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3. Transformation als Stabilitätsproblem der jungen Demokratien

Demokratien weisen einerseits eine hohe Systemstabilität auf, wenn und weil sie Anpassungsfähigkeit, also Instabilität in Teilsystemen, ermöglichen, ohne das Basissystem zu gefährden. Sie erlauben den Austausch von Regierungen, Eliten, Politiken unter Beibehaltung des Regelsystems. Sind die Wähler mit den Ergebnissen der Regierungstätigkeit unzufrieden, können sie Änderungen vornehmen, ohne das System ändern zu müssen. Nur wenn mächtige Gruppen keine Chance mehr sehen, innerhalb des Systems bessere Lösungen zu erzielen, droht ein Systemwechsel. Wie rasch eine Frustration mit dem System eintritt, hängt davon ab, wie stark die Bevölkerung und vor allem mächtige Gruppen (z.B. Militär) das System grundsätzlich unterstützen oder zumindest dulden.

Alle Demokratien weisen andererseits innere Spannungen auf, die im System periodischer freier Wahlen angelegt sind. Demokratien benötigen den politischen Wettbewerb, aber gleichzeitig dessen Begrenzung durch einen Basiskonsens. Die meisten Entscheidungen müssen durch Kompromisse zwischen verschiedenen im Parlament oder in der Regierung(skoalition) vertretenen Gruppen erzielt werden. Legitimität und Wiederwahl hängen einerseits - zumindest mittelfristig - von der Leistungsfähigkeit bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme ab. Andererseits finden notwendige, aber schmerzhafte Lösungen, wenn deren positive Wirkungen sich frühestens nach den nächsten Wahlen zeigen, nicht die notwendige Unterstützung der Mehrheit bzw. werden aus Angst vor Stimmenverlusten nicht umgesetzt.

In Ostmitteleuropa waren die Reformeliten nach 1989 dank des Vertrauens oder der Passivität der Bevölkerung in der Lage, eine kurzfristig sehr kostspielige Transformationsstrategie durchzusetzen. Die anschließenden Regierungswechsel zu den Reformkommunisten in Ungarn und Polen brachten keinen Strategiewechsel, sondern nur eine leichte Abschwächung der Strategie. In Tschechien wies sie von vornherein geringere soziale Kosten auf, sie hat aber selbst dort der Regierung Klaus die Mehrheit gekostet. Der Wahlerfolg der tschechischen Sozialdemokraten ist u.a. auf die Ängste der Wähler bezüglich ihrer sozialen Sicherung zurückzuführen. Nur in der Slowakei traten die Transformationslasten hinter der nationalen Frage und der Persönlichkeit Meciars zurück. Setzt sich der seit 1994 spürbare Aufschwung fort, so könnten von den Wachstumserwartungen her die jetzigen Regierungen stabil bleiben oder die liberalen Reformer wären ex post gerechtfertigt und eine wählbare Alternative.

Dominieren aber die Verunsicherung und Verteilungskonflikte trotz Wachstum oder geht gar das Wachstum zurück, so kommen die Regierungen unter stärkeren Interventionsdruck. Soweit liberale und sozialdemokratische (reformkommunistische) Alternativen schon erschöpft sind, drohen populistische und/oder autoritär-nationalistische Kräfte. Dabei sind die Möglichkeiten der Regierungen, durch Leistung und Erfolge Legitimität zu gewinnen, objektiv beschränkt. Insbesondere außenwirtschaftliche Zwänge wie Schulden, Defizite und die Erhaltung von fragilen Standortvorteilen schränken die Handlungsspielräume ein. Dies gilt vor allem für Ungarn mit seiner extrem hohen Auslandsverschuldung, aber in abnehmendem Umfang auch für Polen, die Slowakei und Tschechien. Internationale Institutionen wie die EU, der IWF und die Weltbank vermitteln den Anpassungsdruck der Märkte zusätzlich auf politischen und diplomatischen Wegen.

Die immer ungleichere Einkommensverteilung schafft in Verbindung mit der durch Sparzwänge beschränkten Sozialpolitik besondere Legitimationsprobleme für die sozialdemokratischen Regierungen der Reformkommunisten. Sie müssen den immer breiteren Spagat zwischen ihren beiden Wählergruppen, den Reformverlierern und den neureichen Vertretern der alten Nomenklatura, bewältigen. So erreichen die ungarischen Sozialisten ihre höchsten Prozentsätze in den sozialen Gruppen der halbqualifizierten Arbeiter und der Topmanager, von denen je 50 Prozent MSZP wählen.

Ein Ausbau sozialer Sicherungs- und Transfersysteme für die betroffenen Gruppen (Arbeitslose, Rentner etc.) und Regionen scheitert an den hohen Schulden und Haushaltsdefiziten. In Ostmitteleuropa ist daher eher ein Umbau des Sozialstaats mit starken Abbauaspekten zu beobachten. Nicht nur sind Umfang und Höhe der Transfereinkommen sehr bescheiden, auch viele Systeme direkter Versorgung (z.B. Wohnung, Gesundheitswesen) erfahren Reformen, Verteuerung und/oder Krise. Insofern ähnelt die Lage Ostmitteleuropas der in Westeuropa, wo der Sozialstaat auch mit den Folgen dauerhafter Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Verarmung überfordert ist. Die Ostmitteleuropäer folgen angesichts dieser Krise des Wohlfahrtsstaates im Westen stärker Modellen einer Sockelsicherung mit individuellen Zusatzversicherungen.

Der Verlust der sozialen Sicherheit wird verschärft durch den zusätzlichen Verlust der persönlichen Sicherheit angesichts steigender Kriminalität. Die schlecht bezahlte und schlecht ausgerüstete Polizei ist in einer relativ schwachen Position und erfährt in einer atomisierten Gesellschaft keine ausreichende Unterstützung.

Im Ergebnis ähnelt das gesellschaftliche Resultat der Transformation voraussichtlich einer Mischung aus der Zukunft der reichen Länder mit ihren überlasteten Sozialsystemen, Massenarbeitslosigkeit und Zwei-Drittel-Gesellschaft und der Gegenwart armer Länder mit großen informellen Sektoren und klientelistischen Strukturen. Dieses Ergebnis trifft aber eine Bevölkerung, die weder die dicken Vermögenspolster der reichen noch die niedrigen Erwartungshaltungen der armen Länder, sondern die Erfahrung einer bescheidenen Basissicherung in der kommunistischen Planwirtschaft und die Erwartung eines raschen Aufstiegs in den Lebensstandard der reichen Länder hat.

Ob und wie sehr das daraus entstehende Potential systemkritischer Kräfte in Ostmitteleuropa tatsächlich destabilisierend wirkt, hängt u.a. von der Struktur der politischen und sozialen Bruchlinien ("cleavages") in den ostmitteleuropäischen Ländern ab. Kreuzen sich die Bruchlinien, so können sich wechselnde politische Koalitionen bilden. Kumulieren und vertiefen sie sich, weil immer die gleichen gesellschaftlichen Gruppen jeweils auf einer Seite der unterschiedlichen Bruchlinien stehen, so könnte es tendenziell zu einer großen Polarisierung und Lagerbildung in Gesellschaft und Politik kommen.

Die internen Probleme werden durch äußere mitverursacht bzw. ergänzt:

Zwar droht keinem der ostmitteleuropäischen Länder ein militärischer Konflikt mit einem Nachbarn. Es gibt auch keine Territorialkonflikte im engeren Sinne. Aber sie grenzen an relativ instabile Länder in Osteuropa (Belarus, Ukraine), und es gibt insbesondere in Ungarn und in der Slowakei Minderheiten, deren Status potentiell Sprengstoff bietet. Deutliches Zeichen für das Sicherheitsbedürfnis der Länder, vor allem gegenüber Rußland, ist ihr Wunsch, der NATO beizutreten.

Die wirtschaftliche (und damit soziale) Entwicklung hängt zunehmend von außenwirtschaftlichen Faktoren ab, insbesondere vom Handel mit den westlichen Industrieländern, ausländischen Investitionen und Krediten, von der Wechselkursentwicklung und - in geringerem Maße - der Möglichkeit zur Migration in Hochlohngebiete. Zur langfristigen Sicherung der damit verbundenen Chancen streben die ostmitteleuropäischen Länder den EU-Beitritt an.

In der öffentlichen Meinung Ostmitteleuropas werden aber auch die außenwirtschaftlichen Einflüsse für viele Transformationskosten verantwortlich gemacht. Entsprechend fordern manche extreme Gruppen Beschränkungen und/oder Diskriminierung ausländischer Wirtschaftsaktivitäten ("gegen den nationalen Ausverkauf"). Die Mehrheit fordert eine stärkere Berücksichtigung eigener Werte und Traditionen statt der Kopie westeuropäischer Modelle.

Während einerseits die größere Auslandsabhängigkeit Unsicherheitsgefühle stärkt, könnte andererseits eine Integration in westliche internationale Organisationen, insbesondere ein EU- und NATO-Beitritt, einen Anker für die Festigung von Demokratie, Marktwirtschaft und Westorientierung bieten. Extreme Gruppen in Ostmitteleuropa lehnen einen Beitritt ab, da er Abhängigkeiten verfestigt. Reformorientierte Kräfte wollen einen raschen Beitritt, um die Transformationsfortschritte zu stabilisieren.

Im großen und ganzen haben sich ab 1993 (nach der tiefen Rezession) bisher außenpolitische, außenwirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und ökonomische Prozesse in Ostmitteleuropa gegenseitig positiv verstärkt. Erfolge in einzelnen Sektoren kompensierten die wenigen Defizite in anderen, bzw. wirkten als Ventil für Probleme (z.B. Machtwechsel als Ventil für Unzufriedenheit angesichts wirtschaftlicher Probleme). Aber die politischen Wahlmöglichkeiten im demokratischen Spektrum könnten mit der Enttäuschung zuerst über die Liberalen und danach über die Sozialdemokraten auch schon erschöpft sein.

Wie nah an möglichen Teufelskreisen negativer Rückkoppelung der bisherige positive Rückkoppelungsprozeß verläuft, zeigt sich in Ostmitteleuropa am ehesten am Grenzfall Slowakei, der immer wieder "umzukippen" droht. Die Slowakei teilt mit vielen neu entstandenen Ländern im ehemaligen Jugoslawien und in der früheren Sowjetunion eine empfindliche nationale Identität. Mit ihr reibt sich die wirtschaftliche Krisenerfahrung, die nicht nur dem Systemwechsel, sondern auch tschechischer Berechnung zugeschrieben wird. Hinzu kamen für die Slowaken schwer verständliche Schwierigkeiten mit dem ungarischen Nachbarn. Subjektiv empfundener Druck der Außenwelt und Unsicherheit über die Entwicklung im Inland ließen die Wähler mit Vladimir Meciar eine starke Führungspersönlicheit wählen, die Schutz und Orientierung zu versprechen schien, aber auch ihre Gefühle teilte und verstärkte. Sein autoritärer Stil verschärfte die Konflikte im Innern und gefährdete die Anerkennung von außen.

Die Slowakei ist (noch?) nicht umgekippt. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft überraschend gut. Die Regierung hat die Privatisierung zur Bereicherung ihr nahestehender Unternehmer genutzt. Die Regierungskoalition mit zwei kaum als demokratisch zu bezeichnenden Partnern aus der linken und rechten extremen Ecke schadet zwar dem demokratischen Image der Slowakei durch bedenkliche Gesetze (z.B. Staatssicherheit, Regionalgliederung), Maßnahmen (z.B. Aufkauf oppositioneller Zeitungen durch regierungstreue Unternehmen) und Skandale (z.B. Entführung des Präsidentensohns). Außenpolitisch liebäugelt sie gelegentlich mit einer Brückenrolle zwischen Ost und West, die sich u.a. in einer engeren Zusammenarbeit mit Rußland ausdrückt. Aber es wäre übertrieben, die Slowakei nicht mehr als Demokratie zu bezeichnen.

Aber ein mögliches Szenario der Entdemokratisierung läßt sich vor diesem Hintergrund skizzieren: Ein starker Regierungschef könnte in Ostmitteleuropa versuchen, den innenpolitischen Gegner durch geschickte Nutzung seiner Macht und durch graduelle Aushöhlung der Demokratie zu schwächen. Die Tendenz ist grundsätzlich schon als Gefahr in präsidentiellen Systemen angelegt, da sie dazu neigen, die Politik zu personalisieren und zu polarisieren. Zersplitterung kann gerade die Folge im Lager des Präsidenten sein (z.B. in der polnischen Rechten 1994 oder in der slowakischen HZDS am Ende der ersten Regierung Meciar), was den Präsidenten möglicherweise zu noch stärker autoritären Maßnahmen greifen läßt, um die Schwächung der eigenen Basis zu kompensieren. Ein autoritärer Politiker kann sich auf die auch in Ostmitteleuropa verbreitete Hoffnung stützen, ein starker Mann löse die Probleme besser als Parlamente und Wahlen (Zustimmung 16% in Tschechien, 24% in der Slowakei, 18% in Ungarn, 35% in Polen).

Kritik aus dem Ausland vertieft den Konflikt im Innern durch nationalen Schulterschluß der "Loyalisten" und den Ausschluß der Opposition als "Nestbeschmutzer". Wirtschaftliche Schwierigkeiten verschärfen sich durch die Zurückhaltung ausländischer Investoren und Handelspartner, denen die Regierung dann die Schuld an der Krise gibt. Es öffnet sich ein Teufelskreis von wirtschaftlichen und sozialen Problemen und autoritären Lösungsversuchen, die das Land international weiter isolieren.

Eine spezifische Variante dieses Szenarios begänne mit dem Wahlsieg einer Partei oder Bewegung, die nicht nur eine autoritäre Führungspersönlichkeit, sondern auch ein entsprechendes Programm aufweist. Hintergrund und Ursache des Erfolgs einer solchen Partei könnte die Ausrichtung politischer Bruchlinien sein, bei der sich wirtschaftliche, soziale, regionale und kulturelle Brüche zu einer Gesellschaftsspaltung vertiefen. Die siegreiche Partei würde dann das Verliererlager mit seinen wahrscheinlich marktfeindlichen, national-xenophobischen Werten und Meinungen organisieren.

Solche Gruppierungen gibt es in Ostmitteleuropa; sie haben bisher kaum mehr als 10% der Stimmen errungen - meist deutlich weniger. Ihre Programmatik verbindet links- und rechtsextreme Elemente von Auslandsfurcht und Staatsstärke. Beispiele für mögliche Kristallisationskerne solcher Bewegungen wären z.B. in Polen die "Partei X" von Tyminski, in Tschechien die Nationalisten von Sladek, in der Slowakei die Nationalisten und die Arbeiterpartei von Luptak (beide z.Z. in der Regierungskoalition), in Ungarn Csurka's MIEP ("Wahrheit und Leben") oder Pozsgay's Nationaldemokratischer Bund. Daneben gibt es noch orthodoxe kommunistische Gruppen und Parteien, vor allem in Tschechien und - deutlich schwächer - in Ungarn.

Ein solcher Wahlsieg wäre derzeit unwahrscheinlich, aber er könnte eine mögliche Reaktion der Wähler auf eine Krisenverschärfung bei gleichzeitiger Enttäuschung mit den zuletzt gewählten Reformkommunisten sein. In Ländern mit relativ niedriger Wahlbeteiligung wie Ungarn und Polen ist das populistisch-national-autoritäre Wählerpotential schwer abzuschätzen.

Gegen jedes dieser Szenarien wäre eine engere Westintegration die beste Vorbeugung. Sowohl die Reformeliten in Ostmitteleuropa (einschließlich der sozialdemokratischen Reformkommunisten) als auch die Außenpolitiker in Westeuropa sehen in einem EU-Beitritt einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung dieser Länder. Die Kandidaten unterstreichen die Dringlichkeit ihres Wunsches mit der weitgehenden Anpassung an die Forderungen der EU nach Übernahme des acquis communautaire und mit dem Verzicht auf ein Transfer- und Schutzniveau, wie es in früheren Erweiterungsrunden üblich war. Aber sie wollen zu Recht ihren dringlichen Aufnahmewunsch in EU und/oder NATO nicht mit derartigen Risikoszenarien politisch begründen; denn insbesondere die EU nimmt nur schon stabile Demokratien auf und keine Länder in der ersten schwierigen Phase der Demokratisierung, wie das Beispiel Portugal und Spanien zeigt, die trotz früher Anträge erst 1985 beitraten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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