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Japan / Michael Ehrke. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 18 S. = 57 Kb, Text & 1 image file . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials]

  • Bis spätestens Oktober 2000 müssen Neuwahlen für das Unterhaus stattfinden, die einen Stimmungsumschwung zugunsten der Oppositionsparteien signalisieren könnten. Mit über 70 Prozent der Parlamentssitze ist die Überlegenheit der Regierungskoalition so groß, daß eine Balance zwischen Regierung und Opposition nicht mehr gegeben ist.

  • Gleichzeitig hat die Opposition an Profil gewonnen, vor allem die Demokratische Partei, die sich von ihrer Formkrise vom Frühjahr 1999 erholt hat. Auf mittlere Sicht wird sich wohl ein Vierparteiensystem mit zwei Haupt- und zwei Nebenakteuren herauskristallisieren. Die LDP wird Hauptakteur der japanischen Politik bleiben, und die Demokratische Partei wird zu ihrem Gegenstück werden.

  • Die wirtschaftliche Wachstumsrate Japans wird 1999 bei 0,5% liegen, einmal mehr nutzten große Konjunkturprogramme nichts: Die bislang stärkste Konjunkturspritze - ein Paket von 24 Billionen Yen (ca. 450 Mrd. DM) - vom November 1998 provozierte im ersten Quartal 99 ein Wachstum von 1,5% (auf Jahresbasis wären dies über 6%), um in den folgenden Quartalen abzuflachen und dann negativ zu werden.

  • Warum die Fiskalpolitik nicht als Initialzündung für die Konjunktur funktioniert, ist umstritten: Die Konjunkturpakete seien trotz der auf den ersten Blick astronomischen Summen zu klein und würden ineffizient eingesetzt. Auch nutze keine fiskalpolitische Expansion, weil deren Nachteile (zunehmende staatliche Verschuldung und Verzerrungen in der Wirtschaftsstruktur, etwa durch unangemessene Förderung der Bauwirtschaft auf Kosten anderer Branchen) die Vorteile (Schaffung zusätzlicher Nachfrage) überwögen.

  • Die Krise müsse nicht fiskal-, sondern geldpolitisch angegangen werden. Dabei ist die Zinspolitik bereits ausgereizt: Der Zinssatz liegt de facto bei Null und kann nicht negativ sein. Die japanische Krise ist u.a. darauf zurückzuführen, daß die Haushalte mehr sparen als die Unternehmen investieren wollen, obwohl der Zinssatz keinen Anreiz zur Ersparnisbildung gibt.

  • Ferner wird argumentiert, die japanische Krise könne überhaupt nicht makroökonomisch angegangen werden, weil sie struktureller Natur sei. Erfolg verspreche nur das Aufbrechen struktureller Rigiditäten durch Deregulierung (die Aufgabe des Staates) bzw. die Reform privatwirtschaftlicher Praktiken (der corporate governance - die Aufgabe der privaten Unternehmen).

Man stelle sich vor: Ein nordkoreanisches U-Boot landet an der Küste der japanischen Provinz Fukui, die 15 der 53 Atomreaktoren des Landes beherbergt, und mit panzerbrechenden Waffen ausgerüstete Kommandos greifen eines oder mehrere Atomkraftwerke an. Die Kraftwerke können von den unbewaffneten privaten Sicherheitskräften nicht geschützt werden, die nächsten Polizeistationen sind mindestens zehn Kilometer entfernt, und - dies ist das schlimmste - die japanischen Selbstverteidigungskräfte können nicht eingreifen, da sie laut Verfassung nur schießen dürfen, wenn auf sie geschossen wird. Dies ist das Szenario eines Buches, das der Autor Iku Aso 1999 unter dem Titel "Kriegserklärung" veröffentlichte und das in Japan zum Bestseller wurde.

In der Wirklichkeit bedurfte es keiner nordkoreanischen Eindringlinge, um in Japan den größten Atomunfall auszulösen, der sich je in einem entwickelten Industrieland ereignete. Es genügte eine Mischung aus japanischem Arbeitseifer und laxen Sicherheitsstandards: Ende September 1999 schütteten Arbeiter in der nuklearen Aufbereitungsanlage Tokaimura der Firma JCO eine Überdosis Uranpulver aus Eimern in einen mit Stickstoffsäure gefüllten Behälter und lösten eine nicht kontrollierte Kettenreaktion aus. Der am schwersten betroffene Arbeiter war einer Dosis ausgesetzt, die der einer in 700 Meter Entfernung gezündeten Hiroshima-Bombe entsprach. Es folgte das Übliche: Das Unternehmen wartete 45 Minuten, ehe es die Behörden informierte, die Behörden zögerten mit Evakuierungsmaßnahmen, die Wahrheit kam bröckchenweise an den Tag, Greenpeace maß andere Verseuchungsgrade als die Behörden zugaben. Es wurde bekannt, daß die Arbeiter der JCO, einem Ableger der Sumitomo Metall Mining, über die Risiken ihrer Tätigkeit nie informiert worden waren; der manuelle Transport von pulverisiertem Uran in Eimern war zwar verboten, Kontrollen fanden aber nicht statt (in derselben Anlage waren bereits zwei Jahre zuvor 37 Arbeiter Opfer eines Unfalls geworden).

Premierminister Obuchi geriet in Panik, als er später im Parlament von einem Abgeordneten befragt wurde, welche Behörde denn für die Reaktorsicherheit zuständig sei: Er wußte es nicht (nach einer jüngst eingeführten Regelung müssen Politiker im Parlament selbst Rede und Antwort stehen und dürfen dies nicht an Beamte delegieren). Die korrekte Antwort wäre gewesen: Es gibt keine unabhängige für die Reaktorsicherheit zuständige Behörde. Laut internationalem Reglement sollen die mit der Förderung der Atomenergie beauftragten Behörden nicht auch für die Sicherheit der Anlagen zuständig sein. In Japan sind das MITI und die Science and Technology Agency (STA) beide gleichzeitig für Förderung und Sicherheit verantwortlich. Auch üblich: Es gab keinen nennenswerten Protest, der Mythos der Sicherheit der japanischen Kernkraftanlagen wird nach vielen anderen wohl auch diese faktische Widerlegung überstehen.

Sicherheitspolitik: Ein alter Streit und eine neue Fahne

In einer anderen Hinsicht war das Szenario der nordkoreanischen Attacke von größerem Wert: Das Buch von Iku Aso illustrierte die ebenso end- wie fruchtlose Debatte, die die politische Klasse Japans um die Selbstverteidigungskräfte führt. Stein des Anstoßes war und ist immer der Artikel 9 der Verfassung, der Japan den Unterhalt von Streitkräften untersagt. Nun hat Japan unter dem Druck der USA, die die Verfassung schreiben ließen, Streitkräfte (wahrscheinlich die einzigen der entwickelten Welt, die auch nach Ende des Kalten Krieges wachsen) einführen müssen, deren Auftrag ist aber eben die Selbstverteidigung.

Seit Jahrzehnten wird ein politisches Ritual aufgeführt: Einige nationalistische Politiker rütteln stereotyp am Tabu des Artikel 9 und lösen damit die stereotype Reaktion der Verfassungsschützer aus, die die Verfassung (an der in 50 Jahren kein Wort verändert wurde) bewahren wollen. Die in vorhersehbarer Regelmäßigkeit erhobenen Forderungen, man müsse über die Verfassung "diskutieren" und Japan müsse ein "normales Land" werden, sind ebenso wie die Erhöhung der Verfassung zu einer Heiligen Schrift (mit großem H) der symbolische Ersatz einer politischen Auseinandersetzung zwischen rechts und links. Einen neuen Akzent brachte einzig der Präsident der oppositionellen Demokratischen Partei in die Debatte, indem er - zum Ärger vieler Parteifreunde - die Diskussion der Verfassung nicht ausschloß, aber den Dialog mit den asiatischen Nachbarländern zur Vorbedingung erklärte.

Der Verfassungsstreit 1999 hatte einen konkreten Anlaß: die im April 1998 zwischen Premierminister Hashimoto und US-Präsident Clinton vereinbarten Verteidigungsrichtlinien, die eine stärkere sicherheitspolitische Rolle Japans vorsehen. Die Selbstverteidigungskräfte sollen im Krisenfall die amerikanischen Streitkräfte in der Region unterstützen, allerdings nicht in Kampfeinsätzen. Sie sollen u.a. logistische Unterstützung leisten und die Seewege sichern.

Dies wirft zumindest zwei Fragen auf: Wie ist der Geltungsbereich der Kooperation definiert (die Richtlinien sprechen nur von einer area around Japan), und was sollen Einheiten der Selbstverteidigungskräfte tun, wenn sie außerhalb des japanischen Territoriums angegriffen werden? Ist Selbstverteidigung außerhalb des japanischen Territoriums noch Selbstverteidigung? Die Ratifizierung der Richtlinien durch das Parlament rief also die übliche Polarisierung hervor, wobei die neuen Richtlinien für die, die sich Japan so sehr als "normales Land" wünschen, natürlich ein willkommener Anlaß waren, den in der Verfassung festgeschriebenen Pazifismus generell zur Disposition zu stellen. Das Ergebnis der Debatte: Keine der offenen Fragen wurde abschließend geklärt, aber ein entsprechendes Gesetz wurde verabschiedet.

In der Debatte um die Verteidigungsrichtlinien erwies sich von den beiden (seit Oktober drei) Koalitionspartnern die kleine Liberale Partei unter der Führung von Ichiro Ozawa (die anderen Regierungsparteien sind die LDP und die New Komeito) als konsequentester Verfechter einer stärkeren militärischen Rolle Japans. Dies wurde auch noch einmal gegen Ende des Jahres deutlich: Der LP-Politiker und Staatssekretär im Verteidigungsamt Nishimura forderte im Playboy, Japan müsse Atomwaffen besitze. Nishimuras Vorgeschichte: 1997 reiste er mit einer Gruppe Rechtsradikaler auf die Sentaku-Inseln, um deren Souveränität sich Japan und China streiten, um die japanischen Besitzansprüche zu dokumentieren. Dies war ein diplomatisches Glanzstück, das eine allchinesische Allianz zwischen der Volksrepublik, Taiwan und (dem damals noch britischen) Hongkong entstehen ließ.

Die Forderung der atomaren Bewaffnung Japans freilich geht weit über das übliche Geplänkel um die Rolle der Selbstverteidigungskräfte hinaus. Sie widerspricht nicht nur der offiziellen japanischen Doktrin, sie ist ein Störfaktor auch im Verhältnis zu den USA. Die US-Regierung mag eine stärkere Beteiligung Japans an der Garantie der Sicherheit in Ostasien einfordern, sei es, um Kosten abzuwälzen, sei es, um die amerikanische Öffentlichkeit zu beruhigen. Sie wird aber nie zulassen, daß Japan zur Atommacht wird. Allerdings: 80 bis 90 Prozent der staatlichen Forschungsmittel Japans gehen in die Kerntechnologie und die Raketentechnik. Oppositionspolitiker vermuten, daß der massive Ausbau der zivilen Kerntechnologie, der den Frankreichs übertrifft, militärischen Motiven geschuldet ist, und der Premierminister Hata erklärte 1994, Japan brauche im Zweifelsfall "zwei Wochen", um die Kernwaffen herzustellen.

Wenn es aber in Japan Kräfte gibt, die die atomare Bewaffnung des Landes anstreben (etwa für den Fall, daß die USA die bilaterale Sicherheitspartnerschaft aufkündigen), werden diese dies kaum an die Öffentlichkeit tragen wollen. D.h., Nishimura brüskierte nicht nur die Pazifisten, sondern gefährdete auch diejenigen, die unter der Hand die atomare Bewaffnung Japans betreiben (sofern es sie gibt). Drittens schließlich brachte er noch die Feministinnen gegen sich auf, weil er die Drohung mit Atomwaffen mit Vergewaltigung verglichen hatten ("ohne Strafen wären wir alle Vergewaltiger"). Nishimura mußte also unverzüglich zurücktreten. Die Frage bleibt, was ihn angesichts dieses vorhersehbaren Ergebnisses motiviert hatte, sich so weit vorzuwagen. Offensichtlich handelte es sich um einen Test der öffentlichen und der LDP-Meinung.

Während Regierung und Parlamentsmehrheit eine stärkere sicherheitspolitische und militärische Rolle an der Seite der USA anstreben, zielt ein anderer Politiker, der Oberbürgermeister Tokyos, Shintaro Ishihara, in die entgegengesetzte antiamerikanische Richtung. Ishihara, ein Schriftsteller und ehemaliger LDP-Politiker der äußersten Rechten, hatte mit seinem gemeinsam mit dem Sony-Gründer Morita geschriebenen Bestseller The Japan That Can Say No (ihm folgte The Asia That Can Say No, Koautor: Malaysias Ministerpräsident Mahatir) schon vor Jahren Japans Unterordnung unter die amerikanischen Interessen gegeißelt. In den Kommunalwahlen in Tokyo im April 1999, den wichtigsten Wahlen dieses Jahres, war Ishihara der Überraschungssieger, der sich gegen die Kandidaten der nationalen LDP (den ehemaligen Vizegeneralsekretär der UN, Akashi), der lokalen LDP (den ehemaligen Außenminister Kakizawa) und der Demokratischen Partei (den Bruder des Parteipräsidenten Kunio Hatoyama) durchsetzen konnte. Sein wichtigstes Wahlkampfthema: Die amerikanische Luftwaffenbasis Yokota in Tokyo, die wohl wichtigste US-Militärbasis in Asien. Ishihara forderte die Öffnung von Yokota für den zivilen Luftverkehr. Es gelang ihm allerdings nicht, die Anwohner auf seine Seite zu ziehen, die befürchten mußten, daß die Lärmbelastung bei einer zusätzlichen zivilen Nutzung der Yokota Air Base drastisch zunehmen würde. Zudem machte der amerikanische Botschafter in Japan, Tom Foley, klar, daß der Status der Yokota Air Base eine Angelegenheit der japanischen und amerikanischen Regierung, nicht aber des Bürgermeisters von Tokyo sei. Ishihara konzentrierte sich später auf ein Ersatzziel: die für japanische Verhältnisse großzügig angelegten Erholungseinrichtungen der amerikanischen Luftwaffe im Stadtbezirk Tama.

Sind die militärische Rolle Japans und sein Verhältnis zu den USA auch umstritten - auch 1999 gab der Verfassungstag nationalistischen Politikern den Anlaß, die Verfassung als aufgezwungen zu denunzieren und die Meiji-Verfassung (die nicht das Volk, sondern den Tenno zum Souverän erklärt) zu glorifizieren -, so ist Japan doch in einer anderen Hinsicht ein "normales Land" geworden: Es hat jetzt eine Nationalfahne und eine Nationalhymne. Mag sich der auswärtige Beobachter auch fragen, was daran neu sei - zumindest der berühmte rote Punkt auf weißem Grund gilt weltweit als Symbol Japans -, Fahne (Hinomaru) und Hymne (Kimiyago) waren bis 1999 nicht offiziell als gesetzlich gültige Symbole fixiert. Vor allem die Hymne, deren Text die Herrschaft des Tenno verklärt, war - ähnlich wie die Selbstverteidigungskräfte - immer wieder Gegenstand ritueller Auseinandersetzungen, insbesondere im Bildungsbereich. Während das Erziehungsministerium vorschrieb, anläßlich von Schulabschlußfeiern seien die Fahne zu hissen und die Hymne abzuspielen, leistete die linke Lehrergewerkschaft regelmäßig heftigen Widerstand. Der Direktor einer Oberschule in Hiroshima, der derartige Konflikte offensichtlich nicht hatte aushalten können, beging sogar Selbstmord und schuf damit indirekt einen Anlaß, um den Status von Fahne und Hymne gesetzlich klären zu lassen.

Politik: Cold Pizza

Fast mit einer gewissen Überraschung wurde registriert, daß die Regierung Obuchi nun eineinhalb Jahre überstanden hat. Obuchi war nicht zum Ministerpräsidenten Japans geworden, weil er besonders populär oder qualifiziert für dieses Amt war, sondern weil er dem Senioritätsprinzip folgend "dran" war. Er gilt als blasse Figur, der es schwer fällt, einen Text vom Blatt abzulesen; eine amerikanische Zeitung hatte ihn als Cold Pizza verhöhnt, worauf er, dieses Urteil eher bestätigend, erwidert hatte, kalte Pizza könne man ja aufwärmen. Ein gewisses Geschick im Umgang mit der Macht ist ihm gleichwohl nicht abzusprechen. Seine erste Leistung war es, die Liberale Partei in eine Koalitionsregierung zu locken. Die LDP, obgleich der große Verlierer der Wahlen, verfügt im Unterhaus über eine Mehrheit, die sie mit den 39 Sitzen der LP noch ausbauen konnte. Im Oberhaus allerdings erreichte die LDP erst die Mehrheit, als sie die New Komeito als dritte Kraft in die Regierungskoalition aufnahm.

Mit der Aufnahme der LP in die Regierung schloß sich der kurze Zyklus der Unsicherheit, der die japanische Politik seit 1993 kennzeichnete. 1993 spaltete sich die stärkste (und man kann sagen: reichste, korrupteste und am engsten mit der Bauwirtschaft verflochtene) Takeshita-Fraktion der LDP in eine von Obuchi und eine von Ichiro Ozawa geführte Gruppe. Anlaß war die Reform des Wahlrechts, eine Forderung der Ozawa-Gruppierung Shinseito. Im Juli 1993 entzog sich Shinseito der Disziplin der LDP und trug zum Sturz des Ministerpräsidenten Miyazawa bei. Zum ersten Mal seit 1955 verlor die LDP damals die Regierungsmacht, an ihre Stelle trat die Fünfparteienkoalition, in der neben der Shinseito die Mehrheits-Sozialdemokraten, die sozialdemokratische DSP, die buddhistische Komeito und Japan New Party Hosokawas vertreten waren. Die Koalitionsregierung reformierte das Wahlrecht, erreichte darüber hinaus aber wenig und kollabierte nach acht Monaten Amtszeit. Shinseito nannte sich um in Shinshinto und sog die DSP, die Japan New Party und die Komeito in sich auf. Für eine gewisse Zeit galt Shinshinto als einzig realistische Alternative zur LDP. Auch wenn sie sich weder im Programm, noch in den Strukturen von der LDP unterschied, brachte sie - wie es schien - ein Element des Wettbewerbs in die japanische Politik, das es seit 1955 nicht gegeben hatte. Doch dies sollte nicht lange währen: Shinshinto schied die Komeito wieder aus, weitere Zirkel und Einzelpersonen spalteten sich ab, um entweder bei der LDP oder bei der neu gegründeten Demokratischen Partei zu landen. Die Umbenennung der Shinshinto in Liberale Partei war ein Ergebnis dieses Abschmelzungsprozesses, und der Eintritt in eine Koalitionsregierung mit der LDP ist wahrscheinlich der Anfang vom Ende der Partei. Nicht nur die LDP ist nach der Spaltung von 1993 weitgehend (aber nicht vollständig) wiederhergestellt, auch die alte Takeshita-Fraktion ist (wenn auch nicht formell) wieder beisammen.

Doch wie gesagt: Es fehlte die Mehrheit im Oberhaus, das alle Gesetze, vom Haushalt und internationalen Verträgen abgesehen, passieren müssen. Als Mehrheitsbeschaffer im Oberhaus bot sich die New Komeito an (das Präfix New ist ohne jede Bedeutung), die in ihrem Abstimmungsverhalten zwischen Regierung und Opposition hin und her gependelt war. Die Integration der New Komeito in die Regierung war in der Öffentlichkeit wie in der LDP allerdings weitaus umstrittener als die Koalition mit der LP.

Die New Komeito ist der politische Arm der buddhistischen Sokka Gakai-Sekte, einer Gruppierung, die infolge ihrer missionarischen Bestrebungen von der Mehrheit der Japaner abgelehnt wird. Die Sokka Gakai tritt mit dem Anspruch einer allein seligmachenden Kirche auf, der im Gegensatz zur praktizierten religiösen Toleranz der Japaner (die meisten hängen mehreren Religionen an) steht. Die Sekte spielte in den 50er und 60er Jahren eine wichtige soziale Rolle, indem sie sich im Zuge eines dramatischen Urbanisierungsprozesses der entwurzelten Neubürger der Städte annahm und auf diese Weise die Kontrolle über ganze Stadtviertel gewann, wobei sie - wie kritisiert wird - auch vor der Terrorisierung der Bewohner nicht zurückschreckt. Dank der Kontrolle, die die Sokka Gakei über ihre Mitglieder ausübt, hat die Komeito eine begrenzte, aber sichere Klientel und Wählerbasis, ist aber gleichzeitig mit dem Makel einer eher anstößigen Kraft behaftet, nicht zuletzt für die Vielzahl buddhistischer Konkurrenzgruppen oder 200.000 "Neuen Religionen", von denen viele die LDP unterstützen.

Die Popularität der Regierung Obuchi, die nach der Bildung der Koalition mit der LP gestiegen war, sank, als die New Komeito im Oktober formell der Regierung beitrat. In der LDP wandte sich die zweitstärkste Fraktion, geführt vom ehemaligen Generalsekretär Koichi Kato, gegen die Regierungsbeteiligung der New Komeito, und in den Wahlen zur Parteipräsidentschaft Ende September erwuchsen Obuchi mit Kato und einem weiteren Fraktionsführer, Yamazaki, zwei Gegenkandidaten. Obuchi gewann die Wahlen mit 70% der Stimmen (bei der neben den LDP-Abgeordneten auch die 2.9 Millionen Parteimitglieder ein Votum hatten, wobei 10.000 Mitgliederstimmen einer Abgeordnetenstimme gleichgesetzt wurden) und hatte damit ein Mandat für die Koalition mit der New Komeito.

Die erweiterte Koalition war und ist von drei Konflikten durchzogen, die ein bezeichnendes Licht auf die japanische Politik werden.

Ein erster Konflikt liegt in der Reform des Parlaments. LDP und LP hatten vereinbart, das Unterhaus mit seinen 500 Sitzen um 50 Sitze zu verkleinern. Diese 50 Sitze sollten ausschließlich Listenmandate sein. Das 1994 reformierte Wahlrecht sieht vor, daß 300 Abgeordnete per Direktwahl und 200 über eine Liste gewählt werden. Ziel der Reform war es gewesen, die Parteien zu stärken und den in Japan vorherrschenden pork barrel politics ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Die nun anvisierte Reform der Reform bedeutete unter diesem Gesichtspunkt also einen Rückschritt. Die Schwächung des Verhältnisanteils am Wahlsystem schwächt die kleineren Parteien, also auch die New Komeito, von deren 53 Abgeordneten 29 über Listenwahl in das Parlament eingezogen waren. Der neue Koalitionspartner war daher natürlicher Gegner der Konterreform. Die Lösung: 20 Listenmandate sollen entfallen, bei den weiteren 30 Sitzen soll es sich "hauptsächlich" um Direktmandate handeln. Auf eine präzise Zahl konnte man sich nicht einigen, folglich hat jede Partei für die Interpretation des Wortes "hauptsächlich" eine eigene Version.

Ein zweiter Konflikt betrifft die Parteienfinanzierung. Mit der Wahlrechtsreform 1994 war auch die Parteienfinanzierung reformiert worden. Spenden von Unternehmen an individuelle Abgeordnete sollten untersagt werden; statt dessen erhielten Parteien, die über 3% der Wählerstimmen gewannen, staatliche Mittel. Ziel war es, der Kette von Korruptionsskandalen, die die japanische Politik durchzogen hatte, ein Ende zu machen. Die LDP konnte allerdings eine Verschiebung erwirken: Das Spendenverbot sollte erst ab Januar 2000 in Kraft treten. Je näher dieses Datum rückte, desto lauter wurden in der LDP die Stimmen, die sich für eine Konterreform auch dieses Gesetzes aussprachen. Dies traf den Nerv der Komeito - Komeito wird als "Partei für eine saubere Politik" übersetzt -, stieß aber auch auf die Kritik der Opposition und der Öffentlichkeit außerhalb des Parlaments. Das Spendengesetz trat letztlich in Kraft. Seine Akzeptanz wird für die LDP-Politiker dadurch erleichtert, daß sie die Spenden von Unternehmen auch über lokale Organisationen annehmen können, denen sie vorstehen. Es gibt über 5700 solcher lokalen Organisationen, also mehr als 20 pro LDP-Abgeordneten.

Der dritte Konflikt betrifft die Pflegeversicherung, die im April 2000 in Kraft treten soll. Gegen das System der Pflegeversicherung, das ursprünglich in der Form einer Sozialversicherung aller über 40jährigen organisiert werden sollte, trat die LP an: Die Pflegeleistungen sollten nicht durch Versicherungsbeiträge, sondern aus den Einnahmen der Verbrauchssteuer finanziert werden. Dies war ein Votum für die strenge Begrenzung der Leistungen, da die Verbrauchssteuer zur Zeit bei nur 5% liegt und jede Erhöhung für die LDP ein Vabanquespiel ist. Die wichtigste Klientel der LDP ist die große Zahl der Kleinunternehmer, Bauern, Bauunternehmer, Einzelhändler und anderweitig Selbständigen, die in der Regel wenig oder gar keine Steuern zahlen, der Verbrauchssteuer aber kaum ausweichen können bzw. durch sie gezwungen werden, ihre Einkommen offenzulegen.

Aber auch die Einführung eines neuen Sozialversicherungssystems, das den meisten Versicherten ja erst einmal Beiträge abverlangt, ist für die regierenden Parteien ein hohes Risiko, insbesondere vor Wahlen - und die nächsten Unterhauswahlen müssen bis spätestens Oktober 2000 abgehalten sein.

Neben der Finanzierungsfrage öffnete sich eine zweite Konfliktlinie: Das ursprüngliche Pflegeprogramm sah vor, das Gros der Mittel in die Pflegeinfrastruktur (Heime und ausgebildete Arbeitskräfte), die in Japan deutlich unterentwickelt ist, fließen zu lassen. Nun forderten LP und einige LDP-Politiker, daß die Mittel vornehmlich oder ausschließlich als Zahlung für Pflegeleistungen in der Familie zu verwenden seien. Das Stichwort gab der LDP-Politiker Kamei: "the beautiful Japanese tradition" der familiären Pflege sollte erhalten bleiben. Die schweren Belastungen, denen die familiären Pflegepersonen - zu 85% Frauen - ausgesetzt sind, und für deren Linderung man jahrelang ein Versicherungssystem ausgearbeitet (und zu tausenden deutsche Einrichtungen besucht) und schließlich auch gesetzlich fixiert hatte, waren plötzlich kein Thema mehr. (Eher assoziativ erinnert dies an eine weitere Neuerung des Jahres 1999: Japanische Frauen dürfen nun in Genuß der "Pille" kommen, die in den westlichen Industrieländern seit Mitte der 60er Jahre in Gebrauch ist. Der Vertrieb der Pille war über 30 Jahre lang mit dem Argument verboten worden, die Nebenwirkungen seien nicht bekannt. Viagra brauchte ein halbes Jahr, um für den japanischen Markt legalisiert zu werden).

Die Lösung des Konflikts um die Pflegeversicherung ist eine der Glanzleistungen der japanischen Politik: Das System soll auf der Seite der Leistungen wie geplant im April 2000 in Kraft treten; die Beitragszahlungen werden jedoch um mindestens ein halbes Jahr - also über die nächsten Unterhauswahlen hinaus - verschoben. Die Finanzierung - geschätzt auf etwa 700 Milliarden Yen - erfolgt über die Ausgabe staatlicher Anleihen. Neben den fiskalischen Folgen dieser Entscheidung sind auch die Auswirkungen auf die Kommunen, die für die Pflegedienstleistungen verantwortlich sind, zu berücksichtigen. Da das Versicherungsprogramm mit dem Startdatum April 2000 als gesichert galt, haben sich die Kommunen oft intensiv um den Aufbau lokaler Pflegesysteme bemüht. Diese Bemühungen wurden durch das unerwartete Infragestellen des Programms ad absurdum geführt.

Eine zweite sozialpolitische Entscheidung löste im Parlament wie außerhalb eine für Japan unübliche Protestwelle aus. Die Rentensysteme Japans stehen wie die anderer Industrieländer vor Finanzierungsproblemen. Dies gilt insbesondere für die "Volksrente", die allen Japanern zusteht, d.h. auch Bauern, Selbständigen und in Betrieben mit weniger als fünf Mitarbeitern Beschäftigten (wer in einem größeren Unternehmen beschäftigt ist, ist nach dem deutschen Vorbild sozialversichert). Die Regierungsparteien hatten sich vorgenommen, das Volksrentenprogramm bis 2005 zu sanieren, was bedeutete, daß der staatliche Finanzierungsanteil auf die Hälfte der Mittel ausgeweitet werden sollte. Im November trafen die Regierungsparteien jedoch eine Entscheidung, die von der Opposition wie von Gewerkschaften als Bruch dieses Versprechens ausgelegt wurde: Sie setzten ein Komitee ein, das die Senkung der Leistungen um 20% (bis 2005) auszuarbeiten hat. Diese ohnehin wenig populäre Entscheidung löste um so mehr Erbitterung aus, als sie - entgegen den Gepflogenheiten der japanischen parlamentarischen Konsenskultur - von der Regierung in kürzester Zeit durchgeboxt wurde.

Politik: Perspektiven

Bis spätestens Oktober 2000 müssen Neuwahlen für das Unterhaus stattfinden. Über den Zeitpunkt oder gar das Ergebnis zu spekulieren ist müßig; einen Hinweis auf die Erwartungen der Politiker selbst geben jedoch die Wahlziele, die sie sich offiziell gesetzt haben. Obuchi, dessen LDP zur Zeit 269 Parlamentssitze innehat, hat 215 Sitze anvisiert. Das Ziel wurde niedrig angesetzt, um den Regierungschef auch bei einem mageren Ergebnis als Sieger hinstellen zu können. Die Demokraten wollen die Zahl ihrer Sitze von 94 auf 150 erhöhen, die Kommunisten hoffen auf eine Steigerung von 26 auf 40 und die Sozialdemokraten von 14 auf 25 Sitze. Selbst wenn sich diese Erwartungen als realistisch herausstellen sollten, würde die Opposition nicht die LDP aus der Regierung drängen können (es sei denn, sie könnte die LP und die stets unsichere New Komeito oder gar die Kato-Fraktion der LDP auf ihre Seite ziehen).

Gerechnet wird jedoch damit, daß die Wahlen einen Stimmungsumschwung zugunsten der Oppositionsparteien signalisieren werden. Die Regierung hält zur Zeit über 70% der Parlamentssitze. Sie ist in der Lage und offensichtlich auch bereit, ihre Entscheidungen ohne die üblichen Kompromisse mit der Opposition durchzusetzen. Ihr numerisches Gewicht ist so groß, daß eine Balance zwischen Regierung und Opposition nicht mehr gegeben ist. Auf der anderen Seite ist die Koalition in vielen wichtigen Fragen gespalten und daher trotz ihrer numerischen Stärke gerade nicht in der Lage, eine konsistente Politik zu betreiben.

Gleichzeitig hat die Opposition an Profil gewonnen. Dies gilt insbesondere für die Demokratische Partei, die sich von ihrer Formkrise im Frühjahr des Jahres offensichtlich erholt hat. Die Demokraten, die vor allem die großstädtischen Wähler anzusprechen versuchen, hatten die Kommunalwahlen in Tokyo verloren - wobei sie allerdings mit allen anderen Parteien gemeinsam auf die Verliererbank verwiesen wurden. Sie wiesen Fraktionierungstendenzen auf wie die LDP: Neben den von Kan und Hatoyama geführten Gruppen - beide Politiker stammen aus der LDP - etablierte sich die Fraktion der zur DPJ hinübergewechselten ehemali-gen Sozialdemokraten, die vom früheren Gouverneur von Hokkaido, Yokomichi, repräsentiert wird. Naoto Kan, einst das Zugpferd der Demokraten - als Gesundheitsminister hatte er gegen die Gepflogenheiten der ihm untergeordneten Bürokratie einen Aids-Blutkonservenskandal rasch aufklären lassen -, verlor an Popularität, nicht zuletzt, weil er nicht deutlich durchblicken ließ, ob er die Kooperation mit der LDP oder eine konsequente Oppositionsrolle der Demokraten anstrebte. Auf dem Parteitag der DPJ im September wurde Kan als Parteipräsident von Yunio Hatoyama, dem Gründer der Partei, abgelöst. Hatoyama ist programmatisch kaum profilierter als Kan, es gelang ihm aber, der DPJ ein kämpferischeres Image zu verschaffen. Zudem stimmten in den letzten Monaten des Jahres Demokraten, Sozialdemokraten und Kommunisten nahezu immer einheitlich ab, womit der Eindruck einer gewissen Geschlossenheit der Opposition erzeugt wurde.

Politische Parteien im Unterhaus
(Zahl der Sitze, Dez. 1999)

Liberal Democratic Party

269

Democratic Party of Japan

94

New Komeito and Reformers' Network

48

Liberal Party

39

Japanese Communist Party

26

Social Democratic Party

14

mushozoku-no-kai*

2

Independents

8

Total

500



Politische Parteien im Oberhaus
(Zahl der Sitze, Dez. 1999)

Liberal Democratic Party

105

The Democratic Party

57

New Komeito and Reformers' Network

24

Japanese Communist Party

23

Social Democratic Party

13

Liberal Party

12

The Independents

8

Niin Club-Liberal League

4

Independents

6

Total

252

Welche Resultate die nächsten Unterhauswahlen auch bringen mögen: Auf mittlere Sicht wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein Vierparteiensystem mit zwei Haupt- und zwei Nebenakteuren herauskristallisieren. Das heißt zunächst: Sowohl die Liberale als auch die Sozialdemokratische Partei werden verschwinden.

Die Liberale Partei, das Spiegelbild der LDP, hat in dem Augenblick ihre Existenzgrundlage verloren, in dem sie in die Koalitionsregierung mit der LDP eintrat und damit ihre Funktion als Konkurrenz zur LSP aufgab. Unter wechselnden Namen hat sie den Weg genommen, den in den 80er Jahren der New Liberal Club des heutigen Außenministers Yohei Kono gegangen war: Den einer zunächst reformorientierten Abspaltung von der LDP, die aber in die Arme der Mutterpartei zurückkehrt.

Konservative Politiker in Japan sind (auch wenn sie sich mit dem Etikett „liberal" schmücken) auf den Zugang zur Regierung und damit zum Staatshaushalt angewiesen, um ihre lokale Klientel bedienen zu können. Längere Oppositionszeiten würden sie nicht durchhalten; daher die Neigung, sich um jeden Preis an der Regierung zu beteiligen. Es gibt für sie keinen Raum für die Entwicklung oder Bewahrung einer von der LDP unabhängigen politischen "Identität". Der Niedergang der Sozialdemokraten dagegen wird auch dann nicht aufzuhalten sein, wenn die Partei in den nächsten Wahlen ein paar Sitze hinzugewinnen sollte. Da ihre ursprüngliche Basis, die Gewerkschaften, fast vollständig zur Demokratischen Partei gewechselt sind, werden auch die in der Sozialdemokratischen Partei verbliebenen Politiker diesen Schritt über kurz oder lang nachvollziehen.

Die LDP wird Hauptakteur der japanischen Politik bleiben, und die Demokratische Partei wird zu ihrem Gegenstück werden. Das heißt allerdings nicht, daß sich unter veränderten Etiketten das "System von 1955" mit einer per definitionem regierenden LDP und einer per definitionem oppositionellen Sozialdemokratischen Partei, d.h. eine Demokratie ohne Regierungswechsel, reetablieren muß.

Die Demokratische Partei ist eben auch ein Spiegelbild der LDP, aus der viele DP-Politiker stammen, wenn auch ein jüngeres, offeneres und liberaleres. Die DP-Abgeordneten werden ihre lokale Unterstützung verlieren, wenn sich die DP wie die alte SDPJ auf Dauer mit der Oppositionsrolle zufriedengäbe. Gleichzeitig jedoch verhelfen ihr vor allem die organisatorischen Ressourcen und die finanziellen Mittel der Gewerkschaften zu dem langen Atem, der es der Partei gestattet, noch ein bis zwei Unterhauswahlen zu überstehen, ohne entweder an die Regierung zu gelangen oder sich aufzulösen.

Die New Komeito und die Kommunistische Partei dagegen werden fortbestehen; sie ha-ben eine stabile Klientel und damit eine sichere Wählerbasis. Die ideologische Rigidität, sektenmäßige Organisation und Abschottung beider Parteien wird freilich verhindern, daß sie eine führende Rolle spielen. Ganz unabhängig von ihrem offiziellen Programm sind Komeito wie Kommunisten die politischen Arme zweier geschlossener Gesellschaften (mit jeweils eigenen Ideologien, Massenorganisationen, Medien usw.) und daher keine Kräfte, die unterschiedliche Interessen aggregieren und auf nationaler Ebene Mehrheiten gewinnen können. Sie können (wie die Kommunisten) Protestwähler an sich ziehen, und sie sind potentielle Koalitionspartner der beiden größeren Parteien. Das Tabu, das in der Vergangenheit über die Komeito verhängt worden war, wurde durch die Hosokawa-Regierung 1993 und durch die Obuchi-Regierung 1999 gebrochen. Die Koalitionsfähigkeit der Kommunisten zeichnet sich allerdings noch nicht ab.

Wirtschaft: Ein politischer Zyklus

Die wirtschaftliche Wachstumsrate Japans wird 1999 bei 0,5% liegen (die Ergebnisse für das vierte Quartal liegen noch nicht vor). Dies entspricht der Veraussage der Economic Planning Agency. Dabei ist zwischen zwei Wachstumsfaktoren zu unterscheiden: Die öffentlichen Investitionen und die privaten Wohnungsbauinvestitionen (housing) sind ganz oder (bei den Wohnungsbauinvestitionen) zu einem hohen Anteil politisch bestimmte Variablen (das Volumen der privaten Wohnungsbauinvestitionen hängt von staatlichen Krediten und Steuerprivilegien ab). Der private Verbauch (ca. 60% der aggregierten Nachfrage) und die privaten Anlageinvestitionen sind die wichtigsten unabhängigen Variablen.

Der Theorie nach sollte die politisch bestimmte Nachfrage in einer Rezession kurzfristig wachsen, um eine Initialzündung für die unabhängigen Nachfragevariablen zu geben und ein "sich selbst tragendes" Wachstum in Gang zu setzen. Ist dies einmal erreicht, kann die politisch bestimmte Nachfrage auf normales Niveau zurückgeführt werden.

Die Wachstumsraten (vgl. Tabelle und Schaubild) zeigen, daß genau dieser Mechanismus in Japan nicht funktioniert - wobei der Zyklus des Jahres 1999 dem vorangegangener Jahre gleicht: Im letzten Quartal des Vorjahres wird ein Konjunkturprogramm verabschiedet, das die öffentlichen Investitionen in die Höhe schießen läßt. Das Programm läuft im Verlauf des Jahres aus (im 3. Quartal 1999 sinken die öffentlichen Investitionen). Mit geringer Zeitverzögerung folgen privater Verbrauch und Investition - wenn auch auf einem niedrigen Niveau - dem Zyklus der öffentlichen Investition - und weisen in dem Augenblick negative Zuwachsraten auf, in dem die öffentliche Investition zurückgeht. Die Konjunktur "springt nicht an". Daher sind in jedem Jahr neue Konjunkturspritzen erforderlich, wenn das Wachstum nicht negativ werden soll. Im ersten Quartal 1999 reagierte die Volkswirtschaft auf die bislang stärkste Konjunkturspritze - ein Paket von 24 Billionen Yen (ca. 450 Mrd. DM) -, die im November 1998 gesetzt worden war, mit einem Wachstum von 1,5% (auf Jahresbasis wären dies über 6%), um in den folgenden Quartalen abzuflachen und dann negativ zu werden.

Quartalswachstumsraten
in Prozent gegenüber dem vorherigen Quartal


III 98

IV 98

I 99

II 99

III 99

BSP

-1,2

-0,5

1,5

1,0

-1,0

priv. Konsum

0,0

-0,1

0,9

1,1

-0,3

Wohnungsb.

-4,5

-5,1

1,4

12,9

-3,2

priv. Inv.

-3,9

-5,4

2,3

-2,1

-2,1

öff. Inv.

-4,3

12,3

6,2

2,8

-8,5



Undisplayed Graphic

Während die Öffentlichkeit gebannt auf die Quartalsdaten und die periodisch veröffentlichen Indikatoren starrte, erhob sich wie immer die Forderung nach einem weiteren Konjunkturpaket. 1999 tat die Regierung mit einem Beschäftigungsprogramm mit einem Volumen von 720 Mrd. Yen den ersten Schritt. Im Sommer forderte als erster der gewerkschaftliche Dachverband RENGO 14 Billionen, und im November kündigte die Regierung das bislang (nach 1998) zweitgrößte Paket mit einem Volumen von 18 Billionen Yen an. 6,8 Billionen sind für Infrastrukturmaßnahmen vorgesehen, fließen also in "öffentliche Arbeiten", 7,4 Billionen sollen als Finanzhilfen an kleine und mittlere Unternehmen vergeben werden, 2 Billionen sind Wohnungsbaukredite und eine Billion soll die oben erwähnten Pflegedienstleistungen finanzieren.

Warum funktioniert die Fiskalpolitik nicht als Initialzündung für die Konjunktur? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten.

Eine erste Antwort wäre: Die Konjunkturpakete sind trotz der auf den ersten Blick astronomischen Summen zu klein. Das Ende 1999 verabschiedete Paket entspricht 3,6% des Sozialprodukts, Experten schätzen jedoch, daß die genuin neue Nachfrage, die mit dem Paket geschaffen wird, bei nur einem Drittel des offiziell angekündigten Volumens liegt, also bei 1,2% des BSP. Die potentielle Wachstumsrate Japans

liegt (den Schätzungen des IWF zufolge) seit Anfang der 80er Jahre bei etwa 2%, die japanische Volkswirtschaft wuchs damit 1999 um 1,5% weniger, als die potentielle Wachstumsrate ermöglicht hätte. Wenn man für das Jahr 2000 von 1% Wirtschaftswachstum ausgeht, läge das Konjunkturprogramm quantitativ zumindest "in der Nähe" der erforderlichen Dimension.

Zweitens wird oft auf den ineffizienten Einsatz der staatlichen Mittel hingewiesen. Die "öffentlichen Arbeiten" erbringen in dem mit Infrastruktur zugepflasterten Land kaum noch Erträge; sie dienen allenfalls dazu, eine korrupte, zu überhöhten Preisen arbeitende und mit der LDP verflochtenen Bauwirtschaft zu bedienen. Die für die kleinen und mittleren Unternehmen vorgesehenen Mittel dienen nicht dazu (wie angekündigt), neuen Firmen eine Starthilfe zu verschaffen, sondern gehen überwiegend an traditionelle Unternehmen, die ohne staatliche Hilfe vom Markt verschwinden würden. Die staatliche Finanzierung von Pflegedienstleistungen schließlich ist ein ausschließlich wahlpolitisch motiviertes Projekt. All diese Einwände gegen die Verwendung der staatlichen Mittel mögen zwar korrekt sein, da diese Mittel im Dienste des Strukturwandels besser angelegt werden könnten, es geht aber nicht um Struktur-, sondern um Nachfrageeffekte. Auch die Finanzierung ineffizienter Aktivitäten schafft Nachfrage.

Drittens wird argumentiert, eine fiskalpolitische Expansion sei insofern kein angemessenes Programm zur Überwindung der Krise ist, als deren Nachteile (die zunehmende staatliche Verschuldung und Verzerrungen in der Wirtschaftsstruktur, etwa in der Form einer unangemessenen Förderung der Bauwirtschaft auf Kosten anderer Branchen) die Vorteile (die Schaffung zusätzlicher Nachfrage) überwögen. Die Krise muß nicht fiskal-, sondern geldpolitisch angegangen werden. Dabei ist die Zinspolitik bereits ausgereizt: Der Zinssatz liegt de facto bei Null und kann nicht negativ sein. Die japanische Krise ist u.a. darauf zurückzuführen, daß die Haushalte mehr sparen, als die Unternehmen investieren wollen, obwohl der Zinssatz keinen Anreiz zur Ersparnisbildung gibt. Ein Ausweg (wie Paul Krugman ihn vorschlägt) liegt darin, die Liquiditätspräferenz der Haushalte abzubauen, indem man Inflation zuläßt. Mit Inflation würde der reale Zinssatz negativ werden, die Ersparnisbildung würde bestraft und der Konsum angeregt. Diese Strategie widerspricht freilich sämtlichen Prinzipien der finanzpolitischen Orthodoxie, so daß keine Zentralbank sie akzeptieren wird.

Viertens schließlich wird argumentiert, daß die japanische Krise überhaupt nicht makroökonomisch angegangen werden könne, weil sie struktureller Natur sei. Erfolg verspricht nur das Aufbrechen struktureller Rigiditäten durch Deregulierung (die Aufgabe des Staates) bzw. die Reform privatwirtschaftlicher Praktiken (der corporate governance - die Aufgabe der privaten Unternehmen).

Die von japanischen Großunternehmen garantierte lebenslange Beschäftigung der Kernbelegschaften und die Lohnzahlung nach dem Senioritätsprinzip etwa sind Prinzipien, die die Flexibilität der Unternehmen einschränken; sie führen dazu, daß sich die Unternehmen nicht auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren, sondern in alle möglichen Bereiche hineindiversifizieren, um auch im Krisenfall die Beschäftigung zu halten. Die Unternehmenszusammenschlüsse (keiretsu), die Netzwerke privilegierter Beziehungen zu etablierten Zulieferern, Kunden und Banken, die wechselseitigen Kapitalverflechtungen und die schwache Position der Aktionäre bilden ein System, in dem das Management nicht mehr als "Agent" der Aktionäre wirkt, sondern zusammen mit den Belegschaften, Zulieferern usw. ein korporatives Eigeninteresse entwickelt, das sich nicht dem Ziel der Gewinnmaximierung unterordnen läßt. Das Topmanagement japanischer Großunternehmen rekrutiert sich ausschließlich aus dem jeweiligen Unternehmen selbst, es handelt sich um Insider, deren Loyalität der Firma, nicht deren Eignern gehört. Letztere haben keinen Einfluß auf die Besetzung der Vorstände und die Firmenstrategie. Die Entlohnung der Topmanager ist im internationalen Vergleich niedrig und enthält keine Anreize zur Maximierung der Gewinne. Feindliche Unternehmensübernahmen sind so gut wie ausgeschlossen. Kurz: die japanischen Großunternehmen sind nicht oder nicht ausreichend dem shareholder value verpflichtet. Ihre Orientierung an den stakeholdern, dem Marktanteil und den langen Fristen führt zu niedriger Profitabilität und damit zu einem ineffizienten Einsatz der Ressourcen. Der Staat kann in diesem Zusammenhang nichts tun als Regulierungen abzubauen; die Unternehmen selbst müssen das Verhältnis zu den Belegschaften flexibilisieren, es muß ein Arbeitsmarkt für Führungskräfte entstehen, die Netzwerke und Insiderzirkel müssen aufgebrochen und der Disziplin des Kapitalmarkts unterworfen werden. Erst wenn die disziplinierende Macht des Kapitalmarkts zur Wirkung kommt, werden die Ressourcen in die effizientesten Anlageformen fließen.

Gegen diese Argumentation, die sich auch in Japan zunehmender Popularität erfreut, lassen sich mehrere Einwände erheben.

Erstens: Eine Reform der Regulierung und der Managment-Praktiken mag sinnvoll und notwendig sein, aber sie zielt auf die Erhöhung der potentiellen Wachstumsrate (der Totalen Faktorproduktivität). Das Anliegen des makroökonomischen Krisenmanagements ist es aber, die Differenz zwischen potentieller und wirklicher Wachstumsrate zu verringern. Auch wenn Strukturreformen sinnvoll sind, ist dies kein Argument gegen makroökonomische Steuerung. Reformen der anvisierten Art entfalten ihre Wirkungen meist nur langfristig und sind mittelfristig unvermeidlich mit einem Beschäftigungsrückgang verbunden; sie werden die Krise daher eher verschärfen (so wie der angekündigte Abbau der lebenslangen Beschäftigung die Haushalte bereits zur Steigerung ihrer Sparquote veranlaßt hat) und den Einsatz des makroökonomischen Instrumentariums um so dringlicher machen.

Zweitens: Die geforderte Reform der Unternehmensführung bezieht sich auf das international am besten analysierte Segment der japanischen Wirtschaft: die (exportorientierten) Großunternehmen. Die Krise ist aber nicht in erster Linie eine Krise dieser zum Teil nach wie vor erfolgreichen Großunternehmen, sondern eine Krise des wirtschaftlichen Dualismus, d.h. der großen Bereiche der japanischen Wirtschaft, die nicht der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind (Landwirtschaft, Einzelhandel, Dienstleistungen, Bauwirtschaft, traditionelle Industrien, kleine und mittlere Unternehmen).

Drittens: Es kann nicht bestritten werden, daß auch die japanischen Großunternehmen in der Vergangenheit gravierende Fehlentscheidungen getroffen haben. Die Frage ist jedoch, ob diese Fehlentscheidungen ihren internen Strukturen und Praktiken zuzuschreiben sind, oder ob das wirtschaftliche Umfeld - in diesem Fall die asset-Inflation der bubble economy - durch verzerrte und künstlich überhöhte Preise bestimmte Fehlentscheidungen "nahelegte". Diese Frage wird sich besser beantworten lassen, wenn die derzeitige asset-Inflation in den USA zusammengebrochen ist: Waren bzw. sind "amerikanisch" geführte Unternehmen auch unter den Bedingungen einer asset-Inflation immun gegen Fehlentscheidungen - oder wird man in nicht allzu langer Zeit wieder die Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit der japanischen (oder "rheinischen") Unternehmenskultur preisen?

Allen Berichten, die Japan dazu gratulieren, nun den shareholder value entdeckt zu haben, und die hieraus schließen, daß die wirtschaftliche Erholung auf der Tagesordnung steht, ist mit Vorsicht zu begegnen. Die Wachstumsrate 1999 und die prognostizierte Wachstumsrate 2000 (etwa 1%) sind kein Beweis für eine Wende. Auch die Steigerung des Nikkei-Index’ (1999 um 37 Prozentpunkte) ist kein Beweis. Nach wie vor sind japanische Aktien überbewertet. Die positive Entwicklung des Index’ geht auf ausländischer Akteure - in erster Linie amerikanische Pensionsfonds und Investmentgesellschaften - zu-rück, die von der Wechselkursentwicklung des Yen profitieren oder Japan in ihre globalen Anlagestrategien einbeziehen wollen. Es kam zu der perversen Situation, daß japanische Sparer ihre Mittel vorzugsweise in sicheren amerikanischen treasury bonds anlegten und damit das Leistungsbilanzdefizit der USA finanzierten, während amerikanische Anleger den überbewerteten japanischen Aktienindex aufrechterhielten.

Die Belege, die für die Wende des japanischen Kapitalismus zur shareholder-Kultur angeführt werden, sind in der Regel anekdotischer Art. Natürlich gibt es auch in Japan erfolgreiche venture-Unternehmen, die nicht dem entsprechen, was im Ausland unter japanischer Unternehmenskultur verstanden wird. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn Großunternehmen ihre Selbstreform ankündigen (und zum Beispiel einen Ausländer in den Vorstand aufnehmen oder Aktienoptionen für das Topmanagement einführen): Sie haben gute Gründe, sich selbst als reformorientiert darzustellen - was nicht bedeutet, daß sie ein Unternehmensmodell, das Japan vierzig Jahre lang den wohl dramatischsten Erfolg der Wirtschaftsgeschichte bescherte, wirklich zur Disposition zu stellen bereit wären.


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