Auszahlung von Prämien.

Da aber auch die Einkommen in US-Dollar extrem ungleich verteilt sind, treibt die rasant voranschreitende Dollarisierung der cubanischen Ökonomie die soziale Differenzierung der Bevölkerung in scharf voneinander abgegrenzten Schichten mit unterschiedlichen Lebensperspektiven voran. Eine weitgehend egalitäre Gesellschaft – erzeugt durch die staatlich regulierte Verteilung essentieller Waren und Dienstleistungen und konserviert durch den verallgemeinerten Mangel an Konsumgütern – war jedoch bisher einer der wesentlichen Stützpfeiler des politischen Systems. Dessen allmähliche Korrosion ließe sich letztlich nur verhindern, wenn die beiden unterschiedlichen Wechselkurse zusammengeführt würden, auf dieser Grundlage der Peso zur konvertierbaren Währung mutieren könnte und damit wiederum die Dollarisierung verschwinden würde. Voraussetzung dafür wären allerdings stetig hohe Wachstumsraten, die allein den nötigen Spielraum für die kontrollierte Anpassung der Löhne einerseits und der Preise andererseits schaffen könnten.

Die Realität sieht jedoch anders aus und lässt nur kleine Schritte zu: Die Lohnerhöhungen des letzten Jahres im öffentlichen Dienst blähten den Staatshaushalt um 620 Mio. Peso auf – ein Wert, der recht nahe an dem Haushaltsdefizit von 612 Mio. Peso liegt. Andererseits war die Erhöhung des Preises z.B. für Haushaltsgas (Produktionspreis: 22,50 US-$/100 Pfund) von 11 Peso auf 31,50 Peso pro 100 Pfund nur mit einem erheblichen propagandistischen Aufwand durchzusetzen. Da zudem die Regierung an ihrem Ziel festhält, die Inflationsrate unter 3 Prozent und die Erhöhung der Lebenshaltungskosten knapp unterhalb der Steigerung der Einkommen zu halten, gerät die wirtschaftlich stabile und sozial ausgewogene Anpassung der internen Preise leicht zu einer endlosen Geschichte – jedenfalls zu einem Prozess, der viel Zeit braucht.

Eine knappe Ressource ist der Faktor Zeit auch bei einem weiteren Problembereich, der sich immer mehr in den Vordergrund schiebt: die Wohnungsbaukrise. Von den 556.000 Wohneinheiten in Habana befindet sich die Hälfte in schlechtem Zustand, ein großer Teil davon ist sogar objektiv baufällig – eine Situation, die in ähnlichem Ausmaß auch in den anderen Städten der Insel anzutreffen ist. Hinzu kommt, dass die meisten Wohnungen überbelegt sind: Dass acht Personen aus vier Generationen in zwei Zimmern hausen (die zudem keinen Anschluss an Wasser und Kanalisation haben), ist keine Seltenheit. Während der Wohnbestand nach Jahrzehnten der Vernachlässigung buchstäblich zerbröselt, hinkt der Neubau jedoch dem Bedarf hinterher: Die 1999 fertiggestellten 41.000 Wohnungen sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Vor diesem Hintergrund haben sich viele Wohnviertel nicht nur aus sanitärer, sondern auch aus sozialer Sicht zu einer Brutstätte zahlreicher Gefahrenherde entwickelt, deren politische Dimension von der Führung des Landes offenbar ernst genommen wird. So enthält der für 2000 vorgestellte Plan nicht nur das Ziel, 50.000 Neubauten zu errichten, sondern sieht erstmals auch die Renovierung von 240.000 Wohnein-heiten vor. Geradezu revolutionär aber ist die Vorgabe, dass lediglich 2/3 dieses Volumens von staatlichen Betrieben oder Genossenschaften, der Rest jedoch in privater Initiative von den aktuellen bzw. zukünftigen Bewohnern selbst in Angriff genommen werden soll.

Erneut kommt somit die Hoffnung auf, dass die Führung der Revolution – wenn schon nicht aus Einsicht, so doch wenigstens aus Eigeninteresse am Machterhalt – endlich die wichtigste Ressource beim Transformationsprozess des Landes entdecken könnte: die Eigeninitiative ihrer Bürger.


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