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TEILDOKUMENT:
3. Die soziale Frage und die Einheit der Nation Drei Ereignisse gegen Ende des vergangenen Jahres haben die soziale Frage plötzlich wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und die Mehrzahl der Israelis aufgeschreckt:
Die Wirtschaftsdaten machen deutlich, daß Israel im Jahre 1997 eine wirtschaftliche Talfahrt angetreten hat. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts verlangsamte sich von 7,1 % im Jahre 1995, über 4,4 % 1996 auf nurmehr 2 % im letzten Jahr. Dies bedeutet bei einem Bevölkerungswachstum von 2,3 % einen Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit vom Tiefststand von 6,5 % im Juni 1996 (dem Amtsantritt von Netanjahu) auf nunmehr 8,1 %; als die Arbeitspartei 1992 die Wahlen gewann, betrug die Arbeitslosenrate noch 11,6 %. Doch gibt es auch Positives zu berichten: Die Inflation sank von 10,6 % im Jahre 1996 auf jetzt 8 %, die Auslandsverschuldung verringerte sich um 1,6 Milliarden Dollar, und die ausländischen Investitionen erreichten eine Rekordmarke von drei Milliarden Dollar trotz des stagnierenden Friedensprozesses. Diese Zahlen spiegeln den Streit zwischen den beiden wirtschaftspolitischen Schulen in Israel wider, die man verkürzt als Modernisierer" einerseits und Traditionalisten" andererseits bezeichnen kann. Die Modernisierer" setzen auf das freie Spiel der Kräfte, eine primär an der Inflationsbekämpfung orientierte Wirtschaftspolitik und die weitgehende Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft. Mit dem Argument der Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung weisen sie auf ihre Erfolge bei der Inflationsbekämpfung und der Schuldenreduzierung hin und sehen sich vom Internationalen Währungsfonds bestätigt, dessen Vizepräsident Stanley Fisher als Leiter einer IMF-Delegation die restriktive Fiskal- und Geldpolitik der israelischen Regierung lobte und trotz vorübergehender Wachstumsschwäche eine positive Entwicklung prognostizierte. Die prominentesten Vertreter dieser Schule sind neben Netanjahu Finanzminister Neeman und Zentralbankpräsident Frenkel, doch teilen auch Oppositionspolitiker wie der frühere Wirtschaftsminister Beilin von der Arbeitspartei im großen und ganzen ihre Meinung. Die Traditionalisten" setzen angesichts wachsender Arbeitslosenzahlen und zunehmender Armut in den Randgebieten und Entwicklungsstädten auf öffentliche Infrastrukturprogramme, auch wenn dies weitere Verschuldung bedeuten würde. Ihr Feind Nummer Eins ist die Zentralbank, deren Hochzinspolitik als Ursache allen Übels angesehen wird; dementsprechend heftig bekämpfen sie Vorschläge einer Regierungskommission, die eine größere Unabhängigkeit für die Zentralbank nach dem Muster der Deutschen Bundesbank vorsehen. Diese Schule präsentiert sich als lockere Koalition quer durch die Parteien; ihr prominentester Exponent ist Ex-Außenminister Levy von der Gesher-Fraktion des Likud, und dazu gehören die meisten Abgeordneten von Shas. Intellektueller Vordenker dieser Gruppe ist der Avoda-Abgeordnete Ben-Ami, während der Histadrut-Vorsitzende Peretz die außerparlamentarische Speerspitze bildet, und merkwürdigerweise gehört auch der Chef des Industriellen-Verbandes, Propper, zu den Kritikern der Regierungspolitik und insbesondere der Zentralbank. Auch die soziale Frage spaltet also die Nation und es gehört zu den Merkwürdigkeiten des politischen Lebens in Israel, daß diejenigen, die am härtesten von der liberalen Wirtschaftspolitik der Regierung betroffen sind, zu deren treuesten Wählern gehören und überwiegend den Friedensprozeß ablehnen. Doch zumindest das erstere könnte sich mittelfristig ändern, denn im Gegensatz zur Friedenspolitik scheint Netanjahu hinsichtlich der Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft über klare Vorstellungen zu verfügen. Diese zielen nach den Worten von Naomi Chazan, Abgeordnete der linksliberalen Meretz, auf die systematische Unterminierung Israels als Sozialstaat" ab. Und ein Blick auf das vom Finanzminister vorgelegte Budget macht diese Einschätzung verständlich: Der einstmals allmächtige Vorsorgestaat früher in vielen Sozialfunktionen auch von der Histadrut vertreten versucht, sich seiner sozialen Lasten zu entledigen und diese der privaten Vorsorge und dem bürgerschaftlichen Engagement zuzuschieben. Betroffen von den vorgesehenen harten Einschnitten in das soziale Netz sind vor allem die Alten und die Armen. Kürzungen im Gesundheitsetat, beim Kindergeld, bei den Renten (gemildert durch den Generalstreik), beim Wohngeld betroffen ist vor allem die Klientel der Koalitionsparteien. Denn auch dies gehört zu den Merkwürdigkeiten der israelischen Politik: Die linke Wählerschaft berührt dies weniger, zählt sie doch in der Regel zu den besser Verdienenden und Ausgebildeten. Doch um das Verwirrspiel komplett zu machen: Glaubt man den Polemiken der liberalen Presse, dann ging es beim Generalstreik vor allem um die üppige Pensionsversorgung von Staatsdienern und Angestellten öffentlicher Unternehmen auf Kosten des Steuerzahlers. Daß aber die neuentdeckte soziale Frage nicht nur ein Phantom, sondern harte politische Realität ist, zeigt die heftige Auseinandersetzung um den Haushalt 1998. Dabei steht wenig überraschend nicht die parlamentarische Opposition im Mittelpunkt, sondern innerhalb der Regierung wird der Streit in aller Öffentlichkeit ausgetragen, wird von verschiedenen Seiten mit dem Bruch der Koalition gedroht. Die Protagonisten dieses Streits sind der Finanzminister Neeman auf der einen Seite, der als Hauptvertreter der Wirtschaftsliberalen sich mit einem eisernen Sparkurs profilieren möchte, und auf der anderen Seite vier Koalitionsparteien, die in erster Linie die Interessen ihrer Klientel im Auge haben:
Diese klar definierten Interessenparteien sind es vor allem, die von der sozialen Frage in Israel reden und diese auf die Tagesordnung gesetzt haben. Sie haben sich bei den Auseinandersetzungen um den Haushalt auch weitgehend gegen den Sparkurs von Finanzminister Ne´eman durchgesetzt, obgleich dieser nur von Mehrausgaben in Höhe von 70 Mio. NIS redet; in Wahrheit dürften es mehrere hundert Millionen sein. So bestätigt sich das Bild, wonach in Israel die politische Linke weniger die sozialen Belange der ärmeren Schichten, als die Interessen des Establishments vertritt. Angesichts der sich verschärfenden sozialen Gegensätze und der zunehmenden Kluft zwischen arm und reich kann sich dieses Image bei den nächsten Wahlen ebenso verhängnisvoll auswirken wie der Abstand zum sephardischen Bevölkerungsteil. So hat Avoda-Parteichef Barak auch hier eine Neuorientierung der Parteistrategie und programmatik eingeleitet. Die wachsende soziale Kluft trägt zweifellos zur weiteren Spaltung der israelischen Gesellschaft bei, und viele sehen hier den eigentlichen Bruch mit dem zionistischen Ideal der Anfangszeit des Staates und die größte Gefährdung der nationalen Einheit, weil sie den Sprengstoff liefert für die ethnisch-religiös motivierten egoistischen Forderungen der verschiedenen Interessengruppen. Eine negative Koalition ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen gegen das herrschende Establishment als einziger verbleibender Klammer der Nation, der Aufstand der armen Randbezirke und Entwicklungsstädte gegen die wohlhabende Metropole Tel Aviv, die an einem Shabbat-Abend den Religiösen als Sündenbabel, den Armen aus den Vorstädten als unerreichbarer Traum erscheinen mag das ist der Alptraum der aufgeklärten, modernen Schichten, die Israel noch vor kurzem als modernen High-Tech-Staat, als Hongkong des Nahen Ostens in greifbarer Nähe sahen und deren Traum seit dem Regierungswechsel 1996 in weite Ferne zu rücken scheint. Doch auch in dieser Hinsicht läßt die Widersprüchlichkeit der israelischen Gesellschaft Hoffnung aufkeimen: Der religiöse Finanzminister Neeman entpuppt sich als vorerst zumindest effizienterer Vertreter einer modernen Wirtschaftspolitik als alle seine Vorgänger aus dem linken Lager, und im Wirtschaftsteil der Zeitungen wird er allmählich zum Liebling der säkularen Modernisierer. Auf der anderen Seite hat es den Anschein, als ob sich die Histadrut für die meisten Israelis noch immer Sinnbild einer unheilvollen Symbiose von Staats- und Klasseninteressen langsam zu einer modernen Interessenvertretung der Arbeitnehmer entwickeln und somit eine wichtige Funktion beim Ausgleich sozialer Interessen und damit auch für die Einheit der Nation übernehmen könnte. Zwar sind die Wunden des radikalen Schnitts von 1995 noch nicht ganz verheilt, als die Histadrut ihre Monopolstellung bei der Krankenversicherung aufgeben mußte und die Hälfte ihrer Mitglieder verlor. Doch inzwischen ist die Mitgliederzahl wieder auf 750 000 gestiegen, und immer mehr Arbeitnehmer sehen in ihr inzwischen die einzige Bastion gegen Sozialabbau und überbordende Privatisierungswellen. Auch ist die Gewerkschaft heute die einzige große gesellschaftliche Organisation, in der sich nahezu alle Segmente der israelischen Gesellschaft wiederfinden; gesteuert wird sie von einer Koalition, in der Avoda, Meretz, Shas, die (überwiegend arabische) Kommunistische Partei und die Arabische Demokratische Partei vertreten sind. Über allem thront der populistische Vorsitzende Amir Peretz, der in seiner Person den möglichen Kompromiß der Zukunft symbolisiert: Sepharde und Avoda-Abgeordneter, Peacenik der ersten Stunde und trotzdem in der Entwicklungsstadt Sderot 1983 zum Bürgermeister gewählt eine seltene Mischung, die den Weg eines westlichen Staates in einer orientalischen Umwelt weist und dem Land den inneren und äußeren Frieden bescheren könnte. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999 |