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Indien / Willi Germund und Saumya Gupta. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 16 S. = 46 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials]

  • Die hindunationalistische Vorstellung von einem ökonomisch wie kulturell autarken Indien hat sich durch soziale Wandlungsprozesse in Indien überholt. Die Führung der Regierungspartei BJP trat deshalb zumindest in ihrem äußeren Erscheinungsbild den Marsch in die politische Mitte an. Sie hat aber keineswegs ihre ideologischen Fundamente aufgegeben. Die BJP lernte lediglich, sie besser zu verkleiden.

  • Ein Fall der gegenwärtigen Regierung ist in absehbarer Zeit mehr als unwahrscheinlich. Zu einer Krise kann es nur kommen, wenn die BJP-Projekte gegen die Interessen von mehr als einem Koalitionspartner in der "National Democratic Alliance" (NDA) verstoßen. Völlig ausgeschlossen scheint zudem, daß die Bündnispartner ihre Vorbehalte gegen die Congress-Partei überwinden und mit dieser eine neue Regierungsplattform entwickeln.

  • Nach zwei Jahren der Stagnation zeichnet sich jetzt eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums ab. Die Regierung hat aber erkannt, dass die positive Entwicklung nur fortgesetzt werden kann, wenn dringend notwendige Reformen umgesetzt werden.

  • Ihre Wirtschaftspolitik wird maßgeblich von großen Wirtschaftkonzernen des Landes beeinflusst, hindunationalistische Ideologen wurden an der Rand gedrängt. Der indische Markt soll liberalisiert werden, der Zugang von Auslandskapital ist erwünscht, wird aber weiter begrenzt.

  • Trotz aller Versprechen wird es nicht zu einer Überwindung der krassen sozialen Gegensätze kommen. Die Regierung wird nicht willens oder nicht fähig sein, ihre Entwicklungspläne in die Praxis umzusetzen.

  • Unbeschadet aller Kosten plant die Regierung eine umfassende konventionelle Modernisierung der Streitkräfte. Zudem besitzt Indien weitreichende nukleare Ambitionen. Die selbstbewusste Nuklearpolitik ist gerade in der städtischen Mittelklasse Indiens unumstritten - ebenso wie die starre und unflexible Haltung in der Kaschmirfrage. Deshalb hat die Regierung kaum einen Grund, ihren bisherigen Kurs zu ändern.

Der neue Stern am asiatischen Himmel

Indiens Ökonomie weist gegenwärtig mit einem Plus von rund sieben Prozent das höchste Wirtschaftswachstum in Asien auf. In einem internationalen Umfeld, das nach den regionalen ökonomischen Erschütterungen der vergangenen Jahre nach neuen Erfolgsbeispielen sucht, bemüht sich Neu Delhi, die Gunst der Stunde zu nutzen. Premierminister Atal Bihari Vajpayee will Indien den Glanz eines neuen ökonomischen Wunderkinds zu verleihen. Er vertraut dabei vor allem auf den Binnenmarkt. Neu Delhi beabsichtigt, mit einer Serie von Deregulierungsschritten die Wirtschaft zu beleben. Indiens Wirtschaft ist immer noch zu rund 80 Prozent für einheimische Unternehmen reserviert. Das wird sich auch zukünftig kaum ändern. Die Regierungskoalition der "National Democratic Alliance" (NDA) mit insgesamt 24 Parteien, will den indischen Markt nur in ausgewählten Bereichen für ausländische Unternehmen öffnen.

Gleichzeitig wird die Regierung unter Führung der hindunationalistischen "Bharatiya Janata Party" (BJP) ihre selbstbewusste Außenpolitik fortsetzen. Neu Delhi glaubt, dass die Atomtests im Mai 1998 politisch erfolgreich waren, weil das Land jetzt als internationaler Gesprächspartner ernst genommen würde. Premierminister Vajpayee ist entschlossen, die nukleare Bewaffnung voranzutreiben und die mehr als eine Million Mann starken Streitkräfte auch konventionell zu modernisieren. Indien strebt laut seiner im August veröffentlichten Nukleardoktrin die Schaffung einer Einflusssphäre in Südasien an, die nuklear abgedeckt werden soll. Das Land ist außerdem nicht bereit, seine Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen im atomaren Sektor einem internationalen Kontrollregime zu unterwerfen.

Innenminister Lal Krishna Advani, einer der Chefdenker der BJP, fasste die wirtschaftliche und außenpolitische Stoßrichtung in dem Halbsatz zusammen, dass die neue Regierung sich vorrangig um "Sicherheit und Entwicklung" kümmern wolle. Sie verzichtet dabei zu einem großen Teil auf die hindunationalistische Rhetorik, für die die wichtigste Regierungspartei in der Vergangenheit berüchtigt war. Sie hat aber keineswegs ihre ideologischen Fundamente aufgegeben. Die BJP lernte lediglich, sie besser zu verkleiden.

Die Sicherheits- und Außenpolitik sind bei Regierung und Opposition kaum umstritten. Allerdings ist fraglich, ob der Entwicklungsansatz der Vajpayee-Regierung die krassen Gegensätze in der indischen Gesellschaft ausgleichen kann. Die "Bharatiya Janata Party" (BJP) wird von oberen Kasten dominiert und präsentierte sich in der Vergangenheit als eine Partei der sozialen und religiösen Elite. Seit den Nukleartests im Mai 1998 bemühte sich Vajpayee folgerichtig, die Sanktionen seitens multilateraler Institutionen wie der Weltbank rückgängig zu machen. Auf dem Gebiet der bilateralen Entwicklungshilfe dagegen unterblieben nicht nur gegenüber Deutschland, sondern auch gegenüber anderen Staaten alle Bemühungen, eingefrorene Mittel erneut fließen zu lassen.

Hindunationalistische Ideologie

Die BJP bemühte sich seit 1993, ihren Ruf als intolerante hindunationalistische Gruppierung loszuwerden. Die Führung hatte eingesehen, dass mit der Betonung von "Hindutva" das Wählerpotenzial ausgeschöpft war. Der Begriff umschreibt die Vorstellung, dass sich alle Minderheiten in dem von Hinduisten dominierten Indien den religiösen und gesellschaftlichen Normen der Bevölkerungsmehrheit unterordnen müssten. Diese Haltung sorgte für einen nahezu permanenten Konflikt mit Moslems und Christen, der immer noch unterschwellig anhält. Mit der Forderung nach Hindutva gelang es der BJP, sich im Norden Indiens als bedeutendste politische Kraft zu etablieren. Außerdem schaffte sie es, die Unterstützung durch die städtische Mittelklasse zu konsolidieren.

Aber auf dem Land, auf dem 75 Prozent der eine Milliarde Einwohner leben, war und ist der Alltag nicht von religiösen Gegensätzen geprägt, sondern von einem streng hierarchischen Kastensystem. Der von Brahmanen, der obersten Kaste, dominierten BJP fiel es deshalb schwer, die Wählerbasis zu verbreitern.

Bei der städtischen Mittelklasse sah sie sich vor einem anderen Problem. Die Betonung traditioneller und vermeintlicher Hindu-Werte kam diesen Bevölkerungsschichten entgegen. Allerdings veränderten sich die Konsumgewohnheiten. Die Mittelklasse will heute in Indien weder auf qualitativ gute Waren verzichten noch möchte sie von international üblichen Fernsehprogrammen abgeschnitten werden.

Die hindunationalistische Vorstellung von einem ökonomisch wie kulturell autarkem Indien hatte sich damit überholt. Die BJP-Führung zog die Konsequenzen und trat zumindest in ihrem äußeren Erscheinungsbild den Marsch in die politische Mitte an.

Aber die BJP löste sich nicht aus ihrem organisatorischen und ideologischen Umfeld. Sie ist weiter eine der zahlreichen Frontorganisationen der hindunationalistischen Dachorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) - dem "Reichsfreiwilligenkorps". Die Gruppe hat ihre Ursprünge im militanten Hindunationalismus der zwanziger Jahre und strebt laut ihren eigenen Äußerungen die "kulturelle Reorganisation" Indiens an. Sie versucht, auf lokaler Ebene ein Netzwerk von Aktivisten zu errichten. Ihre etwa eine Million Mitglieder arbeiten in mehreren Frontorganisationen, der sogenannten "Sangh Parivar", der Familie der hindunationalistischen Gruppen.

Die BJP ist politisch heute die bedeutsamste dieser Untergruppen. Die Bedeutung der RSS für die BJP machen zwei Beispiele deutlich: In Wahlkämpfen ist die BJP auf die RSS-Mitglieder angewiesen, weil sie selbst kaum Mitglieder zählt. Außerdem sind alle wichtigen BJP-Politiker gleichzeitig auch RSS-Mitglieder. Mit dieser Abhängigkeit unterscheidet sich die BJP grundsätzlich von allen anderen politischen Parteien Indiens. Keine von ihnen ist in ein vergleichbares organisatorisches Umfeld eingebettet.

Aber sowohl die BJP- als auch die RSS-Führung haben erkannt, dass der Machterhalt nur mit Hilfe ideologisch grundverschiedener Verbündeter im Parlament möglich ist. Die Spitzengremien sind überzeugt, dass der Machtgewinn und der Machterhalt nur möglich waren, weil die Partei sich in der Öffentlichkeit von den hindunationalistischen Kräften inklusive der RSS distanzierte. Allerdings ist das „Reichsfreiwilligen-korps" ebenfalls überzeugt, dass der Machterhalt wichtiger ist als die Beibehaltung der reinen hindunationalistischen Lehre.

Die Erkenntnis führte zu einer Art Doppelstrategie. Im öffentlichen Erscheinungsbild und in wirtschaftlichen Fragen kam es zu einer "Modernisierung", hindunationalistischer Ballast wurde größtenteils über Bord geworfen. Gleichzeitig startete aber nach Abstimmung zwischen BJP und RSS der Versuch eines "moralischen und sozialen Wiederaufbaus".

Ziel ist die "Indisierung" der Gesellschaft. Schulbücher sollen umgeschrieben, die Geschichte des Landes neu definiert, die Verfassung des Landes reformiert werden. So wurden und werden liberale Persönlichkeiten in öffentlichen und staatlichen Institutionen durch RSS-Mitglieder ersetzt. Zu den geplanten Verfassungsänderungen gehört die undemokratische Absicht, während der fünfjährigen Amtsperiode des Parlaments und der Abgeordneten keine Neuwahlen zu erlauben. Die Rechtfertigung, dies fordere die politische Stabilisierung Indiens, überzeugt kaum. Dieses Vorhaben dürfte angesichts der mangelnden Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament freilich kaum zu verwirklichen sein. Weniger spektakuläre Schritte wie die Umbesetzung von Gremien sind dagegen in vollem Gang und trafen bislang auch nicht auf den Widerstand der 24 Koalitionspartner.

Verbündete Wirtschaft, machtlose Gewerkschaften

Nach zwei Jahren der Stagnation zeichnet sich jetzt eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums ab. Die Regierung hat aber erkannt, dass die positive Entwicklung nur fortgesetzt werden kann, wenn dringend notwendige Reformen umgesetzt werden. Das Haushaltsdefizit beträgt laut offiziellen Angaben zwischen sieben und acht Prozent. Er liegt damit deutlich über der angestrebten Marke von sechs Prozent. Allerdings beträgt das Defizit nach Angaben des Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) tatsächlich rund 13 Prozent. Der IWF bezieht die desolate Haushaltslage der 25 Bundesstaaten in seine Rechnungen ein. Außerdem werden elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Subventionen ausgegeben, die Strom, Treibstoffe und in manchen Gegenden selbst Kühlschränke und Motorräder auf einem niedrigen Preisniveau halten sollen.

Premierminister Vajpayee weiß, dass seine Regierung sparen muss und dass dies schmerzhafte Einschnitte bedeutet. In den ersten Monaten seiner Amtszeit machte er deutlich, dass er zumindest in der Anfangsphase seiner Regierung bereit ist, den Wählern Sparmaßnahmen zuzumuten. Zum Beispiel setzte er gegen den massiven Widerstand der Transportunternehmen eine nahezu 40-prozentige Preiserhöhung für Diesel durch.

Solche Entscheidungen wurden durch einen Wandel in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der BJP möglich. Sie wird nicht mehr von den traditionellen "Swadeshi-Ideologen" der Partei bestimmt, die in der Vergangenheit westliche Konsumtempel wie McDonalds und Kentucky Fried Chicken aufs Korn nahmen. Sie verlangten, dass Inder indische Güter konsumieren sollten. Dennoch sind nationalistische Erwägungen in der Wirtschaftspolitik weiter vorherrschend.

Der Grund ist nicht nur der Anpassungszwang, dem die BJP sich ausgesetzt sah, nachdem sie die Oppositionsbank gegen die Regierungsbank eintauschte. Die Gruppierung, traditionell von kleinen Händlern und Geschäftsleuten unterstützt, sah sich zunehmend dem Einfluss der rund 200 großen Mischkonzerne des Landes ausgesetzt.

Dies ist unter anderem eine der Folgen des hohen Finanzbedarfs indischer Politiker. Ein Parlamentskandidat gibt im Wahlkampf durchschnittlich etwa 250 000 Euro aus. Seit 1996 fanden drei Wahlen statt. Die meisten dieser Mittel stammten aus den Kassen von Privatunternehmen. Parteien finanzieren sich ähnlich. Keine politische Organisation muss nach der Gesetzeslage die eigenen Finanzen offenlegen. Die

Öffentlichkeit erfährt allenfalls über Anekdoten, wie weit die Abhängigkeit reicht - wenn etwa Spitzenpolitiker mit den Privatjets von Unternehmen reisen.

Die Abhängigkeit der Parteien und Politiker von Wirtschaftsunternehmen reicht bereits Jahrzehnte zurück. Bis zum Jahre 1991 - damals startete die Congress-Regierung unter Premierminister Narasimha Rao die erste Deregulierungsphase Indiens - nutzen die Konzerne und Wirtschaftsführer ihren Einfluss, um Lizenzen, Quoten und Genehmigungen für geschäftliche Aktivitäten zu erhalten.

Seit der ersten Liberalisierungsphase von 1991 erhielt die Lobbyarbeit eine andere Stoßrichtung. Die indische Wirtschaft versucht nun vorwiegend, die eigene Stellung auf dem indischen Markt abzusichern. Frei nach dem Motto "Global denken, national handeln" ist demnach ausländisches Know how und Kapital willkommen, solange die Marktkontrolle nicht aus indischen Händen gleitet.

Die starke nationalistische Ausrichtung indischer Unternehmen liegt zum einen in der Tatsache begründet, dass die meisten Firmen sich nach wie vor in Familienkontrolle befinden. Zudem ist die indische Wirtschaft gegenüber der ausländischen Konkurrenz wegen einer völlig anderen Unternehmensphilosophie benachteiligt. Traditionell erwartet ein Unternehmen in Indien von Investitionen jahre- wenn nicht jahrzehntelang Gewinne ohne neue Investitionen tätigen zu müssen. Hinzu kommt, dass angesichts der mehr als vielseitigen Aktivitäten der Mischkonzerne - das Spektrum kann von Teppichhandel bis zum Verkauf von Generatoren reichen - der größte Teil des Unternehmenskapitals gebunden ist. Ausländische Konzerne zeigten sich in Indien seit 1991 aber dank ihrer größeren Liquidität häufig überlegen.

Indiens Wirtschaft besteht deshalb im allgemeinen mit Erfolg darauf, dass ausländische Unternehmen nur mit Minderheitsbeteiligungen in Indien einsteigen können. Besonders effektiv waren und sind bei der Lobbyarbeit gegenüber der Regierung die drei wichtigsten Unternehmensverbände des Landes. Die "Confederation of Indian Industries"(CII), die "Federation of Indian Chambers of Commerce and Industry" (FICCI) und die "Associated Chambers of Commerce" (Assocham) haben aktive und qualifizierte Think Tanks gebildet, die inhaltlich die indische Wirtschaftspolitik stark beeinflussen, wenn nicht gar bestimmen.

Diese Veränderung im Verhältnis von Privatwirtschaft und Politik in Indien schlug sich in aller Deutlichkeit bei den WTO-Gesprächen in Seattle nieder. Während der ersten Uruguay-Runde war Neu Delhi mit einem halben Dutzend Beamter vertreten. In Seattle gehörten nicht nur Fachbeamte zur Delegation, sondern auch Experten der Unternehmerverbände. Die Verhandlungspositionen wurden im Vorfeld abgeklärt und in Seattle auch durchgehalten.

Damit wandelte sich auch die BJP von einer Partei, die ursprünglich einmal als Fürsprecherin überwiegend kleiner Händler und Geschäftsleute in Indien bekannt war, zu einer Gruppierung, die sich wirtschaftspolitisch als verlängerter Arm der großen Unternehmen des Landes versteht.

Wirtschaftliche Reformen wird es in Indien deshalb in den Bereichen geben, in denen es eine Übereinstimmung der Interessen mit der Wirtschaft des Landes gibt. Dazu zählt die weitere Deregulierung des Binnenmarktes. Außerdem bestehen Pläne, die Privatisierung staatlicher Unternehmen in Angriff zu nehmen.

Die Regierung ist offen für ausländische Investitionen in ausgewählten Bereichen wie der Verbesserung der Infrastruktur. Sie wird aber im Verein mit der indischen Wirtschaft versuchen, ausländische Kontrolle über einen Teil des Marktes oder der Unternehmen so weit möglich zu verhindern. Indiens Regierung wird versuchen, vor allem in der ersten Regierungsphase die Veränderungen durchzuboxen, die sie als notwendig betrachtet. Sie kann dabei auf die Unterstützung der Privatwirtschaft rechnen. Die Bürokratie des Landes und die Gewerkschaften werden sich mit Händen und Füßen wehren.

Die fünf wichtigsten Gewerkschaften des Landes sind überwiegend in staatlichen Betrieben und in der Bürokratie stark. Sie alle besitzen zudem intensive Verbindungen zu politischen Parteien. The "Indian National Trade Union Congress" (INTUC) mit etwa 2,7 Millionen Mitgliedern steht der Congress-Partei nahe und wird sich wie in der Vergangenheit überwiegend den politischen Richtlinien der größten Oppositionspartei im Parlament fügen. Dies gilt auch für "All India Trade Union Congress" (AITUC, 0,92 Millionen Mitglieder/Communist Party of India), Centre of Indian Trade Unions" (CITU, 1,8 Mio Mitglieder; Communist Party of India(Marxist)) und "Hind Mazdoor Sabha" (HMS; 1,48 Mio Mitglieder, ehemals Socialist Party).

Indiens zahlenmäßig stärkste Gewerkschaft wurde während der vergangenen Jahre die "Bharatiya Mazdoor Sangh" (BMS), wie die regierende BJP eine Frontorganisation der RSS. Die BMS hat 3,12 Millionen Mitglieder und sang während der vergangenen Jahre lautstark im Chor der hindunationalistischen Organisationen mit, die eine weit gehend autarke Wirtschaft abgeschirmt von ausländischen Einflüssen verlangten.

Angesichts der Arbeitsteilung, auf die sich die regierende BJP und die hindunationalistische Dachorganisation RSS eingelassen haben, steht aber nicht zu erwarten, dass die BMS zu einem ernsthaften Problem für die Regierung Vajpayee werden wird, solange es nicht zum offenen Bruch zwischen dem Premierminister und der Sangh Parivar kommt. Andererseits ist damit zu rechnen, dass die Mitgliederzahl der hindunationalistischen Gewerkschaft zu Lasten der anderen Organisationen zunimmt.

Vorläufig scheinen die regierungsfeindlichen Gewerkschaften zudem nicht in der Lage zu sein, die Regierungspolitik ernsthaft zu gefährden. Angesichts der geplanten Privatisierung und der Zulassung von 26 Prozent ausländischer Beteiligung im Versicherungsbereich kam es zwar zu heftigen Protesten und Streiks. Aber nach wenigen Tagen kehrte wieder Ruhe ein.

Babu Raj, unfähige Verwalter und schwierige regionale Partner

Weitaus schwieriger wird sich dagegen das Verhältnis zwischen der BJP-Regierung und dem landesweit 20 Millionen Mitglieder zählenden Beamtentum gestalten. Es geht dabei nicht um ideologische Vorbehalte sondern um Macht. Denn die angestrebte Deregulierung der Wirtschaft wird die Bürokratie Einfluss im Alltag kosten. Indiens sogenanntes "Babu Raj", das Reich der Beamten, kann bis heute die Umsetzung politischer Entscheidungen verhindern. Beamte kassieren zudem bei jeder Entscheidung für die eigene Tasche. Ein Termin mit einem Staatssekretär kostet zum Beispiel für ausländische Geschäftsleute rund 50 000 Rupien (ca 1100 Euro), zu entrichten an die persönlichen Mitarbeiter.

So gab Anfang Dezember 1999 das US-Konsortium Cogentrix entnervt auf. Dem Unternehmen war 1991 "Fast Track"-Behandlung von der damaligen Regierung für ein Kraftwerk zugesichert worden. Doch was die Politik versprach, galt noch lange nicht für das Beamtentum. Zunächst musste Cogentrix sich mit einer Serie von Klagen herumschlagen, die von Bürgerinitiativen und anderen kleinen Gruppen gegen das Projekt eingereicht worden waren. Alle Verfahren waren 1996 weitgehend aus dem Weg geräumt. 1999, rund acht Jahre nach der ersten Zusage durch die Regierung und 150 Genehmigungen durch die Bürokratie später gab das Management nun auf. Die Beamten hatten sich nicht daran gestört, dass die indische Regierung das Projekt zur Energiegewinnung vorantreiben wollte. Sie wollten für jede Erlaubnis geschmiert werden und legten den Planern immer neue Schwierigkeiten in den Weg, um auf ihre Kosten zu kommen.

Im diplomatischen Apparat hat die Vajpayee-Regierung seit 1998 viele Beamte mit hindunationalistischen Verbindungen platziert. Sie wird versuchen, diese Taktik auch im gesamten Beamtenapparat anzuwenden. Doch dies ist ein langer Prozeß, und die Erfahrung lehrt, dass indische Beamten im Zweifelsfall gegenüber ihrem eigenen Berufstand größere Loyalität zeigen als gegenüber ideologischen Vorbildern.

Die Vajpayee-Regierung musste dies mühsam lernen, nachdem sie ihren ersten Haushalt vorlegte und die Beamten des Finanzministeriums bei der Vorbereitung weitgehend an den Rand drängte. Das Ergebnis war blamabel, weil die Regierung sich in Widersprüche verwickelte und einige Entscheidungen rückgängig machen musste. Die Bürokratie hatte die Politik wohl wissend in die aufgestellten Messer laufen lassen.

Seit den letzten Wahlen im Oktober 1999 konnte diese unterschwellige Konfrontation vermieden werden. Aber wenn die Vajpayee-Regierung wirklich Ernst mit einigen schmerzhaften Entscheidungen wie der Kürzung von Subventionen machen will, wird sie bei der Umsetzung auf den Beamtenapparat angewiesen sein. Deshalb erscheint unwahrscheinlich, dass die indische Regierung tatsächlich nachdrücklich versuchen wird, den Mitarbeiterstab im öffentlichen Dienst des Landes drastisch einzuschränken.

Außerdem sind die BJP-geführten Regierungen in den indischen Bundesstaaten in der Vergangenheit den Beweis schuldig geblieben, besser verwalten zu können als die politische Konkurrenz. Der Bundesstaat Maharashtra mit seiner Finanzmetropole Bombay zehrte während der vergangenen Jahre unter hindunationalistischer Regierung von seiner Substanz. In Uttar Pradesh, mit rund 100 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Bundesstaat Indiens, konnte die BJP-Regierung weder den andauernden Verfall der Infrastruktur stoppen noch bemühte sie sich, mit Entwicklungsprojekten eine neue dynamische Phase einzuleiten. Die BJP versagte in einem Ausmaß, dass mehrere Dörfer die letzten Wahlen komplett boykottierten - eine Entwicklung, die nicht unbedingt neu ist, aber noch nie so stark in Erscheinung trat wie bei den vergangenen Wahlen.

Die mangelnde Durchsetzungskraft gegenüber dem "Babu Raj" und die Unfähigkeit zur sogenannten "guten Regierung" (good government) lassen es als zweifelhaft erscheinen, dass die Vajpayee-Regierung ihr Versprechen von "Entwicklung" in weiten Teilen des Landes in die Tat umsetzen kann. Denn diese Schwächen werden durch das schwierige Verhältnis zwischen der Zentralregierung und den 25 Bundesstaaten verschlimmert.

Die Hoheit über Aufgaben wie Verteidigung, Außenpolitik, Bankwesen, Infrastruktur (Eisenbahnen, Straßen, Telekommunikation) Schwerindustrie unterliegt der Autorität der Zentralregierung in Delhi. Andererseits gehören Polizeiwesen, öffentliche Gesundheit, lokale Verwaltung in den Korb der Bundesstaatsaufgaben. In Fragen der Erziehung, Sozialversicherung, der wirtschaftlichen und sozialen Planung, Wälder, Fabriken und selbst in der Medienpolitik überschneiden sich laut Verfassung die Zuständigkeiten von Zentrum und Bundesstaaten.

Die Zentralregierung ist deshalb auf die Zusammenarbeit mit den Bundesstaaten angewiesen, um ihre Politik umzusetzen. Die Bundesstaaten wiederum benötigen Neu Delhi zur finanziellen Unterstützung. Viele Bundesstaaten können ohne den Finanztropf aus der Hauptstadt nicht überleben. Diese Sachlage erklärt weitgehend die große Bereitschaft von Regionalpartien, sich trotz aller politischen Gegensätze und Vorbehalte mit der Partei zu arrangieren, die die Zentralregierung in Neu Delhi führt.

Diese Konstellation birgt Chancen und Zündstoff. Gerade die BJP besitzt starke "zentralistische Instinkte" und tendiert dazu, Zuständigkeiten an sich zu ziehen. Zudem will sie sich weiter zu einer nationalen Partei entwickeln. Noch ist sie weit von diesem Ziel entfernt. Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass sie im so genannten "Kuh"- oder "Hindu-Gürtel" im Norden Indiens, in dem bislang ihre Hochburgen lagen, ihre besten Zeiten hinter sich hat. Im Süden Indiens konnte die BJP dagegen noch nicht viel Boden gut machen.

Die Mühe, die Premierminister Vajpayee und seine Parteifreunde mit dem Konzept der Dezentralisierung haben, steht im direkten Gegensatz zu den Ambitionen jener amorphen "Dritten Kraft", die die verschiedenen regionalen Parteien bilden. Sie sind zwar weit davon entfernt, in Neu Delhi die Regierung ohne die BJP oder die gegen den Niedergang kämpfende Congress-Partei der Gandhis zu stellen. Aber die vergangenen Wahlen haben bewiesen, dass die Parteien der "Dritten Kraft" sich neben dem hindunationalistischen Lager und der Congress-Partei als dritter politischer Faktor etabliert haben. Sie werden deshalb auch zukünftig versuchen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen - selbst wenn sie in Neu Delhi mit der BJP in einer Regierungskoalition verbandelt sind.

Die Erfahrungen der ersten Monate unter der neuen Regierung haben gezeigt, dass Vajpayee die Bundesstaaten mit Samthandschuhen anfasst, deren Regierungen ihn in Neu Delhi unterstützen. Im Gegenzug ermöglicht der Pakt in Neu Delhi dynamischen Bundesstaatschefs wie Ministerpräsident Chandrababu Naidu in Andhra Pradesh, weitgehend unbehelligt vorzugehen. Mit einer Mischung aus altbackenem indischen Populismus und einer Politik der offenen Tür für internationale Geber wie die Weltbank sowie mit massiver Förderung der Software-Industrie war Naidu so erfolgreich, dass er sich zum Liebling weiblicher Wähler und ausländischer Unternehmen katapultierte.

Frauen brachten ihm die Stimmen für einen gewaltigen Wahlsieg, indisches und ausländisches Kapital bringen die Mittel, mit denen er zumindest versucht, den von krassen Gegensätzen gezeichneten Bundesstaat zu einer "Insel des Fortschritts" in dem eine Milliarde Einwohner zählenden indischen "Ozean des Elends" zu verwandeln.

Naidu illustriert das Dilemma, in dem die BJP steckt. Während der kommenden fünf Jahre wird er versuchen, seinen Wahlsieg zu zementieren und Erfolge als Früchte eigener Arbeit auszugeben. Die Regierung Vajpayee dagegen wird kaum in Erscheinung treten. Versuchen hindunationalistischer Frontorganisationen, in Andhra Pradesh Fuß zu fassen, wird der Ministerpräsident ebenfalls einen Riegel vorschieben. Andererseits kann eine Regionalpartei alleine gegenwärtig die Regierungsallianz in Neu Delhi nicht zu Fall bringen. Selbst wenn Ministerpräsident Chandrababu Naidu seine 29 Parlamentarier in

Neu Delhi zurückziehen würde, besäße Vajpayee immer noch eine knappe, aber regierungsfähige Mehrheit in der Lok Sabha, dem Parlament.

Ein Fall der gegenwärtigen Regierung ist in absehbarer Zeit deswegen mehr als unwahrscheinlich. Zu einer Krise kann es nur kommen, wenn die BJP Projekte formuliert oder umsetzt, die gegen die Interessen von mehr als einem Koalitionspartner in der "National Democratic Alliance" (NDA) verstoßen. Die zweite, noch unwahrscheinlichere Option: Die Bündnispartner müssen ihre Vorbehalte gegen die Congress-Partei überwinden und alle gemeinsam eine neue Regierungsplattform entwickeln. Dennoch wird die Vajpayee-Regierung in Neu Delhi gezwungen sein, dem immensen Druck der Bundesstaatsregierungen nach massiven finanziellen Zuwendungen nachzugeben.

Ozean des Elends und Kastenpolitik

Angesichts dieser Sachzwänge erscheint es sicher, dass die hindunationalistische Regierung von Premierminister Vajpayee den ideologisch inspirierten "moralischen und sozialen Wiederaufbau" vorantreiben wird. Sie wird versuchen, mit einer Liberalisierung des indischen Marktes die Wirtschaft des Landes zu beleben. Aber ihr Entwicklungsansatz reicht nicht tief genug und hat mit zu vielen gegensätzlichen Kräften zu kämpfen.

Das Los der rund 450 Millionen Einwohner, die laut UN-Statistiken täglich weniger als einen US-Dollar verdienen, wird sich deshalb in der Zukunft kaum ändern. Laut den optimistischen Schätzungen der indischen Behörden können nur 52 Prozent aller Inder lesen und schreiben. Bei Frauen beträgt der Analphabetenanteil rund zwei Drittel. Auch daran wird sich wenig ändern. Statt dessen verfiel die Vajpayee bereits den gleichen Irrungen, denen auch die vorherigen Regierungen erlagen. Statt Strukturveränderungen durchzusetzen, beschränkt sich die Regierung auf Begünstigungen und Privilegien, die nach Gutsherrenart an bestimmte Wählerkreise verteilt werden.

Etwa 15 Prozent der indischen Bevölkerung sind "Dalits" (Unberührbare). Rund 44 Prozent gehören zu den so genannten "Backward Castes" (wörtlich: zurückgebliebenen Kasten; gemeint sind wirtschaftlich und sozial benachteiligte Gruppen). Rund 18 Prozent aller Inder gehören zu oberen Kasten wie den Rajputs oder Brahmanen.

Indien hat versucht, mit einer Art "affirmative action" den Backward Castes ökonomische Vorteile zuzuschanzen, um ihre Nachteile zu kompensieren. In Tamil Nadu etwa sind 69 Prozent der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst für diese Gruppe reserviert, in Nordindien liegt der Prozentsatz bei etwa 49 Prozent. Entsprechende Quoten gelten auch im Erziehungsbereich und wirken sich besonders stark an Universitäten aus. Studienplätze werden gemäß diesen Reservierungen und nach Leistungstests vergeben. Als Konsequenz müssen Jugendliche aus höheren Kasten häufig auf private Institutionen ausweichen, weil sie trotz besserer Examina wegen der Quotenregelung nicht angenommen werden.

Diese "Mangalisierung" - der Name stammt von einer gleichnamigen Kommission - führte besonders in der städtischen Mittelklasse zu großer Unzufriedenheit. Die BJP, deren Führung fast ausschließlich aus Mitgliedern oberer Kasten zusammengesetzt ist, stellte sich in der Vergangenheit als heftiger Gegner dieser Quotenregelung dar und gewann deshalb in den indischen Metropolen (Indien hat etwa 4500 Städte) viele Wähler.

Andererseits ist mit einer Ablehnung der Reservierungen in Flächenstaaten wie Uttar Pradesh kein Blumentopf zu gewinnen. Im Gegenteil: Das System führte dazu, dass nun auch andere Kasten nach Privilegien verlangen. Jede Partei einschließlich der BJP ist darauf angewiesen, Zugeständnisse an die verschiedenen Kasten zu machen.

Die Folge ist schon seit Jahrzehnten eine Kastenpolitik, die kaum noch etwas mit dem Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten zu tun hat. Die Congress-Partei gab in den Bundesstaaten Rajasthan und Haryana beispielsweise den Jats, einer Bauern-Kaste, den "Backward Caste"- Status - und gewann folgerichtig auch bei den letzten Wahlen in diesen Regionen. Nun sieht sich auch die BJP gezwungen, im Bundesstaat Uttar Pradesh den Jats diesen Status zu verleihen. Dabei gehören die Angehörigen dieser Bauernkaste keineswegs zu den armen Bevölkerungsschichten.

Dies ist nur ein Beispiel für eine Politik voll guter Absichten, die verheerende Folgen nach sich zog. Sie stärkte während der vergangenen Jahrzehnte das offiziell abgeschaffte Kastensystem. Bei Wahlen bis in die Kommunen entscheiden sogenannte "Vote Banks" (wörtlich: Stimmenbänke) über Sieg und Niederlage. Alle Parteien versuchen deshalb, mit Versprechungen und gezielten Begünstigungen diese Stimmenbänke,

die fast immer nach Kasten geordnet sind, an sich zu binden. Diese Form von Kastenpolitik fördert allerdings populistische Positionen. Eine Versuchung, der auch die Vajpayee-Regierung bei ihrem Bemühen erliegt, ihre Wählerbasis zu verbreitern.

Sicherheitspolitik

Indiens Sicherheitspolitik ist der Bereich, in dem sich das hindunationalistische Gedankengut der BJP am stärksten niederschlägt. Bewaffnete Rebellen, die überwiegend im Nordosten und in Kaschmir gegen die Zentralregierung kämpfen, werden als Bedrohung der nationalen Einheit betrachtet. Entsprechend wird gegen sie auch vor allem militärisch vorgegangen, während die Suche nach politischen Lösungen kaum Aufmerksamkeit genießt.

Dies führte in der Kaschmirregion zu einem Zustand, der mittelfristig kaum haltbar sein wird. Während der vergangenen Wahlen beteiligten sich laut offiziellen Angaben dort ganze zehn Prozent an dem Urnengang. Tatsächlich dürfte die Wahlbeteiligung bei rund fünf Prozent gelegen haben. Die Zahlen beweisen, dass die indische Zentralgewalt es während der vergangenen Jahre nicht geschafft hat, die Bevölkerung der Region politisch auf die eigene Seite zu ziehen. Stattdessen verstärkten im letzten Jahr die von Pakistan unterstützten islamischen Untergrundkämpfer ihre Aktionen.

Die Auseinandersetzungen zwischen regulären Truppen aus Indien und Pakistan in der Kargilregion im Sommer 1999, bei denen auf beiden Seiten zusammen rund 2000 Menschen ums Leben kamen, führten zu einer erheblichen Erhöhung der Militärausgaben. In diesem Winter werden als Folge der heftigen Kämpfe nun auch Truppen in Positionen ihre Stellung halten, die in den Vorjahren geräumt wurden. Die Konsequenz wird wiederum eine erhebliche Ausgabenbelastung sein.

Indien will ohnehin die Verteidigungsausgaben von 2,6 auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigern. Ein Teil dieser Gelder soll in die Modernisierung der Streitkräfte gesteckt werden. Tatsächlich waren während der vergangenen 15 Jahre netto immer weniger Mittel in die Verteidigung gesteckt worden. Allerdings fressen die Militärausgaben schon jetzt rund 60 Prozent mehr Gelder auf als für Soziales, Gesundheit und das Erziehungswesen zusammen ausgegeben werden.

Zusätzliche Mittel für die Streitkräfte würden die latente Unzufriedenheit in der Führung der Militärs mildern. Sie ist zwar weit davon entfernt, sich gegen die zivile politische Herrschaft aufzulehnen. Sie hat aber während der vergangenen Jahre auch keinen Hehl aus ihrer Unzufriedenheit gemacht. Stein des Anstoßes ist in erster Linie das Verteidigungsministerium. Die Behörde sei mit ihren überwiegend zivilen Beamten zu schwerfällig und fachlich nicht hinreichend ausgebildet.

Zudem stört sich die Militärführung daran, dass Indien nach wie vor keine moderne Verteidigungsdoktrin besitzt und bei strategischen Planungen Militärs kaum hinzugezogen würden. Das Beispiel der Atomtests im Mai 1998 zeigt, wie stark Militärs von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen werden. Die Chefs der Waffengattungen erfuhren erst wenige Stunden vorher von den geplanten Tests.

Bei den Kargil-Kämpfen im Sommer 1999 stellte sich zudem heraus, dass indische Truppen mit ihrer veralteten Ausrüstung ihren Gegnern deutlich unterlegen waren. Indische Soldaten trauten ihren Augen kaum, als sie im Sommer 1999 Stellungen ihrer pakistanischen Gegenüber in der indischen Kargilregion eroberten. Selbst die Sonnenbrillen ihrer Gegner waren den indischen Modellen überlegen.

Andererseits weigert sich Neu Delhi gegenwärtig, mit dem Militärregime im benachbarten Pakistan zu sprechen. Diese Haltung stimmt mit der generellen inflexiblen Haltung überein, die Indien auch schon vor der Machtübernahme von Premierminister Vajpayee in der Kaschmirfrage an den Tag legte. Vajpayee fühlt sich gegenwärtig persönlich getäuscht, weil Pakistan die Kargil-Operation bereits vorbereitete, als er im Februar 1999 die pakistanische Stadt Lahore besuchte und dort mit dem inzwischen gestürzten Premierminister Nawaz Sharif vereinbarte, alle Probleme zwischen den beiden Ländern auf "friedliche Weise" zu lösen. Der neue Machthaber in Islamabad, General Pervez Musharraf, wird von Neu Delhi beschuldigt, die Kargil-Aktion eingefädelt zu haben.

Die gegenwärtige Haltung der Regierung Vajpayee in der Kaschmirfrage ist sowohl bei ihren Koalitionspartnern als auch in der veröffentlichten indischen Meinung unumstritten. Weite Kreise der Bevölkerung verfolgen das Gehabe der Politiker und der Medien in dieser Angelegenheit allerdings verständnislos.

Dies gilt auch für die indische Nuklearpolitik. Allerdings hat Vajpayee die atomare Bewaffnung in eine Frage des nationalen Prestiges verwandelt. Indiens Regierung veröffentlichte im August 1999, pünktlich zum Wahlkampf, erstmals Grundzüge seiner Nukleardoktrin. Darin heißt es unter anderem: "Indiens Sicherheit ist ein integraler Bestandteil seines Entwicklungsprozesses. Indien versucht, eine expandierende Zone des Friedens und der Stabilität um sich herum zu schaffen, damit der Entwicklungsprozess ohne Unterbrechung vollzogen werden kann."

Es gibt wohl nur wenige Länder, die zur Absicherung ihrer Entwicklungsbemühungen Nuklearwaffen zu brauchen glauben. Aber mit diesem Satz formulierte Indien erstmals den Anspruch Neu Delhis, jenseits der eigenen Landesgrenzen eine Einflusssphäre zu schaffen und mit einem eigenen nuklearen Schirm zu sichern.

Neu Delhi glaubt, dass die Nukleartests im Mai 1998 seiner internationalen Position genutzt haben. Das Land würde seitdem auf dem internationalen Parkett als wichtiger und ernst zu nehmender Gesprächspartner wahrgenommen. Dank dieser Entwicklung bzw. dieser Interpretation fühlt sich Neu Delhi in seiner internationalen politischen Ausrichtung bestätigt.

Deswegen will die Regierung auch die nukleare Aufrüstung weiter vorantreiben. Der Aufrüstungskurs wird bislang nur von einem Faktor gebremst: Indien fehlen oft die Kenntnisse, um seine ehrgeizigen Planungen zu verwirklichen. Deshalb schaffte Neu Delhi es bislang nur, Kurz- und Mittelstreckenraketen zu entwickeln, konnte sie aber noch nicht mit Atomsprengköpfen bestücken. Experten gehen davon aus, dass noch zwei bis fünf Jahre benötigt werden, um diesen Schritt zu bewältigen. Zumindest für die Dauer dieses Zeitraums wird die hindunationalistische Regierung sich nicht auf eine Beschränkung ihrer Bemühungen einlassen.

In der Nukleardoktrin heißt es ausdrücklich, dass Indien seine Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten keiner internationalen Kontrolle unterwerfen wird. Trotz aller indischen Widersprüche über die Gründe der atomaren Anstrengungen ist deutlich geworden, dass Neu Delhi fest entschlossen ist, seine Nuklearstreitmacht so schnell wie möglich zu entwickeln und auszubauen.

Selbst die Bereitschaft, den Atomteststoppvertrag (CTBT) zu unterzeichnen, ist spürbar schwächer geworden, seit der US-Senat das Vertragswerk ablehnte. Neu Delhis Regierung behauptet gegenüber ausländischen Vertretern immer wieder, vor einer eventuellen Unterzeichnung des CTBT müsse zunächst ein "nationaler Konsens" hergestellt werden. Die Vajpayee-Regierung unternimmt jedoch keinerlei Anstrengungen in dieser Hinsicht. Bis Mitte Dezember hatte die Regierung nicht einmal die Führung der oppositionellen Congress-Partei in dieser Frage angesprochen.

Die selbstbewusste außenpolitische Haltung hat ihren Ursprung nicht in vermeintlichen indischen Sicherheitsinteressen, sondern beruht auf der hindunationalistischen Ideologie eines "starken Indien". Die Außenpolitik ist eindeutig die Domäne der BJP, die Koalitionspartner interessieren sich größtenteils nicht für diese Problematik oder sie haben keine Schwierigkeiten mit den Zielen und Mitteln der Zentralregierung.

Um so stärker schlagen die hindunationalistischen Elemente der eigenen Sangh Parivar durch. Die Dachorganisation RSS glaubt immer noch, dass Indiens Grenzen vom Khyber-Pass in Pakistan bis nach Burma reichen müssten. Ex-pansionsgelüste dieser Art legte die Vajpayee-Regierung nicht an den Tag.

Aber die selbstbewusste Nuklearpolitik ist gerade in der städtischen Mittelklasse Indiens unumstritten - ebenso wie die starre und unflexible Haltung in der Kaschmirfrage. Da Neu Delhi sich insofern auf sicherem Terrain bewegt, wird die Regierung sich nicht bemüßigt fühlen, ihren bisherigen Kurs zu ändern - trotz aller Kosten, die der kalte Krieg gegen Pakistan in Kaschmir und den Himalaya-Ausläufern mit sich bringt.


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