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Probleme nationaler Kohärenz

Bruchlinien verlaufen aber nicht nur zwischen Gruppen unterschiedlicher Nationalität und Muttersprache, sondern auch zwischen konkurrierenden Fraktionen des jeweiligen Staatsvolks, innerhalb der "Titularnation". Das schlagende Beispiel für intra-ethnische Konflikte ist Tadschikistan. Die komplizierte Entwicklung dieses Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion kann hier nicht nachgezeichnet werden. Wer die Entwicklungen in dem Bürgerkriegsland verstehen will, muß - gleichsam von Tal zu Tal - eine komplizierte Konfliktlandschaft durchschreiten, die mannigfache Spaltungen und regionale Untergliederungen innerhalb des Tadschikentums (von einer tadschikischen Nation kann kaum die Rede sein) zeigt. Es kam zu Konflikten zwischen lokalen Abstammungs- und Loyalitätsgemeinschaften, die unter verschiedenen ideologischen Etiketten, darunter der des Islam, in einen politischen Machtkampf getreten sind. Die Akteure, mit denen man sich dabei vertraut machen muß, sind einerseits Regionen, Regionaleliten und lokale "Warlords", andererseits politisch-ideologische Organisationen wie die Islamische Wiedergeburtspartei, die Demokratische Partei oder die Bewegung für nationale "Wiedergeburt", die sich gegen die Regierung und die hinter ihr stehenden Regionaleliten stellten und nationalen Geltungsanspruch erhoben, aber meist selber regionsgebunden blieben. Daneben kommen freilich auch externe Akteure ins Spiel wie Rußland, das durch seine Grenzschutztruppen an der tadschikisch-afghanischen Grenze, durch Militärgarnisonen im Inneren und durch ein überwiegend russisches GUS-Friedenskontingent militärisch in dem Land präsent ist, Usbekistan, das sich ebenfalls in Tadschikistan politisch und militärisch engagiert, Afghanistan, auf dessen Territorium ein Teil der bewaffneten tadschikischen Opposition stationiert ist, und andere äußere Mächte.

So sehr dieser Konflikt durch innertadschikische Faktoren bestimmt wird, hat er doch eine geopolitische Dimension und ist für die Großregion Zentralasien zu einem erstrangigen Sicherheitsproblem geworden. Ende 1996 kam mit einem durch Rußland, den Iran und andere Akteure vermittelten friedenspolitischen Abkommen zwischen den Hauptkonfliktseiten, der Regierung unter Präsident Rahmonow und der Vereinigten Opposition (OTO), verhaltene Hoffnung auf eine Konfliktlösung auf. 1997 vereinbarte man in einem Militärabkommen sogar die Integration der Oppositionstruppen in die nationalen Streitkräfte. Aber diese Abkommen beziehen längst nicht das ganze Spektrum der Konfliktkräfte ein, sondern nur die beiden mächtigsten Konfliktseiten, und das begrenzt ihre Aussicht auf Erfolg.

Die Hindernisse für nationale Integration zeigen sich in Tadschkistan schon auf der geographischen Ebene, in der Bodengestalt, in den hohen Gebirgsbarrieren: Einige Landesteile, quasi die gesamte Osthälfte der Republik, sind vom Republikzentrum isoliert, und dieser Regionalismus wurde durch den Krieg noch verstärkt. Das Problem des territorialen Zusammenhalts, der Verbindung zwischen politischen Zentren und Landesperipherien betrifft auch andere zentralasiatische Staaten.

Was eine technische Voraussetzung für Nationen- und Staatenbildung ist, nämlich innere Verkehrserschließung, muß in Zentralasien nachgeholt werden. Die bisherigen Verkehrssysteme dienten dem Anschluß der Peripherie an das sowjetische Zentrum, weniger der territorialen Integration der einzelnen Unionsrepubliken. Auch solche technischen und infrastrukturellen Probleme betreffen die grundlegende Frage, wie weit die Identifikation mit dem unabhängig gewordenen "Nationalstaat" in der Bevölkerung verbreitet ist. Wiederum gibt insbesondere Tadschikistan den Anlaß, diese Frage zu stellen. Was zählt mehr: die Identifikation mit einer Nation und ihrer Regierung oder die noch aus vorsowjetischer Zeit stammenden traditionellen Identifikationen mit der Herkunftsregion, der Nachbarschaftsgemeinde, dem lokalen Hakim?


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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