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Israel : der Nahe Osten vor dem Frieden / Winfried Veit. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 23 S. : Kt. = 67 Kb, Text & Image files . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials]

  • Ministerpräsident Barak hat im ersten Halbjahr seiner Amtszeit den Friedensprozeß mit den Palästinensern wieder in Schwung gebracht. Sein Treffen mit Syriens Außenminister Shara in Washington Mitte Dezember 1999 könnte ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Friedensregelung im Nahen Osten sein.

  • Umstritten zwischen Israelis und Palästinensern sind vor allem die Grenzfragen: wie soll der künftige Palästinenserstaat aussehen? Bei den jüdischen Siedlungen zeichnet sich eine Lösung nach der Formel ab: „Die Mehrzahl der Siedler, aber nicht der Siedlungen verbleibt bei Israel". Beim Konflikt um Jerusalem könnte die Schaffung eines Groß-Jerusalem mit jüdischen und palästinensischen Bezirken beiden Seiten die Chance bieten, jeweils „ihre" Hauptstadt wiederfinden zu können.

  • Baraks ehrgeiziger Zeitplan ist gefährdet. Realistischer scheint, bis September 2000 eine Art vorläufiges Endstatus-Abkommen anzustreben, in dem die Lösung der schwierigsten Probleme nur vage umrissen würde.

  • Der Frieden mit Syrien entscheidet sich an der Frage des israelischen Rückzugs aus den Golanhöhen bei gleichzeitiger Sicherheitsgarantie für Israel und an der Kontrolle des Zugangs zu den Jordan-Quellflüssen. Israel möchte zudem seine Truppen aus der Sicherheitszone im Süd-Libanon zurückziehen können, ohne weiteren Attacken der fundamentalistischen Hisbollah ausgesetzt zu sein.

  • Innenpolitisch wird es ohne die orthodoxe Shas-Partei, die ihren religiös-kulturellen Einfluß ausweiten möchte, schwer werden, eine Mehrheit im Parlament und im Volk zu erhalten. Friede im Nahen Osten könnte daher langfristig eine verstärkte Orientalisierung Israels bedeuten. Doch kurzfristig droht die größte Gefahr für den Frieden nicht von den orientalischen (sephardischen) Juden sondern von den überwiegend europäisch-amerikanischen (aschkenasischen) Siedlern in der Westbank und auf dem Golan.

  • Ende Januar legte der „State Comptroller" (Rechnungshof), einen Bericht vor, in dem die illegale Wahlkampffinanzierung mehrerer Parteien, vor allem aber der Arbeitspartei, gerügt und mit hohen Geldstrafen belegt wurde. Die gleichzeitig empfohlenen polizeilichen Ermittlungen gegen zwei führende Leute der Barak-Kampagne lassen eine Lähmung der Handlungsfähigkeit des Regierungschefs mit noch nicht absehbaren Konsequenzen befürchten.

1. Das Ziel: kein neuer Naher Osten, aber Frieden

Im Nahen Osten blüht nach drei Jahren der verzweifelten Stagnation wieder die Friedenshoffnung, und es scheint, daß dies ausschließlich das Werk eines kleinen und kompakten, oftmals geradezu hölzern wirkenden Mannes ist: der israelische Ministerpräsident Ehud Barak hat im ersten Halbjahr seiner Amtszeit mit dem Abkommen von Scharm-el-Sheikh den Friedensprozeß mit den Palästinensern wieder in Schwung gebracht, und sein Treffen mit dem syrischen Außenminister Shara in Washington Mitte Dezember 1999 läutete möglicherweise ein friedliches neues Millenium im Nahen Osten ein. Damit ist zum ersten Mal in der über hundertjährigen blutigen Auseinandersetzung zwischen jüdischem und arabischem Nationalismus eine umfassende Friedensregelung im Nahen Osten in greifbare Nähe gerückt, denn abgesehen von den Außenseitern Irak und Libyen würde wohl kein arabisches Land den Zug der Zeit verpassen wollen.

Doch bis dahin wird noch einiges Wasser den Jordan hinunter strömen, wobei dieses Wasser wegen der anhaltenden Trockenheit immer spärlicher fließt: die Wasserknappheit ist nicht zuletzt einer der Stolpersteine, an denen eine Friedensregelung scheitern könnte. Daneben sind noch unzählige Hindernisse zu überwinden, vom tiefsitzenden Haß und der existentiellen Angst auf beiden Seiten bis hin zu lächerlich erscheinenden Details, wie der Streit um einige Quadratkilometer unfruchtbaren Landes oder die Öffnung eines antiken Tunnels in der Altstadt von Jerusalem.

Der vom Friedensnobelpreisträger und Ex-Ministerpräsidenten Shimon Peres seit Jahren beschworene „Neue Nahe Osten" liegt sicherlich noch in weiter Ferne und ist auch nicht die Sache von Ehud Barak. Der ehemalige Generalstabschef und hochdekorierte Offizier denkt in nüchternen Kategorien und geht pragmatisch, zugleich aber strategisch vor. Das macht seine Stärke aus, läßt ihn aber auch zum gefürchteten harten Verhandlungspartner werden, an dem sich die Palästinenser von Anfang an heftig reiben. Er ist nicht von kühnen Visionen beseelt, wie Peres, der in den arabischen Hauptstädten mit offenen Armen empfangen wird und dem man doch unterstellt, daß sein „Neuer Naher Osten" nur die klammheimliche Version einer israelischen Vormachtstellung ist. Barak orientiert sich schlicht an den Fakten und ist doch kein simpler Kommißkopf, der nicht über den Tag hinausblicken kann. Ganz im Gegenteil: der Stanford-Absolvent und passionierte Klavierspieler glaubt durchaus an seine historische Mission und sieht sich als Nachfolger und Vollstrecker des Staatsgründers Ben-Gurion und seines Vorbildes Yitzak Rabin, dessen Ermordung im November 1995 den Friedensprozeß vorerst stoppte und eine tiefe Zäsur in der kurzen Geschichte des Staates Israel bedeutete. Rabins Erbe heißt für Barak nichts anderes als Einheit im Inneren und Frieden nach außen.

In beidem unterscheidet er sich fundamental von seinem Vorgänger Netanjahu, der die israelische Gesellschaft gespalten und orientierungslos zurückgelassen hat. Baraks sicherlich stark von militärischem Denken beeinflußtes Kalkül beruht im Hinblick auf den Friedensprozeß auf folgenden Erwägungen:

  • Frieden kann aufgrund der israelischen Erfahrungen mit einer jahrzehntelangen existenziellen Bedrohung immer nur eine Variable der Sicherheit des Staates Israel sein; mit anderen Worten: nur wenn es der Sicherheit Israels nützt, soll man Frieden schließen.

  • Dieser Zeitpunkt ist gekommen, denn Israel ist stark und seine arabischen Nachbarn sind schwach. Dazu kommt, daß der Palästinenser-Führer Arafat und der syrische Präsident Assad alte und kranke Männer sind, die ihr Haus bestellen wollen, und dazu gehört ein Abkommen mit Israel. Diese Konstellation muß genutzt werden.

  • Im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen und Langstreckenraketen bieten eroberte Territorien (Sinai, Golan, Jordantal) nur noch begrenzten Schutz; statt dessen sind Friedensabkommen mit den Nachbarn bei gleichzeitiger militärtechnologischer Überlegenheit der beste Garant für die Sicherheit des Staates.

  • Auch wenn diese Abkommen, wie im Falle Ägyptens und Jordaniens, nur einen „kalten Frieden" bedeuten, so heißt dies doch Ruhe an den Grenzen; ein palästinensischer Staat und ein Vertrag mit Syrien (unter Einschluß Libanons) würden diese Ruhe an allen Fronten gewährleisten.

  • Dies würde zugleich eine ansehnliche Pufferzone zwischen Israel und seinen gefährlichsten Feinden, Irak und Iran, schaffen; die Gefahr eines Angriffes mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen reduziert sich somit.

  • Dies gilt um so mehr, als im Rahmen eines umfassenden Friedens auch notorische Israel-Gegner wie Saudi-Arabien und Algerien offizielle Beziehungen zum einstigen zionistischen Erbfeind aufnehmen würden; erste Anzeichen dafür gibt es zur Genüge.

  • Eine waffenstillstands-ähnliche Regelung mit allen Nachbarstaaten würde fürs erste also genügen; ob dies langfristig zur tatsächlichen Integration Israels in den Nahen Osten führen wird, bleibt der Geschichte überlassen.

Diese nüchterne und weit von den visionären Vorstellungen eines Shimon Peres entfernte Einschätzung setzt dem „kalten Frieden" der Araber eine ebenso kalte israelische Botschaft entgegen: „Wir mögen uns nicht, unsere Interessen sind eigentlich unvereinbar, aber wir sind durch die Geschichte dazu verdammt, auf engstem Raum zusammen zu leben. Dazu sind wir, auch mit territorialen Zugeständnissen, bereit, wenn nur unsere Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben." Diese Botschaft bedeutet zum Beispiel die von Barak öffentlich propagierte Trennung zwischen Israel und dem zukünftigen Palästinenserstaat, und sie bedeutet auch eine nicht so öffentlich bekundete stärkere Orientierung in Richtung Europa, bei gleichzeitiger – selbstverständlicher – Aufrechterhaltung der besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.

Doch wenn Barak in den Augen seiner arabischen Verhandlungspartner als „harter Knochen" erscheinen mag, so gilt er vielen hardlinern im eigenen Land als „Weichei", das die Sicherheitsinteressen Israels fahrlässig aufs Spiel setzt, um der internationalen Gemeinschaft einen Gefallen zu erweisen und als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen. Insbesondere die Rückgabe der Golanhöhen an Syrien, die Anerkennung eines palästinensischen Staates und die Aufgabe vieler Siedlungen im Westjordanland bedeuten aus dieser Sicht das langfristige Todesurteil für den Staat Israel. Der frühere Likud-Minister Moshe Katzav hat im rechten Massenblatt „Maariv" ein entsprechendes Schreckensszenario gezeichnet (das hier nach dem Medienspiegel der Deutschen Botschaft Tel Aviv vom 27. Oktober 1999 wiedergegeben wird): Diese Vision reicht vom zukünftigen palästinensischen Staat, in dem Teile der Regierung und die Terrororganisationen die Rückkehr der Palästinenser nach Städten wie Haifa, Jaffa, Ramleh und Aschkelon fordern werden (ein Ziel, das sie auch durch Terror durchzusetzen versuchen werden), über den wachsenden Druck der ganzen Welt und auch der arabischen Staaten, mit denen Israel im Frieden lebt, auf die israelische Regierung in dieser Richtung, bis hin zur alptraumartigen Vision des Entstehens von Großpalästina zu beiden Seiten des Jordan. Schließlich lebten in Jordanien 70 % Palästinenser, die eines Tages das Königshaus stürzen könnten. Dieses Großpalästina wiederum, so das Szenario, würde sich mit dem Irak und dem Iran verbünden, die bis dahin die Entwicklung ihrer A-, B- und C-Waffen abgeschlossen haben und alle Teile von Israel mühelos angreifen können. Syrien beherrscht dabei das Ostufer des Genezareth-Sees und sitzt auf tausend Raketen mit chemischen Sprengköpfen. Ägypten sei, wie sich dieser Tage wieder bestätigt habe, zu einem Krieg gegen Israel durchaus bereit. „Dann werden Ägypten, Palästina und Syrien uns unter Druck setzen, damit wir weitere Zugeständnisse machen und den Palästinensern die Rückkehr in ihren ehemaligen Besitz in Israel erlauben, ...und sie werden wieder die Implementierung der UNO-Resolutionen 181 (Rückkehr zu den Grenzen des Teilungsbeschlusses von 1947) und 194 (Rückkehrrecht der Flüchtlinge) fordern". Mit anderen Worten: die angestrebten Friedensabkommen mit Syrien und den Palästinensern werden Israels derzeitige starke Stellung in eine Position der Schwäche verwandeln und langfristig die Existenzgrundlagen des Staates gefährden.

Hier handelt es sich keineswegs um die Ansicht eines isolierten Schwarzsehers, sondern diese Haltung reflektiert durchaus die tiefsitzende Furcht wichtiger politischer und gesellschaftlicher Kräfte, die – wenn man Meinungsumfragen glauben darf – von etwa der Hälfte der israelischen Bevölkerung geteilt wird. Barak hat sich noch im Wahlkampf des Frühjahres 1999 darauf festgelegt, die Abkommen mit Syrien und den Palästinensern einer Volksabstimmung zu unterziehen; doch selbst für ihn, der als zweiter „Mr. Security" in der politischen Führung des Landes nach Rabin gilt und dessen Verhandlungsteam fast ausschließlich aus Ex-Generälen besteht, dürfte es schwer werden, eine Mehrheit für sein sicherheitsorientiertes Friedensangebot zu finden.

2. Das Problem: die palästinensische Frage

Das Kernproblem des Nahost-Konflikts ist die palästinensische Frage. Wie sich bei den Friedensabschlüssen mit Ägypten und Jordanien gezeigt hat und wie es sich bei den Verhandlungen mit Syrien abzeichnet, sind die Probleme zwischen den Staaten der Region durchaus zu lösen, geht es hier doch nicht um existenzielle Fragen, sondern um das Abwägen machtpolitischer Interessen und um territoriale Streitigkeiten, die aber nicht an die Fundamente des Selbstverständnisses rühren. Ganz anders verhält es sich im Konflikt zwischen Juden und Palästinensern: hier geht es in der Tat um existenzielle Probleme, nämlich um die Frage, wie zwei rasch wachsende Völker auf äußerst begrenztem Raum und limitierten Ressourcen (vor allem Wasser) zusammen – oder besser gesagt: nebeneinander – leben können. Hinzu kommt ein Geflecht historisch und religiös begründeter Ansprüche auf das Land im allgemeinen und auf „heilige Stätten" im besonderen, das eine explosive Mischung politischer, sozialer und ideologischer Gegensätze erzeugt und zu einer fast unlösbaren Situation geführt hat. Das Grundproblem ist, daß beide Seiten „Recht haben" und daß dieses „Recht Haben" durch fundamentalistische Fanatiker auf beiden Seiten auf die Spitze getrieben wird.

Wenn sich inzwischen dennoch eine friedliche Lösung abzeichnet und die Palästinenser im Oslo-Abkommen von 1993 das Existenzrecht Israels „im Prinzip" anerkannt, die Israelis ihrerseits das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat ebenfalls „im Prinzip" akzeptiert haben, dann grenzt dies schon an ein Wunder und hat doch handfeste Ursachen. In Israel wächst inzwischen die dritte Generation unter – wenn auch mittlerweile abgeschwächten – Kriegsbedingungen heran. Der ständige Appell an die Opferbereitschaft beginnt aber seine Wirkung in einer Gesellschaft zu verlieren, die in den letzten zwanzig Jahren einen fundamentalen Wandel vom gleichheitsorientierten Pionierideal zu einem modernen Industriestaat durchgemacht hat. Wenn Barak, der Prototyp der militärisch geprägten zweiten Generation, jetzt das Prinzip „Land gegen Frieden" zu seiner Regierungsmaxime macht, dann reflektiert dies den Zustand der israelischen Gesellschaft und zeigt seine Weitsicht, die für einen kriegserprobten Militär alles andere als selbstverständlich ist.

Bei den Palästinensern hat die Einsicht in das Unvermeidliche – sprich: die Teilung des Landes – andere Ursachen, führt aber zum gleichen Ergebnis. Hier ist es keineswegs der Druck der Gesellschaft, der die Bereitschaft zum Frieden gefördert hat, ganz im Gegenteil: ein Großteil der Mittelklasse und der Bevölkerung insgesamt steht dem Oslo-Prozeß skeptisch gegenüber, der von einer autoritären, vorwiegend aus dem Exil zurückgekehrten Führungsschicht „verordnet" wurde. Deren Interesse und an erster Stelle das Interesse ihres unbestrittenen Führers Yassir Arafat ist es, möglichst noch zu ihren Lebzeiten an der Spitze eines unabhängigen Palästina zu stehen – unter fast allen Umständen, wie ihre Opponenten monieren. Arafat, Anfang 1996 als Präsident der im Kairo-Abkommen von 1994 geschaffenen Palestinian Authority (in palästinensischer Diktion: Palestinian National Authority) in direkter Volkswahl bestätigt, ist über 70 Jahre alt und krank; um seinen Lebenstraum zu verwirklichen, bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Das erklärt nach Meinung seiner Gegner die – bei aller militanten Rhetorik – vielen Zugeständnisse an die Israelis. Doch der Widerstand hat weitere Gründe: Von der fundamentalistischen Hamas bis hin zu demokratischen Einzelkämpfern und Teilen seiner eigenen Fatah-Gruppe wird das zentralistische Regiment des PA-Präsidenten wegen seiner undemokratischen, korrupten und unfähigen Verwaltung kritisiert. Paradoxerweise betreibt also das demokratische Israel nicht mit den demokratischen Kräften im palästinensischen Lager den Friedensprozeß sondern mit der autoritären Führung. Doch ist dies im regionalen Kontext nichts Ungewöhnliches: schließlich sind die Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien mit nicht gerade demokratisch legitimierten Regimen zustande gekommen, und im Falle Syriens wird es nicht anders sein.

Israels Ministerpräsident Barak hat sich das an sich berechtigte, im konkreten Fall jedoch scheinheilige Argument seines Vorgängers Netanjahu nicht zu eigen gemacht, wonach ein wirklicher Frieden im Nahen Osten erst dann möglich wäre, wenn auch die arabischen Nachbarn demokratisch regiert würden. Und gerade im Falle der Palästinenser läßt sich durchaus vorstellen, daß nach dem Friedensschluß und der Etablierung eines unabhängigen Staates die nach außen gewandten Energien sich auf den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens konzentrieren werden. Doch das ist Baraks Sorge nicht; er möchte die Gunst der Stunde nutzen und einen unter den gegebenen Umständen für Israel günstigen Frieden mit den Palästinensern schließen. Deshalb hat er sich, die israelische Gesellschaft und seine palästinensischen Partner unter einen ungeheuren Zeitdruck gesetzt, dessen Eckdaten wie folgt aussehen:

  • am 4. September 1999 erfolgte die Unterzeichnung des Sharm-el-Sheikh-Abkommens mit der Verpflichtung eines weiteren israelischen Truppenrückzugs in zwei Etappen bis zum 20. Januar 2000, der Eröffnung einer „sicheren Verbindung" zwischen Gaza und Hebron (am 18. Oktober erfolgt) und der Freilassung von mehreren hundert palästinensischen Gefangen aus israelischen Gefängnissen;

  • am 13. September 1999 begannen erneut die Verhandlungen über ein Endstatus-Abkommen, die kurz nach ihrem Beginn im Frühjahr 1996 aufgrund des Wahlsieges von Netanjahu für drei Jahre auf Eis lagen;

  • 13. Februar 2000: Unterzeichnung des Rahmenabkommens über den Endstatus; dieser Termin ist nach dem vorläufigen Scheitern der Gespräche Anfang Februar wohl nicht mehr zu halten;

  • - 13. September 2000: Unterzeichnung des Endstatusabkommens (genau sieben Jahre nach Abschluß des Oslo-Abkommens in Washington).

Innerhalb eines Jahres soll nun erreicht werden, was in den sechs Jahren zuvor in Vorgeplänkeln dahin plätscherte oder völlig auf Eis lag. Dabei war schon die Interimsphase des Oslo-Abkommens (also die Zeitspanne bis zu einem endgültigen Friedensvertrag) von ständigen Streitereien, Terroranschlägen und – als Reaktion darauf – Absperrungen der palästinensischen Gebiete gekennzeichnet. Das war auch unter Rabin und Peresbereits so, bevor mit Netanjahu der Oslo-Prozeß endgültig die Form einer Echternacher Springprozession annahm, nach dem Motto: ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Und auch der Neubeginn der Verhandlungen unter Barak seit dem Sharm-el-Sheikh-Abkommen läßt sich aus Sicht der Palästinenser nicht gerade hoffnungsfroh an: unerbittlich bestanden die Israelis in der Frage der „sicheren Verbindung" und des weiteren Truppenrückzugs auf ihren Sicherheitsvorstellungen und nahmen damit auch längere Verzögerungen in Kauf. Dabei geht es nach wie vor nur um die „leichteren" Punkte der Interims-Phase, ein paar Quadratkilometer Land hier oder dort, ein Hafen in Gaza, Arbeits- und Reisegenehmigungen für die palästinensische Bevölkerung, die endlich die Früchte des sich hinziehenden Friedensprozesses sehen will.

Jetzt aber stehen die wirklichen Probleme auf der Tagesordnung, und ob diese innerhalb eines Jahres gelöst werden können, bezweifeln selbst überzeugte Friedenstauben wie Shimon Peres. Ein Endabkommen zwischen Israel und den Palästinensern bedeutet nahezu die Quadratur des Kreises, weil in zentralen Punkten die jeweiligen Positionen unversöhnlich erscheinen und zahlreiche heilige Kühe den Verhandlungsweg säumen:

Grenzen: Wie soll der künftige Palästinenserstaat aussehen? Nach dem Sharm-el-Sheikh-Abkommen verfügt die PA über fast den ganzen Gaza-Streifen und etwa 40 Prozent der Westbank (davon allerdings noch über die Hälfte unter israelischer Sicherheitskontrolle). Die Mehrzahl der Palästinenser lebt aber bereits zumindest unter der Zivilverwaltung der PA, weil dieses Gebiet die Bevölkerungszentren umfaßt (siehe Karte 1). Das ist die Ausgangslage für die Endstatus-Verhandlungen: ein von jüdischen Siedlungen durchsetzter und von zahlreichen „Bypass"-Strassen zerschnittener Flickenteppich (in der Westbank). Die Palästinenser bestehen auf den Demarkationslinien vom 4. Juni 1967 (sogenannte „Grüne Linie"), bevor Israel die Westbank eroberte. Die Westbank (in israelischer Diktion: Judäa und Samaria) umfaßt knapp 6000 qkm mit 1,9 Mio. Einwohnern, der Gaza-Streifen wenige hundert qkm und 1,1 Mio. Menschen – ein extrem dicht bevölkertes Pulverfaß. Die Israelis wollen aus Sicherheitsgründen die Kontrolle über das Jordantal (Ostgrenze gegenüber Jordanien) und die judäische Wüste (Ostgrenze gegenüber dem Toten Meer) behalten, dazu den größten Teil der jüdischen Siedlungen und – natürlich – den Großraum Jerusalem. Damit würde der zukünftige Staat über etwa 60 % der Westbank verfügen.

Siedlungen: Nach der israelischen Besetzung der Westbank setzte eine von allen israelischen Regierungen (sowohl unter Führung der sozialdemokratischen Arbeitspartei wie des national-konservativen Likud) geförderte jüdische Besiedlung ein, die neben Sicherheitserwägungen immer mehr den Charakter einer religiös-nationalen Bewegung annahm. Judäa und Samaria gelten auch den säkularen Israelis als die Wiege des Judentums mit vielen heiligen Stätten, die in dieser Sicht einen Anspruch auf dieses Land rechtfertigen. Heute leben fast 200 000 Menschen in etwa 140 jüdischen Siedlungen und stellen eines der dornigsten Probleme für eine Friedensregelung dar. Doch zeichnet sich eine Lösung nach der Formel ab: „die Mehrzahl der Siedler, aber nicht der Siedlungen verbleibt bei Israel". Diese Formel ist in einem non-paper enthalten, das zwei prominente Politiker beider Seiten, Abu Mazen und Yossi Beilin, schon vor Jahren verfaßt haben, und sie fußt auf der Tatsache, daß fast 90 Prozent der Siedler in drei großen grenznahen Blöcken leben, mit einer starken Konzentration um Jerusalem herum (siehe Karte 1).

Jerusalem: Dies ist die heiligste aller Kühe, weil die Stadt in der Tat für beide Seiten „heilig" ist. Für die Juden ist es das religiöse und nationale Zentrum schlechthin, der Ort, an dem einst ihr Tempel stand, von dem heute nur noch die Klagemauer übriggeblieben ist. Für die Moslems ist es nach Mekka und Medina die drittheiligste Stätte, von wo der Prophet Mohammed in den Himmel aufstieg, um von dort nach Mekka zurückzukehren. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 annektierte Israel Ost-Jerusalem, und es ist seither breiter nationaler Konsens, daß die Stadt auf ewig die ungeteilte Hauptstadt des Staates sein soll. Ebenso deutlich ist aber auf der anderen Seite der Konsens unter den Palästinensern, daß Ost-Jerusalem mit dem Tempelberg die Hauptstadt des zukünftigen palästinensischen Staates sein muß. Israel hat in den letzten Jahrzehnten mit einer umfangreichen Siedlungstätigkeit um Jerusalem herum (auf dem Gebiet der Westbank) versucht, Tatsachen zu schaffen, die im erwähnten Abu Mazen-Beilin-Papier ihren Niederschlag finden. Dort wird als mögliche Lösung die Schaffung eines Groß-Jerusalem vorgeschlagen, mit jüdischen und palästinensischen Bezirken, in denen beide Seiten ihre Hauptstadt wiederfinden können (siehe Karte 2).

Flüchtlinge: Auch hier stehen sich die Positionen beider Seiten fast unversöhnlich gegenüber. Der Streit beginnt schon mit den Zahlen: nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina gibt es etwa 3,5 Millionen Flüchtlinge, Israel geht von zwei Millionen aus, und die Palästinenser sprechen von fünf Millionen. Die meisten leben in den arabischen Nachbarländern, ein Drittel von ihnen nach wie vor in Lagern in Libanon, Jordanien, Syrien, der Westbank und Gaza. Die Palästinenser fordern schlicht die Erfüllung der UN-Resolution 194, wonach alle diejenigen, die zurückkehren wollen, dies auch dürfen und die anderen entschädigt werden. In israelischen Denkmodellen, die Baraks Vorstellungen nahekommen dürften, soll einer begrenzten Zahl von ihnen im Rahmen der „Familienzusammenführung" die Rückkehr nach Israel erlaubt werden, eine größere Anzahl könnte zahlenmäßig und zeitlich (von Israel) kontrolliert in den zukünftigen palästinensischen Staat zurückkehren, der größte Teil solle – mit finanzieller Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft - in die Nachbarländer integriert werden, wie dies in Jordanien zum Großteil schon geschehen ist. Um mögliche Kompensationszahlungen zu konterkarieren, spricht man in Israel neuerdings von Entschädigungsforderungen für beschlagnahmtes jüdisches Eigentum in den arabischen Ländern.

Wasser: Die seit dem Winter 1998/99 anhaltende Niederschlagsarmut hat die Wasserknappheit in der Region verschärft und damit den Streit um die zukünftige Wasserverteilung angeheizt. Die Israelis versorgen sich bisher zu einem beträchtlichen Teil aus unterirdischen Wasserreserven, die auf dem Gebiet der Westbank liegen (und natürlich gilt dies auch für die jüdischen Siedlungen). Die völlig ungleiche Wasserverteilung ist für die Palästinenser in einem Endstatus-Abkommen nicht hinnehmbar, für Israel sind dabei elementare Sicherheitsinteressen tangiert.

Diese summarische Aufzählung, die noch viele strittige Details enthält, macht deutlich, wie lang und beschwerlich der Weg zu einer definitiven Friedensregelung sein wird. Dabei sind dies die Positionen der Friedenswilligen auf beiden Seiten, die in ihren jeweiligen Gesellschaften erst noch eine Mehrheit für ihre Vorstellungen gewinnen beziehungsweise mit hartnäckigem Widerstand an der Heimatfront rechnen müssen. Ob der von Barak verordnete Zeitplan unter diesen Umständen einzuhalten ist, scheint fraglich und hat zu Überlegungen geführt, bis September 2000 eine Art vorläufiges Endstatus-Abkommen anzustreben, in dem die Lösung der schwierigsten Probleme nur vage umrissen würde. Damit erhoffen sich die Friedensbefürworter, Zeit zu gewinnen, mit kleinen Schritten voranzuschreiten und damit die jeweilige Bevölkerung an das Unvermeidliche zu gewöhnen. Ob diese Rechnung aufgehen wird, ist ungewiß. Auf israelischer Seite spricht dafür, durch ein Friedensabkommen mit Syrien eine solche Dynamik zu schaffen, daß auch eine Regelung mit den Palästinensern akzeptiert würde. Auf palästinensischer Seite würde der Traum von einem eigenen Staat – in welcher Form auch immer – in Erfüllung gehen, und Arafat wäre als Präsident eines Gemeinwesens mit UN-Mitgliedschaft, eigener Währung, Flagge und sonstigen Attributen der Souveränität vielleicht in der Lage, die bittere Pille eines notwendigen Kompromisses zu versüßen.

3. Die Lösung: Frieden mit Syrien, Rückzug aus dem Libanon

Noch ein anderer Faktor könnte Arafat und seine Führungsmannschaft dazu bewegen, den israelischen Vorstellungen entgegenzukommen: die Aufnahme der Friedensverhandlungen zwischen Israel und Syrien, die Mitte Dezember 1999 in den USA erstmals auf hohem politischen Niveau (Ministerpräsident Barak – Außenminister Shara) aufgenommen wurden. Es mag ein glänzender Schachzug Baraks oder auch glücklicher Zufall gewesen sein – fest steht, daß diese Tatsache Arafat unter Zugzwang gesetzt hat. Denn bisher konnten sich die Palästinenser darauf verlassen, daß Syrien – mit dem Trabanten Libanon an der Hand – vor einer Lösung der Palästina-Frage keinen Frieden mit Israel schließen würde. Es ist ein doppeltes Dilemma für Arafat: einerseits muß er sich schnell bewegen, um nicht möglicherweise allein einem durch Friedensabkommen mit allen Nachbarstaaten gestärkten Israel gegenüberzustehen, andererseits müßte er – bei einem vollständigen Rückzug der Israelis aus dem syrischen Golan, wie zuvor schon aus dem ägyptischen Sinai – eigentlich ebenfalls auf der vollständigen territorialen Unversehrtheit der Westbank bestehen, will er nicht als einziger arabischer Führer als Verlierer dastehen.

Doch auch ein Vertrag mit Syrien ist für Israel nicht so einfach zu haben, auch wenn es in diesem Fall nicht um historisch und religiös belastete Elemente geht. Schließlich haben beide Länder dreimal Krieg gegeneinander geführt, stehen sich seit fast zwanzig Jahren als indirekte Gegner im Libanon gegenüber und war Syrien der „Frontstaat", der am härtesten und längsten anti-israelische Positionen vertrat und die verschiedensten Terrororganisationen (wie die Hisbollah im Libanon und radikale Palästinensergruppen) in ihrem Kampf gegen den „zionistischen Feind" unterstützte. Die Spekulationen darüber, warum der syrische Diktator Hafes el-Assad nach dem Scheitern der ersten zögerlichen Verhandlungsrunde zwischen 1992 und 1995 schließlich deren spektakuläre Wiederaufnahme ermöglicht hat, sind müßig. Es mag eine Kombination verschiedener Gründe gewesen sein: sein Alter (70 Jahre) und sein (angeblich schlechter) Gesundheitszustand in Verbindung mit dem Bestreben, seinen 35-jährigen Sohn Bashar als Nachfolger zu etablieren sowie der schlechte Zustand der syrischen Wirtschaft und die Hoffnung, westliche Hilfe und Investitionen zu erhalten; für beides wäre der Friede mit Israel ein Vorteil.

Aber Baraks offensichtliche Strategie, noch im Laufe des Jahres 2000 zu einem Abkommen mit Syrien zu gelangen, ist nicht unproblematisch. Abgesehen von den inneren Schwierigkeiten (dazu weiter unten) stehen folgende strittige Punkte auf der Tagesordnung:

Grenzen: für Assad ist klar, daß es Frieden nur geben kann, wenn sich Israel aus den 1967 eroberten Golan-Höhen zurückzieht. Dazu ist Barak im Prinzip auch bereit, doch steckt hier der Teufel im Detail. Denn es gibt nicht weniger als drei Grenzlinien, die für eine Regelung in Betracht kommen: die sogenannte „internationale Grenze" von 1923 zwischen dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina und dem französischen Mandatsgebiet Syrien; die Waffenstillstandslinie von 1949 (nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg) und der aufgrund andauernder Grenzscharmützel leicht veränderte Verlauf der letzteren Linie bis zum 4. Juni 1967, dem Beginn des Sechs-Tage-Krieges. Die flächenmäßigen Unterschiede sind äußerst gering, doch würde die von den Syrern beanspruchte Demarkationslinie von 1967 ihnen den Zugang zum See Genezareth und zum Jordan gewähren, während die von Israel befürwortete „internationale Grenze" einen – wenn auch teilweise minimalen – Abstand von beiden Gewässern vorsieht. Für die Wasserfrage ist darüber hinaus auch die Kontrolle der Jordan-Quellflüsse im nordwestlichen Golan und im südlichen Libanon wichtig.

Sicherheit: für Barak sind „wasserdichte" Sicherheitsvereinbarungen die conditio sine qua non eines Abkommens. Nicht nur steht für ihn Israels Sicherheit an oberster Stelle aller Friedensbemühungen, er kann auch die Rückgabe des strategisch wichtigen Golan-Plateaus der eigenen Bevölkerung nur dann schmackhaft machen, wenn die Sicherheit des Landes damit nicht geschwächt wird. Deshalb fordert Israel eine Fülle detaillierter Vereinbarungen, deren Kern die vollständige Entmilitarisierung des Golan, die „Ausdünnung" der syrischen Militärpräsenz zwischen Golan und Damaskus sowie die Errichtung von drei israelischen Überwachungsstationen auf dem Golan umfaßt. Darüber hinaus wollen die Israelis ihren Abzug etappenweise über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren vollziehen, Syrien scheint mit 18 Monaten einverstanden zu sein.

Libanon: das zwischen Israel und Syrien eingeklemmte kleine Land könnte das definitive Opfer des Friedens werden. Bisher schon ein syrisches Protektorat mit 30 000 Soldaten und mehreren hunderttausend Gastarbeitern, wird es jedes Abkommen mit unterschreiben. Für Assad wäre neben der Rückgabe des Golan die quasi international sanktionierte Dominanz über den Libanon der größte Triumph seiner dreißigjährigen Herrschaft. Die Israelis sind im wesentlichen daran interessiert, ihre Truppen aus der Sicherheitszone im Süd-Libanon zurückziehen zu können, ohne weiteren Attacken der fundamentalistischen Hisbollah ausgesetzt zu sein. Der von Barak im Wahlkampf für Mitte 2000 angekündigte einseitige Rückzug Israels aus dem Libanon mag zur Verhandlungsbereitschaft Assads beigetragen haben, wäre ihm dadurch doch der Grund für eine weitere Unterstützung der Hisbollah entzogen worden und hätte er damit ein wichtiges Faustpfand gegenüber Israel verloren.

Öffnung: die jahrzehntelang im Nahen Osten isolierten Israelis erhoffen sich von einem Friedensabkommen eine offene Grenze mit Wirtschaftsaustausch, Tourismus und kulturellen Begegnungen. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Syrien im besten Fall das ägyptische Modell eines „kalten Friedens" anbietet, in dem der Austausch recht einseitig verläuft. Alles andere wäre ein Wunder bei einem Regime, das mit umfassenden Spitzelapparaten und brutalen Unterdrückungsmethoden seine eigene Bevölkerung im Schach hält.

Die israelischen Medien reagierten enttäuscht auf die Begleitumstände des Washingtoner Treffens vom Dezember 1999, weil der syrische Außenminister dem israelischen Ministerpräsidenten nicht vor den Kameras die Hand schüttelte und in seinen einleitenden Worten eine eisige Kälte verströmte, gespickt mit den altbekannten Vorwürfen gegenüber Israel. Doch kluge Beobachter registrierten vor allem, was Shara außerdem noch sagte und auch was er nicht sagte. Er verkündete nämlich im Namen Assads nichts weniger als das Ende des existenziellen Konflikts zwischen Israel und den Arabern und öffnete der Interpretation die Tür, wonach es sich um herkömmliche Grenzauseinandersetzungen handle, die bei gutem Willen gelöst werden könnten. Er stellte zugleich bei einem Friedensabkommen Israels mit Syrien und Libanon einen umfassenden Frieden für die gesamte Nahost-Region in Aussicht – und erwähnte die Palästinenser mit keinem einzigen Wort.

Diese – durchaus historisch zu nennenden – Worte könnten Baraks Strategie des „Syrien zuerst" aufgehen lassen. Diese verfolgt er nach einem glaubwürdigen Zeitungsbericht schon seit seiner Zeit als Generalstabschef im Verein mit dem damaligen Leiter des Militärgeheimdienstes, Uri Saguy, der heute sein Chefunterhändler mit Syrien ist. Nach diesem Bericht beruht die Strategie auf drei Punkten:

Frieden mit Syrien würde die Kriegsgefahr beenden, Israels militärische Überlegenheit in der Region festigen und die Palästinenser zu Konzessionen zwingen. Möglich wäre dann vielleicht auch eine Annäherung an den Iran, der weniger extremistisch und gefährlich ist als der Irak. Israels Militärstrategie müßte sich wandeln weg vom Halten vorgeschobener (Land-) Positionen hin zu modernsten Waffensystemen, die einen raschen, entscheidenden und wenig Leben kostenden Schlag gegen jede Bedrohung ermöglichen würden.

Skeptiker dieses Denkens verweisen vor allem darauf, daß vorgeschobene Pufferzonen – zumal in so exponierter Lage wie der Golan – noch immer besser seien als jede auch noch so gute Sicherheitsvereinbarung, weil auch zukünftige militärische Auseinandersetzungen überwiegend konventionell geführt würden. Andere sehen die große Schwäche der „Syrien zuerst"-Option in den möglichen Nachfolgekämpfen und instabilen Verhältnissen in Syrien nach dem Ableben Assads und plädieren dafür, erst den absehbaren Wechsel abzuwarten und mit einem neu gefestigten Regime zu verhandeln. Ungewiß erscheint in dieser Sicht vor allem, ob es der alawitischen Minderheit (etwa 12 Prozent der Bevölkerung) gelingt, ihre unter Assad mit eiserner Faust gefestigte Herrschaft aufrechtzuerhalten, ob es zur Machtteilung oder gar zum Bürgerkrieg kommt. Ein weiteres Argument gegen Baraks Strategie: die erst jüngst in einem Bericht des renommierten Jaffee Center, einem sicherheitspolitischen think tank der Universität Tel Aviv, bestätigte militärische Schwäche der Syrer wegen ihrer veralteten Ausrüstung, könne sich nach einem Friedensschluß verändern, da Syrien zu Recht eine ähnliche Behandlung wie Ägypten erwarten dürfe, das nach dem Camp David - Abkommen von den USA umfangreiche Militärhilfe erhielt und mittlerweile wieder über eine schlagkräftige Armee verfügt. Und schließlich gibt es über die ideologischen und parteipolitischen Trennlinien hinweg eine einflußreiche Gruppe, die den „syrischen Weg" als Nebengleis ansieht, weil im Zentrum der historischen Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern nun einmal das Palästinenser-Problem stehe und ohne dessen Lösung eine umfassende Friedensregelung im Nahen Osten undenkbar sei; alle Kraft sollte daher darauf verwandt werden.

4. Die Chancen: Was kommt nach dem Frieden ?

Falls es im Jahre 2000 tatsächlich zu Friedensabkommen zwischen Israel einerseits und Syrien/Libanon sowie den Palästinensern andererseits kommen und der Nahe Osten damit friedlich in das neue Millenium schreiten sollte, dann wäre dies nicht zuletzt den USA und an erster Stelle Präsident Bill Clinton zu verdanken. Die Clinton-Administration hat sich in ihrer dem Ende zuneigenden achtjährigen Amtszeit in außergewöhnlicher Weise im nahöstlichen Friedensprozeß engagiert, diesen mit viel Mühe über die Netanjahu-Eiszeit hinweg am Leben erhalten und schließlich auch die Sphinx von Damaskus zum Einlenken bewegt. Die Amerikaner werden auch dann noch gebraucht, wenn die Abkommen unter Dach und Fach sind: als Zahlmeister für die Kosten des israelischen Rückzugs aus der Westbank und dem Golan (hier werden bereits abenteuerliche Summen von zwischen zehn und zwanzig Milliarden Dollar gehandelt), als Garant von Entflechtungs- und Entmilitarisierungsvereinbarungen (Überwachungsstützpunkte auf dem Golan) und nicht zuletzt als Lieferant von Wirtschafts- und Militärhilfe an alle Seiten, insbesondere aber an Syrien, um den Frieden auch ökonomisch und psychologisch zu stabilisieren. Ohne das persönliche, auf humanitären Prinzipien und der Freundschaft zum jüdischen Staat basierende Engagement Clintons zu schmälern, hätte Washington dann ein vorrangiges strategisches Ziel seiner globalen Politik erreicht, nämlich eine Pax Americana im größten Teil der Nahost- und Mittelmeer-Region mit den drei wichtigsten Elementen:

  • Isolierung der sogenannten „Schurken-Staaten" (Iran, Irak, Libyen, Sudan), die wegen ihrer Unterstützung terroristischer Organisationen eine Bedrohung für den Weltfrieden und die amerikanische Sicherheit darstellen;

  • Flankierende Absicherung der geostrategisch und wirtschaftlich (Öl) wichtigen zentralasiatischen und kaspischen Region, insbesondere nach dem gegen den Willen Rußlands beschlossenen Bau einer Pipeline von Aserbaidschan an die türkische Mittelmeerküste;

  • Fernhalten der Russen aus dem Nahen Osten, die während der Stagnationsphase des Friedensprozesses wieder verstärkt ihre alten Großmachtansprüche angemeldet hatten.

Dies alles liegt durchaus auch im Interesse Israels, das ja – bei allen Schwankungen – immer eine „besondere Beziehung" zu den USA unterhielt, ohne jedoch jemals seine Handlungsfreiheit aufs Spiel zu setzen und das als wichtigste Militär- und Wirtschaftsmacht des Nahen Ostens nie ein bequemer Verbündeter für die Amerikaner war. Dies zeigt sich an den anhaltenden Auseinandersetzungen um die Lieferung israelischer Militärtechnologie an Indien, vor allem aber an China, das den früheren Paria-Staat im Herbst 1999 durch den Besuch des Spitzenpolitikers Li Peng aufwertete – nicht gerade zur Freude der Amerikaner. Doch im allgemeinen decken sich die strategischen Interessen der beiden ungleichen Partner, und dies gilt auch für den Friedensprozeß: für die USA würde das Ende des Nahost-Konflikts bedeuten, daß ihr wichtigster Verbündeter in der Region endlich „salonfähig" wäre und man nicht mehr die mühselige Balance mit den sonstigen Interessen, vor allem am Golf und in Ägypten, suchen müßte; für Israel böte es die Chance, seine außenpolitischen Optionen zu diversifizieren und die einseitige Amerika-Fixierung abzubauen, ohne die „besondere Beziehung" zu Washington anzutasten, die auf Zweckmäßigkeit und der emotionalen Verbundenheit mit dem amerikanischen Judentum beruht.

„Nach dem Frieden" wäre ein neuer Naher Osten also durchaus denkbar, der in reduzierter Form sogar der Vision von Shimon Peres nahekommen könnte. Offensichtlich denkt Barak dabei an ein Kooperationsmodell, das weniger die intensive europäische Integration, sondern die unverbindlichere asiatische Form der Zusammenarbeit in der ASEAN zum Vorbild hat. Es wäre „ein Modell für Nichteinmischung und Koexistenz von Ländern, die sich nicht gerade lieben", wie es einer seiner Berater ausdrückte. Doch ist dies noch Zukunftsmusik; konkret steht auch „nach dem Frieden" zunächst nicht die Integration Israels in den Nahen Osten an sondern die Herstellung eines halbwegs normalen Verhältnisses zur arabischen Staatenwelt. Gegenwärtig existieren volle diplomatische Beziehungen zu Ägypten, Jordanien und Mauretanien; quasi-diplomatische Beziehungen gibt es zu Marokko, Tunesien, Oman und Katar. Es wird erwartet, daß nach einem Friedensabschluß mit Syrien und den Palästinensern auch die restlichen Golfstaaten und vor allem Algerien sich für Israel öffnen werden. Eine erste Begegnung zwischen Barak und dem algerischen Staatschef Bouteflika hat anläßlich des Begräbnisses von König Hassan in der marokkanischen Hauptstadt Rabat im Juli 1999 stattgefunden, und im November reiste erstmals eine israelische Delegation in das nordafrikanische Land. Auch aus Saudi-Arabien gibt es vorsichtige Signale, und während die israelischen Medien die erstmalige Anwesenheit einer israelischen Journalistin in Riad im Gefolge der amerikanischen Außenministerin Albright feierten, wissen Kenner, daß israelische Geschäftsleute regelmäßig dorthin reisen – mit israelischem Paß.

Doch wie weit die israelische Außenpolitik noch von einer tatsächlichen „Nahost-Option" entfernt ist, zeigt das schwierige Verhältnis zu Ägypten – ausgerechnet dem Land, das als erster arabischer Staat im Jahre 1979 ein Friedensabkommen mit Israel abschloß. Der von Kairo ausgehende „kalte Frieden" findet seinen Ausdruck in der Erschwerung jedweder Kontakte zwischen beiden Ländern durch bürokratische Hindernisse und polizeiliche Schikanen für reisewillige Ägypter, der Ablehnung eines Dialogs mit den israelischen Nachbarn durch die intellektuellen Schichten und einer andauernden Schmähkampagne gegenüber Israel in der staatlich gelenkten Presse des Landes. Ägypten mußte sein Ausscheren aus der damaligen arabischen Ablehnungsfront mit jahrelanger Isolation bezahlen und hat – außer amerikanischer Hilfe – wenig gewonnen. Die Rückgewinnung seiner – in den Augen Kairos natürlichen – Führungsrolle in der arabischen Welt konnte nur durch eine harte Politik gegenüber Israel und die selbsternannte Rolle eines Schutzpatrons für die Palästinenser gelingen. Während der Amtszeit Netanjahus spielte Ägypten eine deutliche Obstruktionsrolle und boykottierte insbesondere die Fortführung der auf der Konferenz von Madrid 1991 beschlossenen multilateralen Verhandlungen; diese Haltung wurde auch im ersten Halbjahr der Regierung Barak beibehalten, bis Kairo nach Wiederaufnahme der israelisch-syrischen Verhandlungen im Dezember 1999 plötzlich die jahrelang verweigerte Zustimmung zum Bau einer „Friedenspipeline" für die Belieferung Israels mit ägyptischem Erdgas gab – gefolgt von der Wiederaufnahme der multilateralen Verhandlungen in Moskau. Doch werden auch „nach dem Frieden" zwei zentrale Elemente das Verhältnis Ägyptens zu Israel erschweren: die Furcht vor einer wirtschaftlichen Vorherrschaft Israels in der Region und die beharrliche Weigerung jeder Regierung in Jerusalem, über ihr nukleares Abschreckungspotential auch nur zu reden.

Verstärkt wird das ägyptische Mißtrauen durch die seit 1996 geschmiedete militärische Allianz Israels mit der Türkei, die sich wiederum mit der Amerika-Verbindung trifft, ist doch die Türkei der wichtigste Verbündete der USA im Spannungsfeld von Nahem Osten, Balkan und Zentralasien. Das gemeinsame Interesse dokumentierte sich erneut bei den im Dezember 1999 zum dritten Mal abgehaltenen Seemanövern der drei Länder. Weniger von militärischem als vielmehr von wirtschaftlichem Interesse sind hingegen die sich aus einem umfassenden Nahost-Frieden ergebenden Perspektiven im asiatischen Raum, die bereits nach dem Oslo-Abkommen 1993 zu einem regen Handelsaustausch vor allem mit Indien, China und Japan geführt haben. Jetzt zeichnet sich die Ausweitung dieser Beziehungen zur größten islamischen Nation der Welt ab, zu Indonesien, dessen neuer Präsident Wahib Israel in der Vergangenheit mehrfach besuchte und der im Dezember 1999 erstmals einer offiziellen israelischen Handelsdelegation den Aufenthalt in Jakarta ermöglichte.

In einer anderen geographischen Richtung öffnet sich eine weitaus realistischere und gewichtigere Option: Europa ist bisher schon der wichtigste Wirtschaftspartner Israels (fast die Hälfte des Außenhandels) und kultureller Bezugspunkt für einen Großteil der Elite des Landes. Doch politisch ist das Verhältnis nicht ungetrübt: die Israelis kritisieren vor allem die aus ihrer Sicht einseitigen Stellungnahmen der Europäer zugunsten der Palästinenser, dokumentiert etwa in der Erklärung von Venedig aus dem Jahre 1981, und die daraus sich ergebende Vernachlässigung existenzieller israelischer Sicherheitsinteressen. Insbesondere Frankreich wird eine aus wirtschaftlichen und Großmachtinteressen geschürte pro-arabische Haltung unterstellt, während Deutschland zwar als Freund Israels gilt, zu dem das Verhältnis jedoch wegen des Holocaust belastet ist. Deshalb hat die Regierung in Jerusalem bisher beharrlich jede Einflußnahme der Europäischen Union auf den Friedensprozeß abgelehnt und ihr lediglich die Rolle eines Zahlmeisters (für die Palästinensische Autonomie-Verwaltung) zugestanden. Der Ärger der Europäer darüber ist verständlich, auch wenn ihnen klar ist, daß sie im Nahen Osten bestenfalls den Juniorpartner für die Amerikaner abgeben könnten. Ein umfassender Nahost-Frieden würde die Lage für beide Seiten verändern: Israel, das bislang schon ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen hat und als einziger Nicht-Mitgliedsstaat am Forschungs- und Entwicklungsprogramm der Gemeinschaft teilnehmen kann, könnte sich – befreit vom Image der Besatzungsmacht – voll in die Euromediterrane Partnerschaft (EMP) der EU mit 12 Mittelmeeranrainern einbinden und somit eine Brücke zwischen seiner geographischen Zugehörigkeit zum Nahen Osten und seiner wirtschaftlichen Orientierung in Richtung Europa schlagen. Diese Orientierung nimmt immer stärker eine auch politische Dimension an: Während man in militärstrategischen und sicherheitspolitischen Dingen nach wie vor (und sicher auch in Zukunft) auf die USA baut, ist auf der anderen Seite offensichtlich, daß die amerikanische Gesellschaft kein Vorbild zur Lösung der inneren wirtschaftlichen und sozialen Probleme sein kann. Hingegen ähneln die Probleme und auch die Lösungsversuche der europäischen Länder eher den israelischen Verhältnissen. In beiden Fällen geht es darum, den Sozialstaat für die Herausforderungen der Globalisierung zu wappnen, ohne dabei die Balance zwischen Wettbewerb und sozialer Gerechtigkeit zu verlieren. Barak und die Israelische Arbeitspartei blicken dabei immer mehr auf die europäische Diskussion des „Dritten Weges" als Möglichkeit zur Lösung der innergesellschaftlichen Probleme – nicht zuletzt, um den Frieden auch im Inneren abzusichern.

5. Die Gefahr: die innere Absicherung des Friedens

Während die Welt die neue Dynamik des nahöstlichen Friedensprozesses feiert und Israels Ministerpräsident Barak im ersten Halbjahr seiner seit Juni 1999 andauernden Amtszeit seine volle Kraft dafür widmete, droht ihm im Inneren Ungemach, das auch seine Friedensstrategie gefährden könnte. Dabei ist ausgerechnet Barak der erste israelische Regierungschef, der nicht mit außen- und sicherheitspolitischen Themen die Wahlen gewonnen hat, sondern mit einem vorrangig wirtschafts- und sozialpolitischen Programm. Jetzt fordern die Wähler und einige seiner wichtigsten Koalitionspartner die Einhaltung seiner Versprechen und drohen mit Stimmentzug auch in friedenspolitischen Fragen, wenn es zur Abstimmung über die Friedensverträge in der Knesset, vor allem aber in den von Barak versprochenen Referenden kommen wird. Einen Vorgeschmack dafür lieferte das Knesset-Votum über Baraks Erklärung zur Aufnahme von Verhandlungen mit Syrien, die unmittelbar vor seiner Abreise nach Washington am 13. Dezember keine parlamentarische Mehrheit erhielt: lediglich 47 Abgeordnete stimmten dafür, 31 waren dagegen und 24 enthielten sich der Stimme. Dabei verfügt Baraks Sechs-Parteien-Koalition über 68 der insgesamt 120 Knesset-Sitze.

Diesem ersten Warnschuß folgte kurz vor Jahresende eine Koalitionskrise wegen des Staatshaushalts 2000, bei der die zweitgrößte Koalitionspartei, die orthodoxe Shas, nur mit erheblichen Zuwendungen an ihr religiöses Erziehungssystem zum Verbleib in der Regierung bewegt werden konnte. Shas, zugleich Interessenvertretung der orientalischen Juden, nimmt mit ihren 17 Sitzen eine Schlüsselposition für eine Friedensmehrheit ein. Während der größte Teil ihrer Mitglieder und Anhänger die Rückgabe von besetztem Land eher ablehnt, ist die Führung und insbesondere das geistige Oberhaupt, Rabbi Ovadia Josef, durchaus friedensgeneigt – aber zum Preis eines fortgesetzten Einflusses der religiösen Kräfte auf Staat und Gesellschaft, insbesondere das Erziehungswesen und die Reglementierung des Alltagslebens durch religiöse Vorschriften. Genau dagegen hat sich Barak in seinem Wahlkampf unter anderem gewandt, und der drittgrößte Koalitionspartner, die linksliberale Meretz (10 Abgeordnete), vertritt unerbittlich die säkulare Gegenposition.

Der zweite Riß, der durch die Koalition geht, ist der zwischen wirtschaftlichen „Modernisierern" (zu denen sich auch Barak zählt) und sozialpolitischen „Traditionalisten", die auch in seiner eigenen Partei über großen Einfluß verfügen. Hier ist der friedenspolitische Sprengstoff womöglich noch größer, vor allem im Hinblick auf die vorgesehenen Volksabstimmungen über die zukünftigen Friedensverträge. Denn insbesondere die in dieser Hinsicht unentschlossenen Stimmbürger könnten auf die Idee kommen, die Regierung für ihre Tatenlosigkeit auf einem ganz anderen Feld zu bestrafen, nämlich bei der Bekämpfung der von Netanjahu ererbten hohen Arbeitslosigkeit (neun Prozent) und der wachsenden Armut, von der nach dem jüngsten Bericht der nationalen Sozialversicherungsbehörde nicht weniger als ein Sechstel der israelischen Bevölkerung betroffen ist – eine Million von insgesamt sechs Millionen Einwohnern. Der kluge Stratege Barak könnte hier einen entscheidenden Fehler gemacht haben, als er im Wahlkampf die Abhaltung von Referenden über den Frieden versprach, denn dies gefährdet seinen Plan, erst nach einer strikten Haushaltskonsolidierung und darauf aufbauendem Wirtschaftswachstum wieder sozialpolitische Wohltaten zu verteilen – zum Ende seiner ersten Amtszeit und rechtzeitig vor den nächsten Wahlen. Ohne die zwischenzeitliche Volksbefragung sähen die Chancen für eine Verwirklichung dieses Plans nicht schlecht aus, denn die Wirtschaftsdaten zeigen nach einer mehrjährigen Rezessionsphase wieder nach oben (für 2000 wird ein Wachstum von mehr als vier Prozent erwartet), die Inflation bewegt sich auf einem Rekordtief von weniger als zwei Prozent und die ausländischen Investitionen nehmen wieder zu (und würden „nach dem Frieden„ weiter anziehen).

Baraks Möglichkeiten, diesem Dilemma zu entkommen, sind alle gleich schlecht:

  • er bricht sein Versprechen, Volksbefragungen abzuhalten, zumal diese in Israel ein Novum wären und Rechtsexperten vor einer Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie warnen; doch würde dies sein Ansehen als aufrichtiger und glaubwürdiger Politiker dauerhaft beschädigen, das ihn so vorteilhaft von seinem Vorgänger Netanjahu unterscheidet;

  • er verzichtet vorerst auf die Haushaltskonsolidierung und „erkauft" sich im wahrsten Sinne des Wortes die Zustimmung zu seiner Friedenspolitik; dies könnte aber den Wirtschaftsaufschwung und damit seine Chancen auf eine Wiederwahl im Jahre 2003 gefährden;

  • er setzt seinen Kurs unbeirrt fort, riskiert aber damit eine Niederlage bei den Volksabstimmungen mit unabsehbaren Folgen für den Frieden im Nahen Osten.

Doch selbst wenn er dieses Dilemma lösen kann, ist die Schlacht noch längst nicht gewonnen. Zwei weitere Hindernisse sind noch zu überwinden, die nicht weniger schwierig sind. Zum einen bedarf jedes Friedensabkommen auch der mehrheitlichen Zustimmung in der Knesset, zum anderen stellen die Siedler in der Westbank und auf dem Golan trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche ein nicht zu unterschätzendes Störpotential dar.

Die Schlachtordnung für die Knesset steht – bis auf den entscheidenden Unsicherheitsfaktor Shas – mehr oder weniger fest. Aus dem Regierungslager kann Barak mit den Stimmen seiner eigenen Fraktion (26), von Meretz (10) und der Zentrumspartei (6) rechnen, macht zusammen 42. Dazu kommen die arabischen Parteien mit 10 Abgeordneten sowie Teile der ultraliberalen Shinui (6), einer Gewerkschaftsliste (2) und einer kleinen russischen Einwanderergruppe (2). Das ist eine äußerst knappe und sehr wackelige Mehrheit, der man Entscheidungen von historischer Tragweite wohl kaum anvertrauen kann. Zwei Koalitionspartner haben bereits deutlich gemacht, daß sie gegen einen Rückzug vom Golan und wahrscheinlich auch gegen die Räumung von Siedlungen in der Westbank stimmen werden: die Nationalreligiöse Partei (5) als Interessenvertretung der Siedler und die Partei der russischen Einwanderer (4), die im übrigen bei einem Referendum mit 15 % des Wählerpotentials eine Schlüsselrolle spielen werden. Unter den restlichen vier Oppositionsparteien ist nichts zu holen, da diese rechtsnational oder ultra-religiös orientiert sind. Der Likud als größte Oppositionspartei (19) schart die Friedensgegner um sich mit den Kernforderungen: kein Rückzug aus dem Golan, keine Räumung von Siedlungen, keine Anerkennung eines palästinensischen Staates, keine Rückkehr von Flüchtlingen.

Die Quintessenz aus dieser unübersichtlichen politischen Splitterlandschaft lautet: ohne die Shas-Partei wird es sehr schwer werden, sowohl eine Mehrheit im Parlament wie unter dem Volk zu erhalten. Angesichts der historischen Dimension, um die es dabei geht, scheint der Preis – erhöhtes Haushaltsdefizit und religiöser Einfluß – nicht zu hoch. Die überwiegend säkularen Friedensfreunde werden die Kröte wohl schlucken, doch ist ihr Dilemma nicht zu übersehen: Friede im Nahen Osten könnte für sie langfristig eine verstärkte Orientalisierung Israels bedeuten, die unter Netanjahu schon gute Fortschritte gemacht hatte mit den für die westlich orientierte Führungselite erschreckenden Begleiterscheinungen wie die notwendige Absegnung politischer Entscheidungen durch religiöse Instanzen, zunehmende Korruption und das Erstarken ethnisch und religiös begründeter Interessengruppen.

Doch kurzfristig droht die größte Gefahr für den Frieden nicht von den orientalischen (sephardischen) Juden sondern von den überwiegend europäisch-amerikanischen (aschkenasischen) Siedlern in der Westbank und auf dem Golan. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der gemäßigten Mehrheit, die vorwiegend aus ökonomischen Gründen in meistens grenznahe Orte zog, und der Minderheit ideologisch und religiös motivierter „Überzeugungstäter", die sich provokativ inmitten der palästinensischen Bevölkerung angesiedelt hat, um den Anspruch auf Erez Israel, das heilige Land der Juden, zu demonstrieren. Grundsätzlich ist eine Mehrheit der Israelis bis hin zur äußersten Linken der Meinung, daß dieser Anspruch aus historischen und religiösen Gründen gerechtfertigt ist, genährt auch durch die Schrecken des Holocaust, der deutlich gemacht hat, daß ein Überleben des Judentums nur in einem eigenen, starken Staat möglich ist. Doch ist nach Meinungsumfragen etwa die Hälfte der Bevölkerung bereit, gerade wegen des Überlebens auf diesen Anspruch zu verzichten, um in einem durch Friedensverträge gesicherten Staat in engeren Grenzen zu leben.

Der Golan scheint unter diesem Gesichtspunkt unproblematisch zu sein, denn dort leben nur 15000 jüdische Siedler (neben ebenso vielen syrischen Drusen), die zudem bei den letzten Wahlen mehrheitlich für Barak gestimmt haben. Doch mit der plötzlichen Aussicht, Haus und Hof aufgeben zu müssen, wo die Kinder aufgewachsen sind und man viel Geld und Arbeit investiert hat, wächst auch hier der Widerstand und geht man mit Demonstrationen an die Öffentlichkeit. Die Mehrheit der jüdischen Siedler in den grenznahen Regionen der Westbank, vor allem um Jerusalem herum, hat hingegen kaum etwas zu befürchten, denn selbst nach dem erwähnten Abu Mazen-Beilin-Papier werden sie wohl in Zukunft innerhalb der Grenzen Israels leben.

Das größte Problem stellen die über mehrere Dutzend kleinen und kleinsten Siedlungen in der ganzen Westbank (und wenige auch im Gaza-Streifen) verstreuten nationalreligiösen bis ultranationalistischen Ideologen dar, die sich fanatisch auf den kargen Hügeln festkrallen. Während ihre offizielle Interessenvertretung, der Siedlerrat, im Gespräch mit der Regierung bleibt und einvernehmlich die Räumung von zehn sogenannten „Außenposten" (Container- oder Wohnwagensiedlungen) durchgeführt hat, kündigt die Minderheit unerbittlichen Widerstand an und droht unverhohlen mit Gewalt. Dies weckt schlimmste Erinnerungen, denn die Ermordung des früheren Ministerpräsidenten Rabin im November 1995 geht nicht zuletzt auf das Konto dieser Gruppe, auch wenn es angeblich die – von vielen bezweifelte – Tat eines Einzelgängers war. Die Morddrohungen gegen Barak häufen sich, und die Sicherheitskräfte haben strengste Schutzmaßnahmen für den Regierungschef ergriffen. Ernstzunehmende Stimmen in Israel rechnen dennoch damit, daß ein Mordanschlag auf Barak über kurz oder lang erfolgreich sein wird; die Folgen für Israel und den Frieden im Nahen Osten kann man sich nur in den düstersten Farben ausmalen.

Die Pessimisten fanden zusätzliche Nahrung in einem Ende Januar vorgelegten Bericht des „State Comptroller" (Rechnungshof), in dem die illegale Wahlkampffinanzierung mehrerer Parteien, vor allem aber der Arbeitspartei, gerügt wird, die mit einer Geldstrafe von fast 14 Millionen Shekel (ca. 7 Millionen DM) belegt wurde. Die gleichzeitig empfohlenen polizeilichen Ermittlungen gegen zwei führende Leute der Barak-Kampagne lassen eine Lähmung der Handlungsfähigkeit des Regierungschefs befürchten und könnten sich auch negativ auf die Referendums-Kampagnen auswirken.

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Projection of Further Israeli Redeployment according to the Sharm-el-Sheikh Memorandum 1999

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The Palestinian Metropolis within the limits of Greater Jerusalem


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