S O Z I A L I S T I S C H E

M I T T E I L U N G E N

News for German Socialists in England

No. 88 / 89

Juli - August - 1946



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Die neue SPD

Zehn bis zwoelf Monate sind vergangen, seitdem die wiedererstandene Sozialdemokratie in Berlin und in den Westzonen Deutschlands ihren Wiederaufbau durchfuehren konnte. Ueber die Arbeit der SPD waehrend des Krieges, ihre Wiedergruendung, ihre Aufgaben und Ziele, die besonderen Schwierigkeiten der Parteiarbeit in Deutschland und die Notwendigkeit, im Interesse des europaeischen demokratischen Sozialismus zu einer internationalen Zusammenarbeit zu kommen, berichten die nachfolgenden Seiten dieser "SM".

Ausser den ersten lokalen Wahlen in Gemeinden Sueddeutschlands in den vergangenen Monaten, haben nun am 30. Juni die ersten Wahlen zu den jeweiligen Verfassunggebenden Landesversammlungen in Bayern, Gross-Hessen und Wuerttemberg-Baden stattgefunden, und in der Britischen Zone ruestet die Partei zu den Gemeindewahlen im September 1946.

Bei einer Wahlbeteiligung von 71-72% konnten folgende Wahlergebnisse festgestellt werden:

Bayern: Christl. Dem. [gemeint: Christlich-Soziale] Union 1.584.679 Stimmen (58,7%) und 109 gewaehlte Abgeordnete; Sozialdemokratische Partei 785.538 Stimmen (28,9%) und 51 Abg.; Kommunistische Partei 144.676 Stimmen (5,3%) und 8 Abg.; Frei[e] Demokrat[ische] Partei 68.628 Stimmen (2,5%) und 4 Abg.; [Wirtschaftliche] Aufbau[-Vereinigung] 137.525 Stimmen (5,1%) und 8 Abg.; insgesamt: 180 Abgeordnete.



Gross-Hessen


Wuerttemberg-Baden

550.342

37,2%

34 Abg.

CDU[1]

474.878

40,5%

41 Abg.

655.090

44,3%

43 Abg.

SPD

374.739

33,2%

32 Abg.

144.272

8,8%

7 Abg.

KPD

116.521

10,0%

10 Abg.

120.346

8,1%

6 Abg.

Lib.D.P.[2]

195.422

16,3%

17 Abg.

8.323

0,6%

--

Arb.P.[3]

--

--

--



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90 Abg.


 

 

--------
100 Abg.


Die SPD hat ihre Stimmenzahl gegenueber 1933 steigern koennen.

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Im Ausland besteht vielfach der Eindruck, die anti-hitlerischen Kraefte in Deutschland seien waehrend des Krieges nicht aktiv gewesen. Es ist richtig, dass die Widerstandsbewegung in den uebrigen europaeischen Laendern wesentlich staerker und aktiver war, aber es muss beruecksichtigt werden, dass die deutschen Anti-Hitler-Kraefte es wesentlich schwerer als sie hatten: Das Moment der nationalen Einheit und des Widerstandes gegen den fremden Eroberer fiel fort; die deutschen sozialdemokratischen Kraefte gingen in den Krieg bereits geschwaecht durch 6 Jahre illegalen Kampfes und mit der Erinnerung an die ruhmlose Niederlage 1933. Und schliesslich standen sie einem Gestapo-Apparat gegenueber, der im Innern besser ausgebaut und mehr auf nationalsozialistische Kraefte als Zutraeger gestuetzt war als in den eroberten Laendern.


Trotz dieser Erschwernisse hat es illegale sozialdemokratische Gruppen in Deutschland gegeben, ueber die erst nach und nach Einzelheiten bekannt werden. Es ist sicher nicht Zufall, dass der erste Mensch, der wegen illegalen Abhoerens auslaendischer Sender gehaengt wurde, ein deutscher Sozialdemokrat war.


Die grosse Widerstandsbewegung, die zu den Ereignissen des 20. Juli 1944 gefuehrt hat, ist ein weithin sichtbarer Beweis fuer die Aktivitaet der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen die NSDAP, auch waehrend des Krieges. An diesem Friedensputsch waren die deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaftler als bei weitem staerkste der zivilen Kraefte beteiligt, und sie haben die meisten Opfer bringen muessen.


Dass die Haltung der politisch klarsichtigen Arbeiterschaft waehrend des Krieges weit staerker als die aller anderen Bevoelkerungsschichten gegen Hitler gerichtet war, ergibt sich aus den Feststellungen, die gegenwaertig bei der Entnazifizierung in Deutschland getroffen werden und bei denen sich herausstellt, dass die Arbeiter trotz ihres grossen zahlenmaessigen Uebergewichtes doch nur einen geringen Bruchteil derjenigen bilden, die zu entnazifizieren sind.


Wenn ueber die Haltung der SP waehrend des Krieges berichtet wird, kann auch nicht uebersehen werden, was die sozialdemokratische Emigration waehrend des Krieges geleistet hat. Als einzige aller deutschen Parteien hat die Sozialdemokratie von Beginn an den Krieg gegen Hitler aktiv unterstuetzt und die Niederlage dieses Regimes gefordert. Die Sozialdemokratie wollte in diesem Kriege als unabhaengige Partnerin an der Seite der Vereinigten Nationen stehen. dass es nicht zur aktiven und offiziellen Zusammenarbeit gekommen ist, ist nicht unsere Schuld. Trotzdem ist illegale Arbeit auch von draussen geleistet worden. Deutsche Sozialdemokraten haben sich mit ihren Kraeften fuer den Kampf zur Verfuegung gestellt und haben zu ihrem Teil auch in den Widerstandsbewegungen in fast allen europaeischen Laendern Seite an Seite mit den franzoesischen, belgischen, hollaendischen, daenischen und anderen Genossen gekaempft.

Die Sozialdemokratie hat vielerorts beim Vormarsch der Alliierten aktiv bei der Uebergabe mitgewirkt und in nicht wenigen Faellen durch ihr Eingreifen Blutvergiessen vermieden und die von den Nationalsozialisten geplanten Sprengungen verhindert (die Kieler Dockarbeiter, die die Nazis 1945 an der Sprengung der Docks verhinderten [!], sind die gleichen, die jetzt die Anlagen demontieren, um eine Sprengung durch die Alliierten zu verhueten und fuer die Friedensproduktion unentbehrliches Material zu retten.

Die Sozialdemokraten haben von Beginn des Einmarsches an ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den alliierten Truppen gezeigt und es manchmal bitter empfunden, dass in den westlichen Zonen die Geistlichkeit und das Buergertum und in der Ostzone die Kommunisten zur Mitarbeit heran- und den Sozialdemokraten vorgezogen wurden.


Der Wiederaufbau der Parteiorganisation erfolgte sofort nach der Wiederzulassung der Partei durch die alliierten Militaerbehoerden, und zwar im Juni 1945 in Berlin und der Ostzone und im September 1945 in den Westzonen. Mit den Vorbereitungen zum Wiederaufbau war freilich schon begonnen worden, als die Kampfhandlungen noch im Gange waren. Dr. Schumacher leitete bereits im April 1945 in Linden die ersten Arbeiten und hielt vor den hannoverschen Funktionaeren am 6. Mai 1945 in Hannover seine erste grosse Rede. Der Aufbau der Parteiorganisation vollzog sich in dem Masse, in dem die Militaerbehoeren das zuliessen, zum Teil unter halben [!] oder illegalen Bedingungen. Er war zum Teil gehemmt durch einengende Vorschriften (Aufbau der Organisation nur auf Orts- und Kreisbasis. Noch heute gibt es Kreise in der Britischen Zone, in denen die SPD nicht offiziell zugelassen ist.)

Im Osten hat die Sozialdemokratie durch das Vorgehen der Kommunisten und der sowjetischen Besatzungsmacht ihre Selbstaendigkeit aufgeben und gegen den Willen von 80 bis 95% ihrer Mitglieder die Fusion mit der KP eingehen muessen. Diese Fusion, mit der die Sozialdemokratische Partei voellig ihres Einflusses beraubt ist, wurde erzwungen

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durch Terror und Befehl. Sozialdemokraten, die sich gegen diese Gleichschaltung zur Wehr setzten, wurden durch Verhaftung, Redeverbot, Misshandlung und Ueberfuehrung in Konzentrationslager ausgeschaltet.


Im Westen hat die Sozialdemokratische Partei einen stetigen Aufstieg genommen. Es sind jetzt ueber 500.000 Mitglieder in der SPD in den drei westlichen Zonen. Die Organisation ist eingeteilt in 24 Parteibezirke, mehrere hundert Unterbezirke und mehrere tausend Ortsvereine. Gegenwaertig fuehrt die Sozialdemokratische Partei in Berlin auf Wunsch der alliierten Militaerbehoerde noch eine gesonderte Organisation. Sie wird aber, sobald die Genehmigung dazu gegeben wird, als Parteibezirk in die Gesamtorganisation eingegliedert.


Vom 9.-11. Mai 1946 hat in Hannover ein Parteitag stattgefunden, der von 258 gewaehlten Delegierten aus allen drei Westzonen sowie von 12 Gastdelegierten aus Berlin besucht wurde. Auf diesem Parteitag hat sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands rekonstituiert, sich ein Organisationsstatut gegeben, die leitenden Koerperschaften gewaehlt und in einer programmatischen Kundgebung die Linien der Politik der Partei fuer die naechste Zeit festgelegt.


Die SPD hat einen Parteivorstand gewaehlt, mit Dr. Kurt Schumacher als 1. Vorsitzenden, 4 besoldeten und 20 unbesoldeten weiteren Parteivorstandsmitgliedern. Daneben wurde eine aus 9 Personen bestehende Kontrollkommission gewaehlt und ein Parteiausschuss gebildet. Die Partei verfuegt in den westlichen Zonen ueber mehr als 20 woechentlich oder monatlich erscheinende Mitteilungsblaetter und in der Britischen Zone ueber 11 eigene Zeitungen, waehrend sie in der Amerikanischen und der Franzoesischen Zone durch Vertrauensmaenner an sogenannten Gemeinschaftszeitungen[4] beteiligt ist.


Bisher haben nur Wahlen in der Amerikanischen Zone stattgefunden, die gezeigt haben, dass die Stimmenzahl der Sozialdemokraten heute groesster als vor 1933 ist. Sie ist in dem Lande Gross-Hessen die bei weitem staerkste Partei, waehrend sie in Bayern und Wuerttemberg-Baden an zweiter Stelle steht.

Die neue deutsche Sozialdemokratie hat ein endgueltiges Programm im Sinne des alten Erfurter Parteiprogrammes[5] oder ihrer Nachfolger noch nicht aufgestellt und ist damit der Praxis der Sozialdemokratischen Parteien der anderen Laender gefolgt. Die Situation und die Voraussetzungen sind noch zu unuebersichtlich, um ein endgueltiges wissenschaftlich fundiertes Programm zu erarbeiten. Das muss der Zukunft vorbehalten bleiben.


Die SPD wird die programmatische Arbeit sobald als moeglich aufnehmen. Auf dem Parteitag im Mai 1946 wurde eine Kundgebung beschlossen, die ein vorlaeufiges Programm ersetzen soll und die wir im Wortlaut in den vorliegenden SM veroeffentlichen.

Wir sind ueberzeugt, dass das heutige Deutschland nicht mehr in der Lage ist, eine privatkapitalistische Profitwirtschaft zu ertragen. Wir erstreben deshalb eine sozialistische Wirtschaft durch planmaessige Lenkung und gemeinwirtschaftliche Gestaltung. Wir wollen die Sozialisierung, die Ueberfuehrung der geeigneten Industrien in das Eigentum der Allgemeinheit und eine grundlegende Agrar- und Bodenreform.


Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt mit ihrer Wirtschaftspolitik die oekonomische Befreiung der menschlichen Persoenlichkeit.


Die deutsche Sozialdemokratie sieht ihre politische Aufgabe darin, die umstuerzenden Veraenderungen des gesellschaftlichen Seins, die unvermeidlich und notwendig sind, in das politische Bewusstsein der Massen zu uebertragen und die Mehrheit des Volkes fuer den Sozialismus zu gewinnen.


Wir wollen dieses Ziel durch eine starke und kampfbereite Demokratie erringen, die wir auch auf dem Gebiet der Staats- und Verwaltungspolitik erstreben und die getragen ist von der Mitbestimmung und Mitverantwortung aller Buerger. Wir wollen eine Republik mit weitgehender Dezentralisation der Selbstverwaltung.


Die deutsche Sozialdemokratie anerkennt die Pflicht zur Wiedergutmachung im Rahmen der wirtschaftlichen Moeglichkeiten des deutschen Volkes. Sie ist fuer die Bestrafung der Schuldigen und der Kriegsverbrecher.


Die Sozialdemokratie erstrebt die Eingliederung des neuen Deutschland in die neue internationale Organisation der Voelker. Deutschland braucht die wirtschaftliche, soziale und politische Hilfe der demokratischen Nationen.

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Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt die Vereinigten Staaten von Europa, eine demokratische und sozialistische Foederation europaeischer Staaten. Sie will ein sozialistisches Deutschland in einem sozialistischen Europa.

Der demokratischen Wiedergeburt des neuen Deutschlands stehen grosse Schwierigkeiten entgegen. Die Sozialdemokratische Partei als die wichtigste Potenz fuer den demokratischen Gedanken in Deutschland leidet verstaendlicherweise in besonderem Masse unter diesen Schwierigkeiten.


Eine der ersten ist die katastrophale Ernaehrungslage. Die Rationen sind in Teilen des Landes geringer, als sie in den Konzentrationslagern des 3. Reiches waren. Die Widerstandskraefte der Bevoelkerung, vor allem der Kinder und der Alten, sind sehr geschwaecht, und die Sterblichkeit ist wesentlich gestiegen. Die Ernaehrungslage ist sehr unterschiedlich. Waehrend die grossstaedtische und ein Teil der Fluechtlings-Bevoelkerung Hunger leiden, gibt es auf dem Lande in vielen Orten noch friedensmaessige Versorgung. Die Sozialdemokratische Partei draengt seit langem auf eine gerechte Verteilung. Sie kann sie nicht erreichen, weil die landwirtschaftliche Verwaltung noch sehr stark in den Haenden der von den Nazis aufgebauten Organisation liegt. Aber auch eine gerechte Verteilung der vorhandenen Bestaende wuerde nicht ausreichen, um die Bevoelkerung mit genuegend Lebensmitteln zu versorgen. Deutschland war stets ein Lebensmitteleinfuhrland. Durch die Abtrennung der agrarischen Ueberschussgebiete im Osten ist der Einfuhrbedarf groesser geworden. Gleichzeitig ist die landwirtschaftliche Produktion in den verbliebenen Restgebieten gegenueber frueher zurueckgegangen. Besonders die Britische Zone, die stets ein grosses Zuschussgebiet war, leidet unter der Ernaehrungskrise.


Die erforderliche Lebensmitteleinfuhr, auf die wir auch in Zukunft angewiesen sind, macht eine intakte Wirtschaft und eine entsprechende Ausfuhr von Industrieerzeugnissen notwendig. Die deutsche Industrie ist jedoch gegenwaertig infolge der Uneinigkeit der Siegermaechte lahmgelegt. In Deutschland wird gegenwaertig etwa 10% der Stahlmenge erzeugt, die im letzten Friedensjahr produziert wurde. Die Lahmlegung der Industrie wird verstaerkt durch die Zonengrenzen und die buerokratische Maschinerie der deutschen und alliierten Verwaltungen. Besondere Sorge bereitet uns die Vernichtung volkswirtschaftlicher Werte und industrieller Anlagen. Wir fordern die voellige Abruestung Deutschlands, aber wir glauben, dass das nicht durch sinnlose Zerstoerung von Werten geschehen sollte, die fuer Friedenszwecke lebenswichtig sind.


Ein dritter Hauptpunkt ist das grosse Wohnungselend, das verstaerkt wird durch den Fluechtlingsstrom und vorderhand noch keine Linderung durch Ersatzbauten oder Reparaturen groesseren Ausmasses erhaelt. Eine groessere Freizuegigkeit, besonders fuer Reparaturen, wuerde zur Linderung, wenn auch nicht zur Behebung der Wohnungsnot beitragen.


Das Fluechtlingselend ist eine unserer drueckendsten Sorgen. Die Britische Zone ist ueberfuellt, trotzdem muessen noch mehr als 1 Million Menschen aufgenommen werden. Sie hat heute schon fast 50% mehr Einwohner als zu normalen Zeiten. Die Menschen sind koerperlich und geistig am Ende, und die Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die sie ausstrahlen, uebertraegt sich auf die Allgemeinheit.


Es gibt sehr starke Kraefte in Deutschland, die die notwendige radikale Entnazifizierung bisher verhindert haben. Es haben sich besonders in der Polizei neue Gefahrenherde gebildet, und auch in der Wirtschaft ist der Typ des reaktionaeren Funktionaers noch die Regel, waehrend in der landwirtschaftlichen Verwaltung kaum eine wesentliche Veraenderung gegenueber dem Zustand vor dem Zusammenbruch erfolgt ist. Es sind nicht so sehr die Spitzen der Instanzen, die meist - als zu sehr mit dem Regime verstrickt - entlassen wurden, als vielmehr der mittlere und untere Verwaltungskoerper. Wir haben durchaus nicht immer Erfolg mit unseren Bemuehungen gehabt, die alliierten Stellen von der Notwendigkeit der radikalen Entnazifizierung zu ueberzeugen.


Der Sozialdemokratie ist es gegenwaertig nur in sehr begrenztem Umfange moeglich, sich wirklich politisch zu entfalten. Die offizielle Bevormundung, die Unmoeglichkeit, Exekutivgewalt zu erhalten und Massnahmen der Militaerregierung (insbesondere Verbot der sozialistischen Jugendbewegung, Verbot ausreichender politischer Betaetigung fuer grosse Kategorien von Beamten, die Durchfuehrung der Verwaltungsreform usw.) erschweren unsere Arbeit.


Noch schwerwiegender sind jedoch die Erschwernisse im Osten. Dort ist durch die Gleichschaltung der Sozialdemokratie, die Bevorzugung der Kommunistischen Partei in Politik, Verwaltung und oeffentlichem Leben eine untragbare Situation entstanden, die auch weit nach Westdeutschland wirkt. (Die Haelfte aller deutschen Zeitungen steht heute unter kommunistischem Einfluss.)

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Die Darstellung der Schwierigkeiten machten wir abschliessend mit dem Hinweis darauf, dass wir noch immer - mehr als 1 Jahr vor dem Ende des Nazi-Regimes - keinerlei Verbindung mit der Aussenwelt haben und dass wir bis heute noch nicht wieder im Besitz auch nur eines Teiles des uns von den Nationalsozialisten geraubten Eigentums der Partei und ihrer Nebenorganisationen sind.

Das Bild waere unvollstaendig, wenn wir nicht hinzufuegen wuerden, dass wir sehr wohl die ausserordentlichen Schwierigkeiten psychologischer, politischer und materieller Art sehen, die einer Verbesserung der Bedingungen entgegenstehen.


Wir wissen, was Deutschland, das nationalsozialistische Deutschland, der Welt angetan hat, aber auch wir deutschen Sozialdemokraten gehoeren zu den Opfern. Wir sind unseren Freunden in der internationalen Arbeiterbewegung dankbar und auch dankbar der englischen Arbeiter-Regierung, der wir im Interesse des Friedens und des Sozialismus baldigen und vollen Erfolg in ihren Bestrebungen wuenschen.


Wir fuehlen uns verbunden mit der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung, als deren Glied wir uns betrachten.


Wir legen Wert darauf, in offizielle Verbindung mit internationalen sozialistischen Organisationen zu kommen, nicht nur, weil wir darin unsere internationale Verbundenheit zum Ausdruck bringen wollen, sondern auch, weil es uns als Beweis dafuer wichtig ist, dass wir nicht nur mit einer oder zwei westlichen Regierungen in guten Beziehungen stehen, sondern mit den demokratischen Sozialisten aller Laender.


Der Kampf gegen den Nationalismus in Deutschland und fuer die Durchfuehrung der Sozialisierung steht erst am Anfang. Wir sind uns klar ueber die Schwere. Wir glauben, dass es fuer die gemeinsame Sache von Nutzen waere, wenn wir wieder in engere Verbindung mit der Internationalen Arbeiterbewegung kommen wuerden.




Wille und Weg der deutschen Sozialdemokratie.

[Auf dem Parteitag von Hannover am 11. Mai 1946 ein-
stimmig beschlossene programmatische Erklärung der SPD]

In der Periode zwischen zwei Weltkriegen haben ueberall die Kraefte des Finanzkapitals und der Reaktion versucht, den sozialistischen Konsequenzen der Demokratie zu entgehen. In Deutschland ist ihnen dies auf Grund der oekonomischen, historischen und geistesgeschichtlichen Bedingungen gelungen.

Mit dem Dritten Reich war durch die Zerschlagung der politischen Kraft der arbeitenden Klasse die Demokratie ausser Kurs gesetzt und durch das Fehlen demokratischer Willensbildung und Kontrolle die entscheidende Voraussetzung fuer die europaeische Katastrophe gegeben. Das Versagen des deutschen Buergertums und jenes Teils der Arbeiterbewegung, der den klassenpolitischen Wert der Demokratie nicht erkannt hatte, bildet den historischen Schuldanteil des deutschen Volkes.

Mit denselben Methoden, mit denen das Dritte Reich die Austragung der Klassengegensaetze im Innern gewaltsam unterdrueckt hatte, foerderte es den Gegensatz der Nationen untereinander. Die unvermeidliche Folge der Diktatur war der Krieg und damit der totale militaerische und politische Zusammenbruch und die Zerstoerung der bisherigen Grundlagen des wirtschaftlichen, staatlichen und kulturellen Lebens. Sie sind damit unbrauchbar fuer den Aufbau eines neuen Deutschland geworden. Oekonomisch ist die ungeheure Konzentrierung der einst kolossalen Produktionskraefte in Laehmung und Aufloesung umgeschlagen. Zustaende sind heraufgezogen, unter denen keine Klasse, kein Volk und keine Wirtschaftsform existieren koennen.

Das deutsche Volk ist in der Welt isoliert und hat die Folgen des nationalsozialistischen Eroberungskrieges und der im Krieg an den unterdrueckten Voelkern veruebten Verbrechen zu tragen.

Demgegenueber sieht die Sozialdemokratische Partei ihre Aufgabe darin, alle demokratischen Kraefte Deutschlands

im Zeichen des Sozialismus

zu sammeln. Nicht nur die politischen Machtverhaeltnisse, sondern auch ihre oekonomischen Grundlagen muessen geaendert werden. Nur eine voellige Umgestaltung gibt dem deutschen Volk die wirtschaftlichen und sozialen Lebensmoeglichkeiten und sichert die Freiheit und den Frieden.

[Spendenaufruf]

Freiwillige Spenden

Fuer die Herausgabe und Verbreitung unserer Vervielfaeltigung bitten wir Spenden an folgende Adresse zu senden:

Wilhelm Sander, 33, Fernside Avenue, London N.W.7

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I.

Das heutige Deutschland ist nicht mehr in der Lage, eine privatkapitalistische Profitwirtschaft zu ertragen und Ausbeutungsgewinne, Kapitaldividenden und Grundrenten zu zahlen. Die jetzt noch herrschenden Eigentumsverhaeltnisse entsprechen nicht mehr den sonstigen gesellschaftlichen Zustaenden und Beduerfnissen. Sie sind zu dem schwersten Hemmnis der Erholung und des Fortschritts geworden.

Der vorhandene private Grossbesitz an Produktionsmitteln und das moegliche Sozialprodukt der deutschen Volkswirtschaft muessen den Beduerfnissen aller zugaenglich gemacht werden. Der heutige Zustand, bei dem die grosse Mehrheit alles verloren hat, eine Minderheit aber reicher geworden ist, muss durch eine gerechte Gesellschaftsordnung ueberwunden werden.

Die Sozialdemokratie erstrebt eine sozialistische Wirtschaft durch planmaessige Lenkung und gemeinwirtschaftliche Gestaltung. Entscheidend fuer Umfang, Richtung und Verteilung der Produktion darf nur das Interesse der Allgemeinheit sein. Die Vermehrung der Produktionsmittel und Verbrauchsgueter ist die Voraussetzung fuer die

lebensnotwendige Eingliederung

Deutschlands in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen.

Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erfolgt auf verschiedene Weise und in verschiedenen Formen. Es gibt fuer den Sozialismus keine Einfoermigkeit und keine Unfreiheit, keinen kommandierten Kasernensozialismus, keine Uniformitaet. Es gibt keine sozialistische Gesellschaft ohne die mannigfaltigsten Betriebsarten und Formen der Produktion. Der Sozialismus will soviel Selbstverwaltung wie moeglich, unter staerkster Beteiligung der Arbeiter und Verbraucher.

II.

Die Sozialisierung hat zu beginnen bei den Bodenschaetzen und den Grundstoffindustrien. Alle Betriebe des Bergbaues, der Eisen- und Stahlerzeugung und -bearbeitung bis zum Halbzeug, der groesste Teil der chemischen Industrie und die synthetischen Industrien, die Grossbetriebe ueberhaupt, jede Form der Versorgungswirtschaft und alle Teile der verarbeitenden Industrie, die zur Grossunternehmung draengen, sind in das Eigentum der Allgemeinheit zu ueberfuehren.

Die Foerderung des Genossenschaftsgedankens, die Loesung betrieblicher Gemeinschaftsaufgaben in Handwerk, Handel und Landwirtschaft, staerkste Unterstuetzung der Verbrauchergenossenschaften sind noetig.

Der gesamte Verkehr, die neu zu gestaltende Geld- und Kreditversorgung und das Versicherungswesen sind Gegenstand sozialistischer Planung.

Eine grundlegende Agrar- und Bodenreform

ist unter Enteignung der Grossgrundbesitzer sofort einzuleiten. Die Neuuebereignung des Grossgrundbesitzes, seine Bewirtschaftung in baeuerlichem, gaertnerischem und siedlerischem Einzelbesitz oder teilweise in genossenschaftlichem baeuerlichem Gemeinbesitz ohne eine die Wirtschaftlichkeit gefaehrdende Zerstueckelung sind notwendig. Das ist die Voraussetzung der sozialen Gerechtigkeit auf dem Lande, der endgueltigen Unterbringung von mehr Menschen, einer ersten Loesung der Fluechtlingsnot, der Foerderung der Erzeugung und der Verbreiterung der Ernaehrungsgrundlage des deutschen Volkes.

Der Klein- und Mittelbetrieb in Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe und Handel hat in der von der Sozialdemokratie angestrebten Wirtschaftsordnung wichtige Aufgaben zu erfuellen und soll sich innerhalb dieser Grenzen entfalten.

Die deutsche Wohnungswirtschaft bedarf straffster oeffentlicher Lenkung. Sie ist mit den Mitteln der Gesamtheit und nicht nur von den von der Zerstoerung betroffenen Gemeinden zu betreiben. Die Wohnraumbeschaffung gehoert zu den vordringlichsten Aufgaben. In der Periode der Wohnungsnot ist der Gedanke der genuegenden Unterbringung aller und nicht die Erhaltung der Bequemlichkeit einzelner entscheidend.

Der Lastenausgleich fordert eine grundlegende, alles umfassende Finanz- und Waehrungsreform. Ein soziales Existenzminimum muss gesichert und der Massenverbrauch geschont werden. Der Lastenausgleich zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden ist so vorzunehmen, dass ein soziales Niveau ohne Privilegierte und ohne Benachteiligte entsteht.

Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt mit ihrer Wirtschaftspolitik die oekonomische Befreiung der menschlichen Persoenlichkeit. Darum ist fuer sie der Sozialismus das Programm der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der geistigen Berufe und des Mittelstandes, der Bauern und aller Menschen ueberhaupt, die von dem Ertrag ihrer eigenen Arbeit und nicht durch das Mittel der kapitalistischen Ausbeutung leben. Erst die Ueberwindung jeder Form der Ausbeutung wird den Menschen in den vollen Besitz seiner Rechte und zur vollen Entfaltung seiner persoenlichen Werte bringen.

III.

Die deutsche Sozialdemokratie sieht ihre politische Aufgabe darin, die umstuerzenden Veraenderungen des gesellschaftlichen Seins, die unvermeidlich und notwendig sind, in das politische Bewusstsein der Massen zu uebertragen und die Mehrheit des Volkes fuer den Sozialismus zu gewinnen.

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Der Weg zu diesem Ziel kann nur eine starke und kampfbereite Demokratie sein. Es gibt nur eine Demokratie. Es gibt keine buergerliche und keine proletarische Demokratie, ebensowenig wie es fuer die heutige Sozialdemokratie einen reformistischen oder revolutionaeren Sozialismus gibt. Jeder Sozialismus ist revolutionaer, wenn er vorwaertsdraengend und neugestaltend ist.

Die Demokratie ist fuer alle Schaffenden die beste Form des politischen Kampfes. Sie ist fuer uns Sozialisten ebenso eine sittliche wie machtpolitische Notwendigkeit. Die Sozialdemokratie will die freiwillige Eingliederungen aus eigener Erkenntnis mit dem Recht der Kritik ihrer Anhaenger.

Es gibt keinen Sozilismus ohne Demokratie,
ohne die Freiheit des Erkennens und die Freiheit der Kritik. Es gibt aber auch keinen Sozialismus ohne Menschlichkeit und ohne Achtung vor der menschlichen Persoenlichkeit.

Wie der Sozialismus ohne Demokratie nicht moeglich ist, so ist umgekehrt die Demokratie im Kapitalismus in steter Gefahr. Auf Grund der besonderen geschichtlichen Gegebenheiten und Eigenarten der geistigen Entwicklung in Deutschland braucht die deutsche Demokratie den Sozialismus. Die deutsche Demokratie muss sozialistisch sein, oder die gegenrevolutionaeren Kraefte werden sie wieder zerstoeren.

Der Charakter der deutschen Sozialdemokratie besteht in ihrem kompromisslosen Willen zu Freiheit und Sozialismus. Die deutsche Sozialdemokratie ist stolz darauf, dass sie die einzige Partei in Deutschland war, die unter den groessten Opfern fuer die Ideen der Demokratie, des Friedens und der Freiheit eingetreten ist. Sie ist auch heute die Partei der Demokratie und des Sozialismus in Deutschland.

Die deutsche Sozialdemokratie lehnt jeden Rueckfall in totalitaeres Denken und Handeln entschlossen ab. Im Geiste dieser Grundeinstellung wird sie eine Politik der Unabhaengigkeit und der Selbstaendigkeit gegenueber allen Kraeften des In- und Auslandes treiben und ihr Verhaeltnis zu anderen politischen Parteien regeln.

Die Sozialdemokratie begnuegt sich nicht mit der historischen Legitimation, die in der grossen Geschichte ihres Freiheitskampfes gegeben ist. Sie will ihren Anspruch als fuehrende politische Kraft in der deutschen Politik durch ihre positiven Leistungen fuer Staat und Volk und durch die Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Sachlichkeit ihrer Politik immer von neuem rechtfertigen.

IV.

Auf dem Gebiet der Staats- und Verwaltungspolitik erstrebt die Sozialdemokratie die Demokratie, die getragen ist von der Mitbestimmung und Mitverantwortung aller Buerger. Sie will

eine Republik mit weitgehender Dezentralisierung

und Selbstverwaltung.

Die deutsche Republik der Zukunft soll sich aufbauen auf Laender, die nicht in ihrer eigenen Existenz ihren hoechsten Zweck sehen, sondern die sich nur als Bausteine einer hoeheren nationalen Ordnung betrachten. Der Traeger der Staatsgewalt soll das ganze deutsche Volk sein.

Keines der heutigen Laender und keine der heutigen Provinzen duerfen sich in ihrer Existenz und in ihrem Umfang als garantiert ansehen. Es gibt keine ausreichende geschichtliche Legitimation gegenueber den Notwendigkeiten der Gegenwart.

Die Verwaltung muss von unten her reformiert werden, und die unteren Traeger des kommunalen Zusammenlebens muessen moeglichst grosse Kompetenzen haben. Das Volk, repraesentiert durch seine Parteien, bestimmt die Aufgaben und Ziele der Verwaltung. Die Beamten, Angestellten und Beamten der oeffentlichen Koerperschaften sind durch ein einheitliches Dienstrecht und durch Erhaltung ihrer Staatsbuergerrechte zu schuetzen.

Alle Staatsbuerger sind ohne Ansehen des Herkommens, des Glaubens, der Rasse oder des Geschlechts nach Massgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befaehigung und ihrer Leistungen zu den oeffentlichen Aemtern zugelassen.

Alle Buerger muessen vor dem Gesetz gleich sein. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Es darf keine Ausnahmegerichte geben.

Glaubens- und Gewissensfreiheit
fuer alle,

Trennung von Kirche und Staat. Damit wird den Kirchen und allen Weltanschauungsgemeinschaften die Moeglichkeit gegeben, in Freiheit die ihnen eigenen Aufgaben zu erfuellen. Niemand soll verpflichtet sein, seine religioese Ueberzeugung zu offenbaren.

Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sollen wieder frei sein, um das zerstoerte Kultur- und Geistesleben neu zu gestalten. Ihre Leistungen sollen dem deutschen Volk die Achtung und das Vertrauen der Welt wiedergewinnen.

Das allgemeine Schulwesen ist oeffentlich. Die Schulen sollen die Jugend frei von totalitaeren und intoleranten Anschauungen erziehen im Geist der Humanitaet, der Demokratie, der sozialen Verantwortung und der Voelkerverstaendigung. Allen Deutschen stehen die Bildungsmoeglichkeiten allein entsprechend ihrer Befaehigung offen. Sie sind unabhaengig von Bekenntnis, Staat und Besitz.

Die Freiheit der Meinungsaeusserung und der Kritik muss auch in der Freiheit der

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Presse ihren Ausdruck finden.

Es ist ein einheitliches Arbeitsrecht zu schaffen. Jedem Buerger soll die Moeglichkeit gegeben werden, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, hat er Anspruch auf Lebensunterhalt. Jedem wird die gleiche Moeglichkeit fuer seine Berufswahl und Berufsausbildung gegeben. Jedermann hat das Recht und die Pflicht, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu erwerben.

Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Foerderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist fuer jeden und fuer alle Berufe zu gewaehrleisten. Zur Vertretung der Interessen der Arbeitenden in den Betrieben sind Betriebsraete mit weitgehenden Rechten zu bilden.

Das Fuersorge- und Gesundheitswesen ist eine oeffentliche Angelegenheit. Zur Erhaltung der Gesundheit, zum Schutz der Mutterschaft, zur Vorsorge gegen wirtschaftliche Folgen von Alter und Unfaellen soll eine einheitliche Sozialversicherung geschaffen werden, bei der die Versicherten massgebend mitzuwirken haben. Jugendfuersorge und Jugendwohlfahrt sind oeffentliche Aufgaben. Die Opfer des Krieges und der Diktatur haben Anspruch auf ausreichende Hilfe.

V.

Die deutsche Sozialdemokratie anerkennt die Pflicht zur Wiedergutmachung im Rahmen der wirtschaftlichen Moeglichkeiten des deutschen Volkes. Sie ist fuer die Bestrafung der Schuldigen und Kriegsverbrecher.

Die Sozialdemokratie erstrebt die Eingliederung des neuen Deutschland in die neue internationale Organisation der Voelker. Deutschland braucht die wirtschaftliche, soziale und politische Hilfe der demokratischen Nationen.

Das neue Deutschland leidet heute nicht nur unter der Erbschaft des Dritten Reiches, sondern auch unter der Tatsache, dass es keine gemeinsame Politik der Besatzungsmaechte gegenueber Deutschland gibt. Die deutsche Sozialdemokratie wartet auf den Tag, an dem eine Klaerung der Probleme in Deutschland und der Welt eine einheitliche Politik der Besatzungsmaechte gegenueber Deutschland ermoeglichen und die Politik der Besatzungszonen beenden wird.

Die Politik der Wirtschaftsverstuemmelung, der Menschenversklavung und der Massenausrottung, die die Politik der nationalsozialistischen Diktatur war, darf im Zeitalter der Demokratie keine Geltung haben.

Wie die Demokratie nicht gesichert ist ohne die oekonomische Befreiung der Menschen, so ist sie ebenso unmoeglich ohne die nationale Freiheit des Volkes. Die deutsche Sozialdemokratie erhebt den Anspruch auf die Erhaltung Deutschlands als eines nationalen, staatlichen und wirtschaftlichen Ganzen. Nur wenn es uns gelingt, Deutschland als eine Einheit zu erhalten, werden vor allem die jungen Menschen die Ideen des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus nicht als Ergebnis des Zusammenbruchs des Dritten Reiches, sondern als selbstgewollte hoehere Notwendigkeiten begreifen lernen. Nur dann wird die Sozialdemokratie den Kampf gegen jeden neu-erwachenden Nationalismus mit Erfolg fuehren koennen.

So wie die Sozialisten aller Laender fuer die Unabhaengigkeit ihres Landes eintreten, so tut es auch die deutsche Sozialdemokratie. Aber sie weiss, dass die Periode der uneingeschraenkten Souveraenitaet der Einzelstaaten vorueber ist. Nicht Teile von Deutschland duerfen internationalisiert werden, sondern

ganz Europa muss internationalisiert werden.

Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt die Vereinigten Staaten von Europa, eine demokratische und sozialistische Foederation europaeischer Staaten. Sie will ein sozialistisches Deutschland in einem sozialistischen Europa. Nur so kann Europa zur Solidaritaet mit den Voelkern aller Kontinente gelangen.

Die Sozialdemokratie sieht in dem gemeinsamen Kampf der Sozialisten aller Laender gegen jede Form der Ausbeutung, des Imperialismus und des Faschismus, der Reaktion und des hegemonialen Nationalismus die grosse geschichtsbildende Kraft, die Frieden und Freiheit fuer alle Voelker sichern kann.

- . - . - . - . - . -

Sozialismus ist nicht mehr ein fernes Ziel. Er ist die Aufgabe des Tages. Die deutsche Sozialdemokratie ruft zur sofortigen sozialistischen Initiative gegenueber allen praktischen Problemen in Staat und Wirtschaft auf.

Die deutsche Sozialdemokratie ist sich der Groesse ihrer Aufgabe bewusst. Sie will nichts sein als eine Partei unter anderen Parteien. Sie will sich aber auszeichnen durch die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse, durch die Klarheit ihrer Politik und durch die Wirksamkeit ihrer Massnahmen. Sie schoepft das Vertrauen zu einer erfolgreichen Durchfuehrung ihrer Politik daraus, dass heute das Klasseninteresse der deutschen Arbeitenden mit den Notwendigkeiten des ganzen deutschen Volkes und der Einsicht und dem Willen aller fortschrittlichen und freiheitlichen Menschen in der ganzen Welt zusammenfallen.

(Einstimmig beschlossen auf
dem Parteitag der SPD in
Hannover am 11. Mai 1946.)

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Kriegsschaeden in Deutschland.


In der Serie "The world today" gibt die Chatham House Review[6], Mai 1946, eine wichtige Analyse ueber die wirtschaftlichen Konsequenzen dieses Krieges und die Politik der Alliierten, der wir einige wichtige Stellen entnehmen und unseren Lesern als Material zur Verfuegung stellen.

"... In Deutschland haben die Voelkerwanderungen noch keine Ende gefunden, und es ist ganz unmoeglich, die vermutliche stabile Bevoelkerungszahl der verschiedenen Zonen anzugeben. Auf Grund einer Schaetzung von Dezember 1945 liegen die folgenden Zahlen vor: Britische Zone 22 Millionen, Amerikanische Zone 17,2 Millionen, Franzoesische Zone 6,4 Millionen. Russische Zone 19,7 Millionen. Gesamtbevoelkerung Deutschlands 65.286.000.

Seit Mai 1945 sind zwischen 20 und 25 Millionen Menschen durch die Haende der verschiedenen Militaerregierungen gegangen; davon zogen manche nach Osten, manche nach Westen. Die wesentlichen Gruppen sind:

4 Millionen Displaced Persons (DPs) gingen zurueck nach Ungarn, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Diese Bewegung ist beendet.

2½ Millionen polnischer DPs beginnen jetzt, nach monatelanger Verzoegerung auf Grund politischer Umstaende, nach Polen zurueckzuziehen. Etwa 80% dieser DPs haben dafuer gestimmt, nach Polen zurueckzugehen; es ist jedoch moeglich, dass dieser Prozentsatz auf 50% zurueckgehen wird, nachdem die ersten Gruppen, die Polen erreichen, in der Lage sein werden, unverhuellte Berichte ueber die dortigen Zustaende zu senden. 600.000 franzoesische und 200.000 hollaendische und belgische DPs sind bis zum August 1945 in ihre Heimat zurueckgekehrt, die Franzosen meistens auf dem Luftwege. Ausserdem sind mehr als eine Million franzoesischer Kriegsgefangener zurueckgekehrt, davon 300.000 ueber Russland. Zwei Millionen Russen sind nach dem Osten gezogen.

4 Millionen italienische und deutsche Gefangene sind zur Arbeit nach Frankreich und Italien transportiert worden.

Tatsachen und Zahlen aus der Russischen Zone sind mehr oder weniger Spekulation: 300.000 Sudetendeutsche sind nach Oesterreich getrieben worden, sie sind nicht gegangen, sondern getrieben. Weitere 700.000 sind vermutlich in die Russische Zone Deutschlands getrieben [worden] und haben sich mit dem Auszug der Deutschen aus diesen Gebieten vermischt.

Dr. Benes sagte im vorigen Dezember, dass die Ausweisung der noch verbleibenden 2 Millionen Sudetendeutschen bis 1947 beendet sein wuerde.

Bewegung der Ostdeutschen in der Russischen Zone und in Polen: In Polen und oestlich der Oder gibt es vermutlich 5 Millionen heimatlose und besitzlose Deutsche. Eine Million Menschen befinden sich in dem Gebiete zwischen der Oder und [dem] 'Eisernen Vorhang' in der Russischen Zone auf der Wanderschaft; 500.000 sollen bis August 1946 aus Ungarn vertrieben sein, 300.000 aus Jugoslawien. 1½ Millionen Deutsche werden aus Polen in Kontingenten von 5.500 pro Woche in die Britische Zone ueberfuehrt.


Kriegsverluste. Man nimmt an, dass in diesem Krieg 7½ Millionen der faehigsten deutschen Maenner getoetet, vermisst oder zu Krueppeln gemacht worden sind. Obwohl die Demobilisierung zu 80% durchgefuehrt worden ist, begegnet man in Hamburg oder anderen deutschen Staedten selten vielen deutschen gesunden Maennern zwischen 20 und 35 Jahren. In dieser fehlenden Generation war nicht nur die Staerke und der Wille der deutschen Nation, sondern auch das beste Arbeitselement enthalten. Deutschland hat in dem chaotischen Zustand, in dem es sich jetzt wiederfindet, einen unersetzlichen Verlust an kaufmaennischer und industrieller Begabung erlitten. Dazu kommt der Verlust an faehigen und intelligenten Deutschen, die in Konzentrationslagern umkamen, und als Letztes die Vertreibung von etwa 150.000 Nazis aus prominenten Stellungen durch die alliierten Militaerregierungen. All das traegt dazu bei, den Mangel an Geschicklichkeit, Initiative, Organisationsbegabung und geschulten Kraeften, der jetzt fuer alle deutschen Angelegenheiten charakteristisch ist, zu vergroessern. Die deutsche Bevoelkerung ist ohne Hoffnung, ohne Gesundheit und nicht im Besitz ihrer vollen geistigen Kraefte ..."

"... Ein hervorstechendes Merkmal in der deutschen Bevoelkerung und besonders innerhalb der Britischen Zone, sollte die Voelkerwanderung innerhalb von 2 Jahren beendet sein, ist der Mangel an gelernten Arbeitskraeften und des Verhaeltnis der Geschlechter zueinander. Es werden vermutlich drei Frauen auf einen Mann entfallen. Von Frankreich sagte man nach dem Ersten Weltkriege, dass es den Krieg politisch gewonnen, biologisch aber verloren haette und aus diesem Grunde als Grossmacht nicht mehr in Frage kaeme. Es steht ausser Frage, dass Deutschland diesen Krieg biologisch verloren hat; die Zahl der Kinder bis zum Alter von 6 Jahren ist jedoch sehr hoch, und ein normales Verhaeltnis der Geschlechter wird innerhalb von etwa 20 Jahren wieder hergestellt sein ..."

"...Die Aufteilung in russische, englische und amerikanische Verwaltungsgebiete erfolgte als Loesung der militaerischen Schwierigkeiten, wobei wenig an politische oder wirtschaftliche Geographie gedacht wurde, mit Ausnahme von der vierten, Franzoesischen Zone. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Aufteilung sind vernichtend, die Russische Zone scheint in einer anderen Welt zu liegen, das ganze erinnert an den Alpdruck eines Geographen. Man muss sich klarmachen, dass Europa wie mit einer riesenhaften kosmischen

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Schere von Norden nach Sueden durchschnitten ist; die oestliche Haelfte ist in undurchdringliches Dunkel gehuellt, das nur von zwei kleinen Fenstern, Berlin und Wien, unterbrochen wird. Alle Fluesse, fast alle Wege und Eisenbahnen enden am Eisernen Vorhang. Das enorme Problem, Berlin vom Ruhrgebiet aus zu versorgen, wurde in der Britischen Zone geloest; die Verbindung bricht jedoch jenseits der Elbe ab, weil die Russen die Eisenbahnlinie abgebaut und nach Russland geschickt haben. Sie liessen nur eine eingleisige Linie in die Hauptstadt zurueck. Jede Verbindung vom Osten nach dem Westen ist abgeschnitten worden, Haefen sind von ihrem Hinterland getrennt, Industriegebiete von ihren Rohstoffquellen oder Maerkten. Der Boden, der Kunstduenger dringend braucht, kann ihn nicht bekommen. Eine ultra-nationale Wirtschaft, die sich von der Nordsee bis an die Dardanellen erstreckt, verwelkt, weil alle Verbindungsmoeglichkeiten zerstoert sind und das Land in zwei Haelften geteilt wird durch ungeheure Armeen, die keinen Konflikt miteinander auszukaempfen haben. Es ist jedoch nicht das Vorhandensein der vier Zonen, das das Durcheinander in Deutschland schafft. Es [sind] vielmehr die Abwesenheit einer gemeinsamen Politik und eines vernuenftigen Austausches zwischen Osten und Westen, [die] das Chaos verursach[en], denn die drei westlichen Zonen arbeiten verhaeltnismaessig gut miteinander ..."

"... Trotz aller ihrer Nachteile ist die gegenwaertige Methode der theoretisch vorgesehenen Verwaltung Deutschlands als Einheit mit gemischten Besatzungstruppen vorzuziehen. Das Misstrauen, der Argwohn, die Langsamkeit und Unbarmherzigkeit der russischen Behoerden wuerden Stillstand und Chaos ueber ganz Zentraleuropa verbreiten anstatt sich, wie bisher, auf die Russische Zone zu beschraenken. Obwohl der Wiederaufbau in der Britischen und Amerikanischen Zone langsam vor sich geht, so ist doch eine stetige Entwicklung zu verzeichnen, und es werden einige dauernde Werte fuer die Zukunft Europas und der Welt gerettet.


Man darf dies nicht als eine Kritik der russischen Politik auffassen. Der russische Standpunkt hat eine gewisse Berechtigung, wenn man im Auge behaelt, dass waehrend des Rueckzuges der Deutschen aus Russland 150 Millionen acres guten Bodens verwuestet wurden und 75% der russischen Staedte und Industrieanlagen in Schutt und Asche gelegt wurden. Osteuropa jenseits der Weichsel und der Karpaten ist in einem Ausmasse zerstoert, dass Russland nach Mitteln sucht, es durch Requisitionen aus Mitteleuropa zu retten. Auf der anderen Seite ist die Wirtschaft von West-Europa, England und den Vereinigten Staaten so eng mit der Wirtschaft Deutschlands verknuepft, dass es fuer die westlichen Alliierten eine natuerliche Politik ist, soviel wie moeglich aus dem Zusammenbruch zu retten.


Ob mit Recht oder Unrecht, auf alle Faelle unter den heutigen Umstaenden unvermeidlich sind die unmittelbaren wirtschaftlichen Nachkriegsbeduerfnisse Russlands und der westlichen Alliierten, soweit Zentraleuropa in Frage kommt, absolut gegensaetzlicher Natur und die Moeglichkeit eines Kompromisses in der Politik reichlich illusorisch. Diese Meinungsverschiedenheiten sind voruebergehender und rein wirtschaftlicher Art und entstehen unter dem Druck ungeheurer Probleme in Osteuropa; sie haben nicht zu tun mit machtpolitischen Bestrebungen oder imperialistischem Ausdehnungsdrange. Sie sollten als ein Ausdruck russischen Leidens anerkannt werden; vermutlich werden sie noch etwa 2 Jahre anhalten, bis Anstrengung und Zeit die schlimmsten Wunden der Zerstoerung und des Hungers in Osteuropa geheilt haben; dann werden sie allmaehlich verschwinden, und Ost- und Westeuropa werden ein gemeinsames Interesse daran entwickeln, Handelsbeziehungen zu erweitern und den Lebensstandard auf dem gesamten Kontinent zu erhoehen ..."

"...Westeuropa und Osteuropa haben fuer den Augenblick Zentraleuropa verschluckt aus Gruenden, die weder einen Weltkonflikt noch einen Krieg heraufzubeschwoeren brauchen. Ob Zentraleuropa aus dieser politischen und wirtschaftlichen Aufteilung jemals wieder als Einheit hervorgehen wird, ist eine Frage, die weiteren Studiums und mehr Lichts aus dem Osten bedarf ..."


Die Zukunft der Deutschen. Bereits 65 Millionen Menschen sind in den vier Zonen Deutschlands zusammengepresst. Deutsche Minderheiten sind oder werden aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn, Rumaenien, den Balkanlaendern, Polen, den baltischen Staaten ausgewiesen, wo sie einen nuetzlichen Bestandteil der Industrie, des Handels oder der Landwirtschaft bildeten. Von 1870 an bis zur Entwicklung der militaerischen Machtbestrebungen Deutschlands lebten diese Menschen friedlich in den verschiedenen Laendern; ihr Weggehen von dort wird in vielen Faellen grosse Verluste an Erfahrung und technischen Leistungen nach sich ziehen. Doch Deutschland hat im Namen rassischer oder nationaler Einheit zwei Weltkriege verursacht, und kein Land wird das Risiko auf sich nehmen koennen, eine deutsche Minderheit zu beherbergen, wenn wieder ein vereinigtes deutsches Siebzigmillionenvolk erstarken sollte. Es ist offensichtlich die einzige unmittelbare politische Loesung, die deutschen Minderheiten nach Deutschland auszuweisen, und die meisten der kleinen Laender Ost- und Mitteleuropas haben diesen Schritt bereits in die Wege geleitet. Die 65 Millionen Deutschen werden also innerhalb der naechsten drei Jahre vermutlich auf 70 Millionen anwachsen.

Deutschlands Kriegsverluste werden ersetzt durch den Zustrom der deutschen Minderheiten. Das deutsche Gebiet ist jedoch um Ostpreussen und vermutlich auch die Gebiete oestlich der Oder kleiner geworden, ganz abgesehen von geringeren Veraenderungen im Westen. Der Verlust landwirtschaftlicher Produktion aus diesen Gebieten betraegt bereits 10% der

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gesamten Vorkriegsproduktion Deutschlands. Dazu kommt der Verlust der schlesischen und saarlaendischen Industriegebiete. Die Ernte des Jahres 1945 war in den westlichen Zonen 10% niedriger als normalerweise, und im oestlichen Teil Deutschlands nicht hoeher. Seit dem 1. Maerz konnte sowohl in der Britischen als auch in der Russischen Zone die kaergliche Ration von 1.500 Kalorien nicht ohne erhebliche Einfuhr aufrechterhalten werden ..."

"...In den Jahren zwischen 1935 und 1937 fuehrte Deutschland ein Neuntel seines Weizenverbrauches ein, ein Zehntel seiner Gerste und fast seinen gesamten Maisverbrauch (650.000 Tonnen). Es importierte 180.000 Tonnen Reis, 750.000 Tonnen Sojabohnen und etwa eine Million Tonnen vegetarischer Oele und Nuesse. Durch die Einfuhr dieser Futtermittel gelang es Deutschland, sich in bezug auf Fleisch selber zu versorgen. Um diese landwirtschaftliche Produktion aufrechtzuerhalten, fuehrte Deutschland jaehrlich mehr als eine Million Tonnen Duengemittel ein.

Heute ist der Viehbestand Deutschlands auf 40% des Normalen gesunken; ohne Einfuhr wird es Deutschland an 1½ Millionen Tonnen Weizen, 1 Millionen Tonnen Gerste und 2 Millionen Tonnen Fett und Viehfutter fehlen. Wenn Deutschland keine Industrieprodukte ausfuehren kann, um fuer seine Einfuhr an Lebensmitteln und Rohmaterialien (Fasern und Erzen) zu bezahlen, so steht es vor der trostlosen Situation, dass seine Bevoelkerung mit zwei Dritteln seines normalen Brotbedarfes und einem Drittel seines Bedarfes an Fleisch und Fett auskommen muss.

Um exportieren zu koennen, waere es noetig, dass Deutschland in seiner Wirtschaft Ueberschuesse an Industrieguetern produziert, und an diesem Punkte treten politische und strategische Betrachtungen auf. Im Januar 1946 setzte die Viermaechte-Kontroll-Kommission fest, dass die deutsche Industrie im Interesse der Sicherheit eingeschraenkt werden muesse, und zwar in folgender Weise: Die Produktion synthetischen Oels, synthetischen Gummis, Ammoniaks, Aluminiums und schwerer Werkzeugmaschinen wird ganz verboten. Die Ausfuhr chemischer Grundstoffe, [von] Fahrzeuge[n], Traktoren, elektrischer oder metallurgischer Einrichtungen wird verboten. Seeschiffe duerfen nicht mehr gebaut werden. Die Stahlproduktion wurde auf etwa 7 Millionen Tonnen, das ist etwa 55% der Vorkriegsproduktion, festgesetzt. Diese Bestimmungen berauben Deutschland tatsaechlich fast jeder Moeglichkeit, Lebensmittel einzufuehren. Darueber hinaus beraubt sie Daenemark, Holland und den groessten Teil Mitteleuropas ihres wichtigsten Belieferers industrieller Produkte, die diese Laender fuer ihren Wiederaufbau dringend benoetigen. Im Namen der Sicherheit sind Deutschland und Zentraleuropa zu Bettlern gemacht worden ..."

"...Gibt es eine vernuenftige Loesung des Wirtschaftsproblems der Deutschen? Es gibt drei Moeglichkeiten:

1) Dass die Friedensvertraege und die Vereinten Nationen Deutschland die besetzten Gebiete zurueckgeben oder aber ihm ueberseeische Gebiete geben, damit seine Lebensmittelquellen mehr seiner Bevoelkerungszahl entsprechen. Ein solches Verfahren wuerde mit der Neuerstehung eines starken deutschen Staates enden, was im absoluten Widerspruch zum oeffentlichen Urteil steht.

2) Dass die Vereinten Nationen Deutschland Kredite geben, alle Einschraenkungen in bezug auf Deutschlands industrielle Entwicklung aufheben, Fabrikanlagen zurueckgeben, Rohmaterialien liefern und im allgemeinen den Wiederaufbau der deutschen Anteilnahme an der Versorgung Europas mit Industrieprodukten foerdern. Auch dieses wuerde ein starkes Deutschland schaffen. Es ist unwahrscheinlich, dass man wirtschaftliche Unterstuetzung fuer ein Land in Erwaegung zieht, das eine solche von 1920 bis 1930 zu Aufruestungszwecken benutzt hat und das gleiche unter Umstaenden wieder tun wird. In beiden vorher besprochenen Moeglichkeiten ist die politische Zukunft Deutschlands der entscheidende Faktor bei dem Urteil ueber die Behandlung der deutschen Wirtschaft.

3) Die dritte Moeglichkeit ist auf die Teilung Deutschlands gegruendet. Wenn der gordische Knoten nicht aufgeloest werden kann, so kann er doch zerschnitten werden. Wenn die Drohung des deutschen Imperialismus, der Europa fuer 80 Jahre ueberschattete, beseitigt werden kann, so koennen weit bessere Moeglichkeiten fuer die wirtschaftliche Rehabilitierung und Neuorientierung eroeffnet werden. Die gegenwaertige Teilung in Ost- und Westdeutschland sollte zu einer dauernden gemacht werden, beide Teile sollten deutsche Staaten unter der Kontrolle [der] UNO sein. Die gegenwaertige Scheidung ist in Wirklichkeit eine voruebergehende Aufteilung, die unter Umstaenden fuenf Jahre oder laengern dauern kann, und die jetzt im Gang befindliche Re-Orientierung des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens arbeitet von Monat zu Monat den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland schaerfer heraus. Ostdeutschland, das Herz des militanten Preussentums, kann mit seinen 21 Millionen den Frieden Europas nicht bedrohen. Es koennte vertrauensvoll in das Wirtschaftsleben Ost- und Zentraleuropas eingegliedert werden als eine Region, deren Industrie, Landwirtschaft, Handel und Bevoelkerung eine nuetzliche Rolle bei der Erhoehung des allgemeinen Standes der Produktion spielen koennte. Die deutsche Einwanderung waere nicht laenger gefaehrlich. Deutsche Techniker werden bereits jetzt bei zufriedenstellenden Loehnen von Russland angestellt, das nicht weniger Bedarf nach deutscher Erfahrung, Tuechtigkeit und Faehigkeit als andere osteuropaeische Laender hat. Der deutsche Buerger, getrennt vom deutschen Imperialismus, ist in jedem Lande ein guter Buerger.

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Westdeutschland mit der Britischen, Amerikanischen und Franzoesischen Zone, jedoch ausschliesslich Schleswig-Holsteins, wuerde eine Bevoelkerung von 44 Millionen haben. Eine solche Nation und ein solcher Staat, unter [der] UNO, mit Frankfurt vielleicht als Hauptstadt, ist sowohl durch seine geographische Lage als auch durch geschichtliche Voraussetzungen bestimmt, nach dem Westen zu blicken und als Bindeglied zwischen Nordwest-Europa und dem Mittelmeer zu dienen. Seine Rohstoffquellen, seine Fluesse und seine Ausgaenge verbinden sein Schicksal mit dem Westeuropas in der Aufgabe, den Frieden neu zu schaffen und den Wohlstand der groesseren Welt ausserhalb seiner Grenzen zu vergroessern. In einer ihm feindselig gesinnten wirtschaftlichen Umgebung lebend, koennte er 44 Millionen Menschen nicht erhalten, als Mitglied der westeuropaeischen Voelkerfamilie und in Erfuellung seiner geographischen und geschichtlichen Rolle in Industrie und Handel koennte seine Zukunft einigermassen heiter sein.

Ostdeutschland koennte keinen Krieg ohne Ruhr und Rheinland fuehren; Westdeutschland, befreit vom kriegerischen Geiste Berlins und Preussens, wuerde keinen Krieg wollen. Eine solche Aufteilung wuerde die politische Gefahr eines neuen starken deutschen Staates aus dem Wege raeumen und die Aufnahme Deutschlands in die Familie der zivilisierten Nationen wieder ermoeglichen."

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Deutschland und das Ruhrgebiet[7]


Zu diesem Thema veroeffentlicht Dr. Kurt Schumacher, der Vorsitzende der SPD, einen Artikel, und kommt dabei zu folgenden Schlussfolgerungen:

"...Es waere ein verhaengnisvoller Fehler Frankreichs, wenn es jetzt vervielfacht das wiederholen wuerde, was es nach 1918 getan hat. Alle Deutschen hoffen auf den Tag der Ueberwindung der Zonengrenzen. Sie wissen, dass sie dieses Ziel nicht aus eigenen Kraeften erreichen koennen, sondern dass es verwirklicht wird, wenn die Politik der alliierten Siegermaechte einen gemeinsamen Generalnenner gegenueber den Deutschen gefunden hat. Jede Politik der Vorherrschaft oder der Hegemonie einzelner Siegermaechte waere Europas Katastrophe.

Die Forderungen des franzoesischen Aussenministers[8] sind in ihren Worten an die Deutschen gerichtet, in ihrer Wirkung aber anti-europaeisch und gefaehrden niemanden mehr als Frankreich.

Es gibt keine Demontage, keine Auslieferung von Industrien und keine Annexionen, die Sicherheiten schaffen wuerden.

Es gibt nur ein sozialistisches Deutschland, dessen oekonomische Rhein-Ruhr-Potenz Gesamteuropa zur Verfuegung steht und das demokratisch kontrolliert wird. Jeder Versuch einer anderen Loesung fuehrt in die furchtbarsten Tragoedien.

Darum scheinen uns die Andeutungen, die Minister Bevin und Aussenminister Byrnes[9] bei der letzten Konferenz der Aussenminister der grossen Siegermaechte gemacht haben, die Grundlagen zur Diskussion zu sein[10]. Man sollte sich in der Welt, vor allen Dingen in Frankreich, darueber klar werden, dass die Sozialdemokratie ohne diese Voraussetzungen, ohne die Deutschland auf die Dauer nicht umgestaltet und ueberhaupt nicht regiert werden kann, kein Interesse und keine Kraft haben kann, dieses Land zu einem positiven Faktor fuer die Welt zu machen. Keine Partei koennte es, hoechstens Gruppen von Ueberlaeufern und Verraetern, aber mit denen kann eine sich geschichtlich bewaehrende Politik nicht getrieben werden. Wir treiben diese Politik nicht aus nationalen Gruenden allein, wir treiben sie aus dem Willen zur Moeglichkeit, international zu sein und die Vereinigten Staaten von Europa zu gestalten. Man kann diese notwendigen Wuensche ablehnen. Dann soll man aber unser Volk regieren, wie man an der Goldkueste Borneos regiert; aber es soll nie vergessen werden, dass man ein grosses friedfertiges Volk in Europa haben kann, wenn die Politik selbst auf die Notwendigkeiten unseres Kontinentes und der Welt ausgerichtet wird.

Der Kampf um Rhein und Ruhr ist nicht eine nationale Frage der Deutschen allein, sie ist es nicht einmal in erster Linie, sondern sie ist die Frage der Deutschen allein, sie ist es nicht einmal in erster Linie, sondern sie ist die Frage um den Frieden der Welt. Wir sagen zu dieser Frage positiv und rueckhaltlos ja, aber die Situation des Tages sollte auch den anderen den Mut und die Kraft geben, den Nationalismus der Urteilslosen in ihren eigenen Laendern zu ueberwinden."




[Veroeffentlichungshinweis]

Material zu einem

Weissbuch der deutschen Opposition gegen die Hitlerdiktatur.
Erste Zusammenstellung ermordeter, hingerichteter oder zu Freiheitsstrafen verurteilter deutscher Gegner des Nationalsozialismus.

Herausgegeben in London vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei.

- Als Manuskript vervielfaeltigt -

Der Versand der bestellten und bezahlten Exemplare beginnt am 15. Juli 1946. Bestellungen und Postal Order oder Scheck sind einzusenden an: W. Sander, 33 Fernside Ave., London N.W.7

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Gebt Lebensmoeglichkeiten fuer das deutsche Volk

Eine Warnung
der Deutschen Sozialdemokratie.

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hielt am 4. Juni in Hannover unter dem Vorsitz von Dr. Kurt Schumacher seine erste Sitzung ab.

Der Parteivorstand beschloss eine Reihe von Massnahmen fuer den organisatorischen Ausbau der Parteizentrale und des Presse- und Propagandawesens der Partei.

Unter den aktuellen politischen Fragen, die zur Diskussion standen, befanden sich die Wahlen in der britischen Besatzungszone, die Lage der deutschen Kriegsgefangenen, Fragen der Jugenderziehung, Fragen der internationalen Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Parteien und Angelegenheiten der Partei in den einzelnen Besatzungszonen.

In der politischen Aussprache beschaeftigte sich die Sitzung vor allem mit den neuesten Berichten ueber die Demontage, ueber Zerstoerungen industrieller Einrichtungen und ueber die separatistischen Bestrebungen in den verschiedenen Randgebieten Deutschlands.

Der Parteivorstand legte seine Auffassung in folgender einstimmig angenommenen Entschliessung fest:


"Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, versammelt zu seiner ersten ordentlichen Sitzung, bringt seine tiefe Besorgnis ueber das Fehlen einer einheitlichen und konstruktiven Politik der Alliierten gegenueber Deutschland zum Ausdruck.

Anstelle der auf der Potsdamer Konferenz beschlossenen einheitlichen Verwaltung Deutschlands geht die sinnlose Zerstoerung volkswirtschaftlicher Werte und industrieller Einrichtungen weiter. Diese Politik in Verbindung mit einer verfehlten Lohn-, Preis- und Steuerpolitik laesst den Lebensstandard der arbeitenden Menschen immer weiter absinken. Das bedeutet die Katastrophe fuer die deutsche Wirtschaft und die schwerste Gefahr fuer die Ideen der Voelkerverstaendigung.

Das Fehlen eines gemeinsamen Planes der Alliierten foerdert die Tendenz, Sicherung gegen zukuenftige deutsche Angriffe durch Annexionen und separatistische Loesungen zu suchen: In vielen Randgebieten des Reiches wird die Propaganda fuer die Losloesung deutscher Gebiete verstaerkt.

Die Sozialdemokratie hat als einzige deutsche Partei alle Annexionen der Hitlerdiktatur, angefangen mit dem Ueberfall auf Oesterreich und dem Raub der Sudetengebiete, eindeutig und oeffentlich abgelehnt. Sie hat als die Partei des Friedens die Politik der Hitlerdiktatur gekaempft, auch als dieses System auf der Hoehe seiner Erfolge stand.

Aus dem gleichen Geist des Friedens und im Interesse einer gesunden Entwicklung eines neuen Deutschland wendet sich die Sozialdemokratie gegen eine Politik, die durch die Zerstoerung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen, durch Bevoelkerungsaustreibung und Annexionen oder durch die Schaffung separatistischer Bestrebungen die Voraussetzungen fuer eine dauerhafte friedliche Entwicklung in Europa vernichten muss.

Die Sozialdemokratie unterstuetzt den Abbau der Kriegs- und Ruestungsindustrie. Sie wendet sich gegen eine sinnlose Vernichtung von Werten. Sie fordert ihre Verwendung fuer den Aufbau einer sozialistisch geformten und demokratisch kontrollierten Friedensindustrie.

Die Sozialdemokratie ist bereit, jede Politik der Friedenssicherung zu unterstuetzen, die die Lebensmoeglichkeiten des deutschen Volkes erhaelt und die freie Selbstbestimmung der Bevoelkerung respektiert."

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Sozialdemokratischer Erfolg
bei Delegiertenwahlen.

An den Betriebsratswahlen im Telefunkenwerk in Berlin-Schoeneberg nahmen 85% von den 650 Betriebsangehoerigen teil. Gewaehlt wurden sechs Sozialdemokraten, zwei Parteilose und ein Vertreter der CDU.

Erfolge erzielte die SPD in den letzten Tagen bei den Delegiertenwahlen zu der Berliner Verbandskonferenz im Verband der kaufmaennischen und Bueroangestellten[11].

Im Bezirk Tiergarten erhielt die SPD bei diesen Wahlen sechs Mandate gegenueber zwei Mandaten fuer die SED. Im Bezirk Schoeneberg-Friedenau erhielten beide Parteien sechs Mandate, im Bezirk Tempelhof beide Parteien vier. Der Bezirk Wilmersdorf waehlte sieben SPD-, einen CDU- und zwei SED-Vertreter.

Auf der Bezirksdelegierten-Konferenz Schoeneberg-Friedenau wurde mit 132 gegen 17 Stimmen gegen das Organ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes "Freie Gewerkschaft"[12] Stellung genommen. Damit sollte, wie es heisst, die Ablehnung der einseitigen politischen Orientierung des Blattes im Dienst der SED ausgedrueckt werden.

Vor der Zwangsverschmelzung in der Ostzone waren bei den Betriebsraetewahlen der Reichsbahndirektion in Erfurt sieben Sozialdemokraten gewaehlt worden. Jetzt, nach der "Verschmelzung", hat eine Neuwahl sechs Parteilose und einen SEP ergeben.

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sind in der letzten Zeit wiederholt Anfragen im Britischen Unterhaus gestellt und beantwortet worden. Uns erreichen wiederholt Briefe von Angehoerigen deutscher Kriegsgefangener, von Kriegsgefangenen selbst und von entlassenen Kriegsgefangenen, die nun ueber ihre Erlebnisse berichten. Auch die Oeffentlichkeit beginnt, sich fuer das Problem der deutschen Kriegsgefangenen zu interessieren. Die Zeitschrift "Socialist Commentary"[13] hat sich ein Verdienst um die Veroeffentlichung eines Beitrages zu diesem Thema erworben, der vom sozialistischen Standpunkt aus Stellung nimmt, und den wir deshalb in deutscher Uebersetzung bringen:

"Der Einsatz von Kriegsgefangenen in der britischen Landwirtschaft und Industrie wird in steigendem Masse von Gewerkschaftern und von anderer Seite gefordert als ein sehr einfacher vorlaeufiger Weg, der Arbeiterknappheit abzuhelfen. Der Gewerkschaftskongress (TUC) hat diesen Schritt in seinen 'Politischen Richtlinien zu Fragen der Produktion' (6. Maerz 1946) empfohlen. In der Mai-Nummer dieser Zeitschrift hat ein Korrespondent vorgeschlagen, Kriegsgefangene im Bergbau zu beschaeftigen; es sei dies der einzige Weg, der fuer den kommenden Winter drohenden Kohlennot vorzubeugen und 'dem Ausschuss fuer die Kohlenindustrie (Coal Board) zu ermoeglichen, zur Forderung der Fuenf-Tage-Woche realistisch Stellung zu nehmen'. Der landwirtschaftliche Korrespondent der Times (15.4.1946) kommt zu der Annahme, dass 'die britische Landwirtschaft auf jeden Fall bis zur Ernte 1947 auf den Einsatz von Kriegsgefangenen angewiesen sein wird'.

Der Gewerkschaftskongress hat seinen Vorschlag, Kriegsgefangene einzusetzen, an die Bedingung 'bestimmter Garantien gegen Missbrauch' geknuepft, die jedoch nur den Schutz britischer Arbeiterinteressen betreffen. Vom national-gewerkschaftlichen Gesichtspunkt aus gesehen mag das ausreichen. Vom international-sozialistischen Standpunkt jedoch erscheint die Ueberwindung der Maechte des politischen Ressentiments, die der Krieg entfesselt hat und die noch immer ungeheuer stark sind, als das ueberragende Ziel. Insbesondere ist ein demokratischer Aufbau in Deutschland eine wesentliche Bedingung fuer den Frieden. Schliesslich - und das ist nicht die geringste Ruecksicht - findet der fuer Sozialisten entscheidende Grundsatz der Gerechtigkeit selbst auf deutsche Kriegsgefangene Anwendung.

Fuer die 'Nazis' unter ihnen bedeutet das, dass sie fuer lange Zeit zur Arbeit herangezogen werden sollten, wo immer Not am Mann ist, damit sie etwas von dem von ihnen herbeigefuehrten Elend wiedergutmachen. Ihre Rueckkehr nach Deutschland wuerde ausserdem politisch nur Schaden stiften. Mit 'Nazis' sind in diesem Zusammenhang alle die gemeint, und zwar ohne Ruecksicht auf fruehere Zugehoerigkeit zur Nazipartei, von denen es klar ist, dass sie ein groesseres Mass von Verantwortung fuer den Krieg und seine Folgen haben als die grosse Masse der Verfuehrten und derjenigen, die keine Helden waren. Fuer diese Leute interessieren wir uns in diesem Artikel nicht, und keiner der weiter unten gemachten Vorschlaege ist fuer Nazis in diesem Sinn gemeint.

Unter den Kriegsgefangenen in Grossbritannien sind jedoch Tausende wirklicher Sozialisten und Hunderte von Menschen, die jahrelang in Nazi-Gefaengnissen und -Konzentrationslagern gelitten haben. Wie die Dinge aber zur Zeit liegen, genuegt selbst der hervorragendste Anteil im illegalen Kampf gegen die Nazis nicht, um einen Gefangenen die Heimkehr zu ermoeglichen, und dies, obwohl gerade solche Menschen in Deutschland fuer die Durchfuehrung der Entnazifizierung, fuer den politischen Neuaufbau und andere Aufgaben gebraucht werden wie das taegliche Brot. Es ist das erste Interesse dieser Kaempfer, an der Loesung der Aufgaben in Deutschland aktiv teilnehmen zu koennen. Die grosse Mehrzahl der Gefangenen sind natuerlich weder Nazis noch entschiedene Nazigegner. Das erste Interesse dieser grossen Masse der Gefangenen ist ein einfach menschliches; in den harten Zeiten, die bevorstehen, an der Seite ihrer Angehoerigen daheim zu sein.

Der Hauptgrund, weswegen heute, laenger als ein Jahr nach Abschluss des Krieges in Europa, die Kriegsgefangenen in England auf unbestimmte Zeit einbehalten werden, ist ohne Zweifel der Arbeitermangel in England. Man sollte sich aber klarmachen, dass, solange die Regierung ihre Politik hinsichtlich Repatriierung der Kriegsgefangenen nicht klargestellt hat, jede von einer Gewerkschaft erhobene Forderung, Kriegsgefangene zu beschaeftigen, einen die Repatriierung dieser Menschen weiter verzoegernden Faktor darstellt.

Die Zahl der in der Landwirtschaft beschaeftigten Gefangenen wird der Times zufolge Ende dieses Jahres etwa 200.000 betragen. Kanada und die Vereinigten Staaten, die keinen Arbeitermangel haben, haendigen ihre deutschen Kriegsgefangenen an England aus; auch Frankreich hat an die Vereinigten Staaten Ansprueche auf Aushaendigung deutscher Kriegsgefangener angemeldet. Die Gesamtzahl der in Grossbritannien beschaeftigten Gefangenen wird Ende dieses Jahres etwa eine halbe Million betragen. Diese werden hauptsaechlich Deutsche sein, da die letzten italienischen Gefangenen vor der Abreise aus England stehen und die Repatriierung der oesterreichischen Kriegsgefangenen jetzt beginnt.

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Arbeitgeber, die Kriegsgefangene beschaeftigen, zahlen der Regierung den tarifmaessigen Lohn, und die Regierung zahlt den Gefangenen ein Taschengeld bis zu sechs Schillingen die Woche. Die Verpflegung scheint in manchen Lagern fuer vollbeschaeftigte Landarbeiter etwas mager zu sein, aber natuerlich sind die Gefangenen in dieser Hinsicht hier besser daran, als sie zu Hause sein wuerden, und sie wissen das. Zwei Organisationen, die internationale Organisation der Christlichen Vereine Junger Maenner und die Abteilung fuer politische Aufklaerung im Auswaertigen Amt, nehmen sich der geistigen Interessen der Gefangenen an, indem sie Lehrmittel beschaffen und Bildungsarbeit organisieren. Die Abteilung fuer politische Aufklaerung hat den Versuch unternommen, 'die geistige Kluft zwischen Siegern und Besiegten durch planmaessige Bildungsarbeit zu ueberbruecken, - ein Experiment ohne Parallele in frueheren Kriegen und Nachkriegsperioden', wie der Generaldirektor der Abteilung fuer politische Aufklaerung, Generalmajor Strong[14], es mit Recht gekennzeichnet hat. Die Abteilung schickt englische und deutsche Redner in die Lager, die mit den Gefangenen ueber politische Probleme, neuere Geschichte und Fragen von allgemein menschlichen Interesse diskutieren. Die Gefangenen lesen Zeitungen und hoeren Radio. Zu Anfang dieses Jahres ist eine Art Volkshochschullager in Wilton Park bei Beaconsfield eroeffnet worden, wo ausgewaehlte Gefangene zu sechswoechigen Kursen in einer auf konzentrierte geistige Arbeit abgestimmten Atmosphaere sich zusammenfinden. Solche Bemuehungen werden von den Gefangenen, die sehr auf geistigen Kontakt mit der Aussenwelt aus sind, dankbar anerkennt. Trotz alledem greift seit Monaten eine verzweifelte und gereizte Stimmung in den Lagern um sich, da die Leute erkannt haben, dass sie auf unbestimmte Zeit als eine Arbeitertruppe in Gefangenschaft gehalten werden.

Mehr und mehr wird diese Tatsache, verbunden mit dem Schweigen der Regierung in der Repatriierungsfrage, zum entscheidenden Faktor in der 'Umerziehung' der Gefangenen, einem machtvolleren Faktor, als es die ehrlichen und ernsthaften Bemuehungen der Abteilung fuer politische Aufklaerung sind. Wer in der praktischen Aufklaerungsarbeit unter den Gefangenen steht, wird das zugeben. Dies ist politisch um so ungluecklicher, als eine Arbeiterregierung die Verantwortung fuer die Lage hat.

Gewiss, die Genfer Konvention wird dem Buchstaben nach erfuellt; kranke und kriegsbeschaedigte Gefangene sind repatriiert worden, und Offiziere werden nicht zur Arbeit herangezogen. In bezug auf Repatriierung bestimmt die Genfer Konvention, dass Kriegsgefangene so schnell wie moeglich, spaetestens aber 12 Monate nach Friedensschluss, repatriiert werden sollen. Ein Friede mit Deutschland wird aber in absehbarer Zeit nicht geschlossen werden, da es keine deutsche Regierung gibt. Die Verfasser der Konvention haben gewiss nicht an den Fall eines Krieges gedacht, der mit einer solchen Situation enden wuerde. Da also der Wortlaut der Konvention den heutigen deutschen Kriegsgefangenen nicht den Rechtsschutz bietet, den die Konvention bezweckt, sollte diese in ihrem eigentlichen Sinn verstanden werden. Der aber ist, sicherzustellen, dass die Repatriierung sowie die Achtung sonstiger Lebensinteressen von Kriegsgefangenen einer besiegten Nation nicht dem Belieben des Siegers ueberlassen bleiben soll, sondern dass elementare menschliche Rechte geachtet werden sollen.

Unser erster Vorschlag ist, dass die Regierung sich ueber ihre Kriegsgefangenenpolitik, insbesondere was Repatriierung angeht, offen erklaert. Jeder verurteilte Verbrecher kennt die Dauer seiner Strafe, und es ist ungerecht, Kriegsgefangene in dieser Beziehung schlechter zu behandeln.

Solange eine Erklaerung der Regierung nicht vorliegt, waere es muessig, den Gesichtspunkt der Reparationen zu diskutieren und das Fuer und Wider einer Politik zu eroertern, die Deutschland Reparationen in der Form auferlegt, dass deutsche Kriegsgefangene auf unbestimmte Zeit als eine Arbeitertruppe einbehalten werden. Diese Frage ist gar nicht einfach vom Standpunkt sozialistischer Grundsaetze. Bisher jedoch ist nichts darueber bekannt, ob und wieweit die Regierung ihre Kriegsgefangenenpolitik unter dem Gesichtspunkt von Reparationen betrachtet.

Fuer die Zeit bis zur Repatriierung schlagen wir der Regierung vor, eine Reihe von Erleichterungen in den Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen zu erwaegen. Da die Arbeitsleistung der Gefangenen von ihren Arbeitgebern im allgemeinen als zufriedenstellend anerkannt wird, waere eine bessere Bezahlung angebracht. Wir denken etwa an den Gegenwert heutiger Loehne in Deutschland abzueglich der Kosten fuer den Lebensunterhalt der Gefangenen. Es sollte ein Weg gefunden werden, auf dem die Gefangenen einen Teil ihres Verdienstes nach Hause schicken koennen. Auch koennte den Gefangenen mehr Bewegungsfreiheit gegeben werden in der Art, wie sie den italienischen Kriegsgefangenen in den letzten Kriegsjahren gewaehrt wurde. Kontakt mit der englischen Bevoelkerung waere fuer die geistige Neuorientierung der Gefangenen gewiss wertvoll.

Schliesslich schlagen wir die unverzuegliche Repatriierung der nachweislichen Nazigegner vor, einschliesslich der Menschen, deren Rueckkehr von den neuen Gewerkschaften und anderen demokratischen Einrichtungen in Deutschland befuerwortet wird."



[Hinweis]



Gelesene Nummern dieser SM bitte weitergeben, nicht wegwerfen !


[Seite im Original:] - 15 -

Deutsche Sozialdemokraten sprechen in London.

Der Genosse Erich Ollenhauer, stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, war in der Zeit von Mitte Juni bis Anfang Juli auf einem dreiwoechigen Besuch in London. Er hatte waehrend seines Londoner Aufenthaltes Besprechungen mit Minister John Hynd, Minister Noel-Baker, mit dem Generalsekretaer der Labour Party, Morgan Phillips, und dem Sekretaer des International Department der Labour Party, Denis Healey.


In einer stark besuchten Versammlung der Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in Grossbritannien, Ortsgruppe London, sprach Erich Ollenhauer ueber "Gegenwartsprobleme der deutschen Arbeiterbewegung". In einer Sitzung der Mitarbeiter der London-Vertretung der SPD und in zahlreichen Einzelbesprechungen mit englischen und deutschen Freunden der deutschen Arbeiterbewegung wurden die aktuellen Fragen demokratischer und sozialistischer Politik in Deutschland eroertert.


Die Probleme der Eingliederung der aus der Tschechoslowakei vertriebenen deutschen Sozialdemokraten in das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben der deutschen Aufnahmegebiete und in die deutsche politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung waren Gegenstand eingehender Aussprachen mit der Londoner Vertretung der sudetendeutschen Sozialdemokraten.


Erich Ollenhauer benutzte seinen Londoner Aufenthalt, um alte freundschaftliche Beziehungen zu Londoner Vertretern auslaendischer sozialistischer Parteien zu erneuern.


In den Unterhaltungen mit den englischen Stellen spielten neben den aktuellen Fragen der Politik in der Britischen Besatzungszone die Probleme der Rueckwanderung der politischen Fluechtlinge und der antifaschistischen deutschen Kriegsgefangenen eine besondere Rolle. Erich Ollenhauers Aufenthalt in London hat wesentlich dazu beigetragen, die Zusammenarbeit zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ihren britischen und deutschen Freunden in London zu vertiefen.


Zur gleichen Zeit befanden sich die Genossen Staatsminister a. D. Grimme, jetzt Leiter des Erziehungswesens im Reg.Bez. Hannover, und Senator Dr. H. Landahl, Dezernent fuer Erziehungsfragen in Hamburg, in London, um auf Einladung britischer Fachkollegen mit Amtsstellen, Abgeordneten und englischen und deutschen Freunden zu sprechen. In einer oeffentlichen Veranstaltung, von der "German Educational Reconstruction"[15] veranstaltet, sprachen beide sehr erfolgreich vor einem grossen Publikum ueber das Problem der deutschen Jugend und der deutschen Erziehung, wobei Dr. Grimme den geistigen Hintergrund und die geistige Erneuerung, Dr. Landahl die praktischen Schwierigkeiten behandelte, die heute dem Aufbau des deutschen Schul- und Erziehungswesens entgegenstehen. In zahlreichen Einzelbesprechungen wurde besonders auch das Problem der Rueckkehr von Lehrern und Erziehern besprochen.


Die Londoner Abendzeitung "Star"[16] brachte am 19. Juni 1946 einen laengeren Artikel des Genossen Dr. Kurt Schumacher unter dem Titel: "Der Plan eines deutschen Fuehrers fuer Deutschlands Zukunft"[17]. In einem Leitartikel der gleichen Ausgabe nahm die Redaktion zu diesem wichtigen Ereignis Stellung und unterstrich die grosse Bedeutung der direkten Stellungnahme des fuehrenden deutschen Politikers nach Kriegsende in einer englischen Zeitung. Die Redaktion sprach auch von der Moeglichkeit, Schumacher selbst einmal in London sprechen zu hoeren. Auch die grosse liberale Tageszeitung "News Chronicle" wuerdigte die Ausfuehrungen Schumachers, waehrend die kommunistische Tageszeitung "Daily Worker" Schumacher als einen "beguenstigten Schuetzling der britischen Militaerregierung" beschimpfte.


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In die Heimat zurueckgekehrt sind die Genossin Liselotte Wettig[18] als Lehrerin in die Odenwaldschule, Friedel Walter[19] als Verbandsangestellte nach Frankfurt a. M., der Genosse Heinrich Sorg als Funktionaer der Arbeitersportbewegung nach Frankfurt a. M., der Genosse Erwin Schoettle und Familie nach Stuttgart als Parteiredakteur, der Gen. Erich Brost als Chefredakteur der Parteizeitung in Essen[20] und die Genossin Herta Gotthelf als Leiterin des Frauensekretariats des Parteivorstandes in Hannover. - Die Mitglieder der German Labor Delegation in den USA Max Brauer und Rudolf Katz (frueher Altona) befinden sich gegenwaertig auf einer Studienreise durch Deutschland.

Die Rueckkehr politischer Fluechtlinge aus England nach Deutschland war bisher ziemlich schwierig, es musste eine Anforderung aus Deutschland erfolgen. Es wird erwartet, dass in Kuerze die Rueckkehr politischer Fluechtlinge auf eine neue vereinfachte Basis gestellt wird, allerdings nach verschiedener Prioritaetsbewertung. Sobald die erforderlichen Fragebogen, Antragsformulare usw. vorhanden sind und auch die Anwendung aller Massnahmen fuer ausserhalb Englands wohnende Fluechtlinge, die nach der Britischen Zone zurueckwollen, bekanntgegeben sind, werden wir unsere Freunde verstaendigen.

[Seite im Original:] - 16 -

Ueber die Deutschlandreise des "National Council of Labour",


die wir in der Juni-Nummer der SM ankuendigten, berichtet das sozialdemokratische "Rhein-Echo" (Duesseldorf):

"Morgan Phillips erklaerte einem deutschen Pressevertreter anlaesslich des Besuches der Delegation, dass die Labour Party schon heute auf die SPD als jene Partei schaue, die das deutsche Volk rehabilitieren werde, damit Deutschland in einem zukuenftigen gesunden Europa wieder einen ihm zukommenden Platz einnehmen kann.

Phillips sagte: "Wir sind beeindruckt von dem Eifer und dem Verantwortungsbewusstsein, mit dem die SPD und die demokratischen Organisationen in dieser Zone am Aufbau eines demokratischen Deutschland arbeiten und hocherfreut ueber die bemerkenswerten Ergebnisse, die hierbei auf einzelnen Gebieten erzielt worden sind.

Von der deutschen Jugend erwarte die Labour Party, dass sie an der Entwicklung dieses neuen Deutschland vollsten Anteil naehme. Im weiteren Verlauf des Interviews drueckte der britische Labour-Delegierte seine Befriedigung darueber aus, dass die Abordnung auf ihrer Reise bei den demokratischen Organisationen ueberall groesstes Interesse und rege Mitarbeit an dem Neuaufbau Deutschlands angetroffen habe. Morgan Phillips hob besonders das gegenseitige Vertrauensverhaeltnis hervor, das zwischen britischen Militaerbehoerden und deutschen Stellen bestehe.

Als die Hauptaufgabe der Delegation, in der auch der britische Gewerkschaftskongress und die britischen Konsumgenossenschaften vertreten sind, bezeichnete Morgan Phillips die Fuehlungnahme mit demokratischen Organisationen in der Besatzungszone. Auf ihrer Informationsreise habe die Delegation in Duesseldorf, Essen, Muenster, Hannover und in Hamburg offen und frei mit den Fuehrern der SPD und den Vertretern der Gewerkschaftsbewegung gesprochen und sei deutscherseits auch immer wieder auf die bestehenden grossen Schwierigkeiten hingewiesen worden.

Die auf der Reise gesammelten Eindruecke und Informationen werde die Delegation bereits am 2. Juli in einem ausfuehrlichen Bericht mit ihren Vorschlaegen und Empfehlungen, dem Zentralausschuss der Labour Party auf einer besonderen Konferenz vorlegen."

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Demokratie oder Katastrophe in Deutschland?


Unter diesem Titel bringt der General-Sekretaer der Labour Party, Morgan Phillips, am 7. Juli 1946 in der englischen Sonntagszeitung "News of the World"[21] (die eine Auflage von 3 Millionen Exemplaren hat) einen Artikel, den wir mit geringen Kuerzungen bringen.

"Ich bin von einer Reise durch die Englische Zone in Deutschland mit zwei Haupteindruecken zurueckgekommen. Der erste ist, dass, je eher wir an hoechster Stelle darueber eine Einigung erzielen koennen, dass Deutschland als wirtschaftliche Einheit behandelt wird, desto besser es fuer alle Beteiligten sein wird. Die augenblickliche Lage stellt ein beinahe unloesliches Problem fuer alle an der militaerischen Regierung Beteiligten dar. Zweitens ist es eine wichtige Voraussetzung, um Deutschland zum Wohle Europas wieder in Gang zu bringen, dass freier Handel zwischen allen vier Zonen besteht und das freie und ungehinderte Recht des Zutritts zu jeder Zone und des Reisens innerhalb derselben.

Der Zustand, dass eine Zone beinahe hermetisch vom Rest des Landes abgeriegelt ist, ist, wie ich ueberzeugt bin, schlecht fuer Deutschland, schlecht fuer Europa und schlecht fuer die vier Maechte, die jetzt das Reich regieren.

Ich bin sicher, dass nichts die industrielle Wiederherstellung Deutschlands mehr beschleunigen wird als das Abschaffen aller Handels- und Reisebeschraenkungen zwischen den vier Zonen, und es ist unzweifelhaft richtig, dass, wenn wir Deutschland nicht innerhalb einer verhaeltnismaessig kurzen Zeit wieder in Gang bringen, Millionen Europaeer leiden werden. Es ist ein trauriges und niederdrueckendes Erlebnis, einige dieser grossen Industriestaedte und Zentren in der Englischen Zone anzusehen. Niemals habe ich Zerstoerung in einem solchen Umfange gesehen. Man muss es gesehen haben, um es glauben zu koennen. In Koeln zum Beispiel wuerde man nicht weniger als 1.000 Lastwagen taeglich mit normaler Arbeitszeit gebrauchen, um in 55 Jahren das Geroell fortzuschaffen.

Das Leben im Geroell in solchen Schutt-Staedten, wo Menschen in Kellern schlafen und in primitiven Verhaeltnissen vegetieren, stellen Millionen Deutsche die englische Militaerregierung vor die erschreckendsten Probleme, die vielleicht je eine Verwaltung zu bewaeltigen hatte. Ich muss auch feststellen, dass die Arbeit und die Begeisterung der Offiziere und Mannschaften der Militaerregierung jedes moegliche Lob weit uebertreffen. Es macht einen stolz, die schoenen Resultate zu bezeugen, die von gewoehnlichen englischen Maennern und Frauen angesichts der schrecklichsten Schwierigkeiten erzielt worden sind. Lasst uns einige der Probleme ansehen, vor denen wir stehen. Das erste und alles ueberwiegende Problem ist die Lebensmittelknappheit, die fast jeden Zug des Lebens in Deutschland beherrscht. Die Deutschen bekommen rund ein Drittel unserer Rationen, und es kann kein Zweifel darueber bestehen, dass Millionen von ihnen, Maenner, Frauen und Kinder, vor

[Seite im Original:] - 17 -

dem Verhungern stehen. Bestimmt trifft das ueberall in dem Industrieguertel zu, den ich besuchte. In Duesseldorf wurden drei Todesfaelle an Hungeroedem in der Woche vor meinem Besuch verzeichnet. Der aerztliche Beamte fuer Gesundheitswesen fuer die Nord-Rhein-Provinz teilte mir mit, dass das durchschnittliche Gewicht der Schulkinder sieben Pfund unter dem Normalgewicht laege.

Das Fernbleiben von der Arbeit geschieht in grossem Umfang, weil die Stadtarbeiter sich aufs flache Land schleppen, um nach ein oder zwei Pfund Kartoffeln zu suchen.

Die Verwaltung der Fluechtlingslager in der Englischen Zone stellt eine weitere grosse Verantwortlichkeit dar. Tuberkulose grassiert unter den 12 - 17jaehrigen. Es ist erbarmungswuerdig, den Zustand eines Teiles dieser jungen Leute zu sehen. In einigen dieser Lager ist das Stroh, auf dem sie schlafen, seit drei Monaten nicht erneuert worden, und in einem Gebiet allein, schaetzt man, fehlen nicht weniger als 400.000 Betten. In den laendlichen Bezirken ist die Lage natuerlich anders und die Mehrzahl der deutschen Bevoelkerung dort isst verhaeltnismaessig gut.

Der Appell an Russland. Drastische Massnahmen sind jedoch unzweifelhaft notwendig, wenn die Menschen der Industriestaedte und Zentren in den allernaechsten kritischen Monaten am Leben und gesund erhalten bleiben sollen.

Ich glaube, es wuerde eine ungeheure Erleichterung darstellen, wenn Vorkehrungen getroffen werden koennten, einige der Lebensmittel-Vorraete aus den landwirtschaftlichen Gebieten im Osten, die unter russischer Besatzung sind, abzuzweigen, um die Lage in der Englischen Zone zu retten. Sie koennten gegen Fertigwaren ausgetauscht werden, was dem Kontinent als Ganzes zugutekaeme, da diese Lieferungen uns helfen wuerden, die Produktion zu steigern und die wichtigsten industriellen Ausruestungen zu liefern, die zum Wiederaufbau in Mitteleuropa so dringend benoetigt werden.

Es besteht natuerlich ein fuehlbarer Kohlenmangel, der durch die Lebensmittelknappheit noch verschaerft wird. Das Fehlen von Kohle macht den Wiederaufbau des deutschen industriellen Lebens zu einer langsamen und muehseligen Arbeit. Die Bergarbeiter in Essen haben mir versichert, dass sie, um die notwendige Steigerung der Kohlenerzeugung zu erzielen, die Zahl der Arbeitskraefte vermehren muessten. Volle 25.000 deutsche Bergarbeiter sind zur Zeit Kriegsgefangene in englischer, kanadischer, franzoesischer, amerikanischer und russischer Hand. Ihre schnelle Entlassung wuerde die Lage auf dem Arbeitsmarkt sehr erleichtern. Weiterhin gibt es 12-16.000 Bergarbeiter, die infolge der neuen tschechoslowakischen Erlasse aus den Sudetengebieten vertrieben werden.

Der Kampf ums taegliche Brot. Der durchschnittliche Deutsche ist heutzutage zu sehr mit dem bitteren Kampf, am Leben zu bleiben und etwas fuer sich und seine Familie zu essen zu finden, beschaeftigt, um einen aktiven Anteil oder Interesse in der Wiederschaffung demokratischer Einrichtungen zu nehmen. Ich kann kaum genug betonen, in welchem Ausmass die Wiederherstellung der Demokratie in Deutschland von der Versorgung mit mehr Lebensmitteln und einer gesteigerten Industrieproduktion abhaengt. Es besteht, wenigstens nach meiner Ansicht, kein Zweifel darueber, dass die politische Lage in der Englischen Zone sich verschlechtert, weil sich die wirtschaftlichen Verhaeltnisse und Lebensbedingungen in ihr verschlechtern.

Hier wiederum ist die Frage der Reparationen ein wunder Punkt. Wenn die Potsdamer Vereinbarungen hier voll zur Ausfuehrung kommen, dann gibt es ein langes Programm von Fabrikabbau in der Englischen Zone. Das muss unvermeidlicherweise die politischen Schwierigkeiten sehr vermehren.

Ein weiteres Problem, das eine baldige Loesung erheischt, ist die Zukunft des Ruhrgebietes und des Rheinlandes. Wenn dies geloest werden koennte, wuerde, so glaube ich, die franzoesische Gegnerschaft gegen irgend eine Art von Zentralverwaltung in Deutschland wohl verschwinden.

Was ist also Englands Plan in Deutschland? Er ist: fuer die Demokratie, wie wir sie verstehen, einzutreten. Diese Demokratie wuerde bestimmt eine sozialistische Form annehmen und wuerde Bodenreform und Verstaatlichung der Industrie mit einbegreifen.

Ich glaube zuversichtlich, dass, wenn wir die Lebensmittel bekommen, um die Deutschen zu ernaehren und die Raeder der Industrie wieder in vollen Gang zu bekommen, die Chance, dass die Demokratie doch die Oberhand behalten wird, ausgezeichnet ist ..."

"Wenn aber die Deutschen weiter ohne Hoffnung und ohne die nacktesten Existenzmittel bleiben, dann muss die Zukunft in der Tat dunkel sein, und man kann nicht wagen, auch nur daran zu denken, was geschehen mag. Wenn England und die uebrige Welt in Frieden und Wohlstand leben sollen, dann muessen wir an das Problem Deutschland mit Kraft und Energie herangehen - und jetzt herangehen."


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[Hinweis]

An unsere Leser!

Unsere vollstaendige Ausgabe der "Deutschland-Berichte", von der SOPADE in Prag und Paris von 1934 bis 1940 herausgegeben, sind in London ein Opfer des "Blitzes" geworden.[22] Wir wollen eine neue Gesamtausgabe zusammenstellen und bitten alle Freunde, uns einzelne Nummern der "Deutschland-Berichte", "Deutscher Nachrichtendienst"[23], "Informationsblaetter"[24], "Sozialistische Aktion", "German Monthly Reports"[25], "Rapports d'Allemagne"[26] und sonstiges, von der SOPADE herausgegebenes illegales Material zur Verfuegung zu stellen an Wilh. Sander, 33, Fernside Ave., London NW7.

[Seite: - 18 - ]

zur 'Enteignung der Betriebe der Nazi- und Kriegsverbrecher' wurde ebenfalls am 30. Juni abgehalten und hatte das erwartete Ergebnis, da alle drei zugelassenen Parteien und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund eine gewaltige Propaganda entfaltet hatten und ueber die zur Entscheidung stehende Frage kaum zweierlei Auffassungen bestanden. Das Ergebnis war:

Im Bundesland abgegebene Stimmen

3.459.658

das sind

94,0%

 

Fuer ja stimmten

2.683.401

das sind

77,7%

Fuer nein stimmten

571.600

das sind

16,5%

Ungueltige Stimmen

204.657

das sind

5,8%



Hier einige Einzelergebnisse:

     

Ort

Stimmber.

%

"Ja"

"Nein"

Ungueltig

Dresden

399.994

94,0

258.589

44.641

 

16.614

 

Leipzig

433.237

92,0

283.453

95.014

(!)

23.044

(!)

Chemnitz

179.140

94,5

139.941

21.269

 

?

 

Bautzen

25.334

94,5

18.274

4.509

(!)

1.216

 

Freital

27.766

93,2

22.192

2.436

 

1.291

 

Auerbach/V

85.887

94,5

59.756

15.623

(!)

6.047

(!)

Auffaellig sind die hohen Ziffern ungueltiger Stimmen, sie koennen in einigen Orten sicher z.T. als Neinstimmen aufgefasst werden, wie z.B. in Leipzig oder Auerbach; auffaellig sind ferner die schwache Beteiligung in Meissen mit 84% und der grosse Anteil an "Nein"-Stimmen in Leipzig.


SPD-Kurzmeldungen:

Von 3.050 auf 6.271, also auf mehr als das Doppelte, erhoehte der Unterbezirk Recklinghausen der SPD in 5 Monaten seinen Mitgliederstand. Den groessten prozentualen Zuwachs erreichte die Ortsgruppe Hervest-Dorsten (von 44 auf 177 Mitglieder), den zahlenmaessig groessten die Ortsgruppe Herten (von 212 auf 451). Fuenf neue Ortsgruppen fuehrten der SPD insgesamt 379 Mitglieder zu.

Die Jugend findet den Weg zur Selbstverwaltung. 500 Jugendliche der "Volksjugend"[27] bauten Pfingsten im Grosszeltlager Steinhude unter dem Motto: "Freundschaft", "Ordnung" und "Solidaritaet" ihre Jugendrepublik auf. Sie lebten in diesen drei Tagen ein freies Jugendleben nach den freiwilligen Gesetzen ihres gewaehlten Lagerparlaments.

Totenliste

Wieder hat der Tod zwei unserer besten Freund hinweggeholt. Am 24. Mai starb der ehemalige Praesident des Badischen Landtages, Georg Reinbold im 61. Lebensjahr in New York.

In London starb am 1. Juli der ehemalige Bibliothekar und Archivar des PV, Genosse Fritz Salomon[28]. Auch in der Heimat werden unsere Genossen diese beiden Toten in hohen Ehren halten.




Issued by the London Representative of the SPD.,
33, Fernside Avenue, London N.W.7. Tel: MIL1 Hill 3915






Editorische Anmerkungen


1 - Im Originaltext: "CUD".

2 - = Liberaldemokratische Partei Deutschlands, gilt nur für Hessen. In Württemberg-Baden nannten sich die Liberalen Demokratische Volkspartei (DVP), später - wie in Hessen - FDP.

3 - Die Arbeiter-Partei (AP) war eine nach Kriegsende in Offenbach gegründete linke Organisation, die überregional wirken sollte, aber auf Offenbach beschränkt blieb.

4 - = sog. überparteiliche Zeitungen mit mehreren Lizenzträgern, die verschiedenen politischen Richtungen angehörten.

5 - Das Erfurter Programm wurde im Oktober 1891 auf dem SPD-Parteitag in Erfurt angenommen. Mitarbeiter an den Programmentwürfen u.a. Karl Kautsky (theoretischer Teil) und Eduard Bernstein (praktischer Teil).

6 - Der Fundort des Artikels stimmt so nicht. Die Zeitschrift heißt: "The World Today" und hat den Untertitel "Chatham House Review". Sie wird vom Royal Institute of International Affairs (London) seit 1945 herausgegeben.

7 - Ein hektographierter Text dieses Schumacher-Artikels (datiert 31.5.1946) befindet sich im Schumacher-Nachlass des AdsD der FES. Veröffentlichungen in Zeitungen konnten nicht ermittelt werden.

8 - = Georges Bidault.

9 - James Francis Byrnes (1879 - 1972), amerikanischer Politiker (Demokrat) und Außenminister von 1945 bis 1947, 1951-1955 Gouverneur von South Carolina.

10 - Die Konferenz der vier Außenminister tagte im April/Mai 1946 in Paris. Neben den erwähnten Personen nahm auch der sowjetischer Außenminister W. Molotow teil.

11 - Die "Gewerkschaft der kaufmännischen, Büro- und Verwaltungsangestellten" gehörte ursprünglich dem FDGB an.

12 - Die "Freie Gewerkschaft" war von Oktober 1945 bis Dezember 1946 das Organ des FDGB; wurde fortgesetzt durch die "Tribüne" (Berlin), die bis 1991 erschien.

13 - "Socialist Commentary" (London) erschien monatlich ab 1941; ursprünglich ein Organ der britischen ISK-Gruppe (Socialist Vanguard Group).

14 - Kenneth Strong (geb. 1900), brit. Berufsmilitär, vor dem Krieg u. a. Militärattaché in verschiedenen europäischen Ländern. Von 1945-1947 "Director General of Political Intelligence, Department of Foreign Office".

15 - Die German Educational Reconstruction (GER) war seit 1943 eine auf breiter Basis wirkende akademisch-wissenschaftliche Vereinigung innerhalb der deutschen Emigration, die sich mit den Grundlagen eines künftigen deutschen Erziehungswesens befasste. Die GER trug vor allem die Umschulungsarbeit in den deutschen Kriegsgefangenenlagern in GB und wurde bis 1958 als Plattform eines deutsch-englischen Gedankenaustausches weitergeführt.

16 - "Star", Londoner Abendzeitung mit liberalen Tendenzen, erschien von 1887 bis 1960.

17 - Englischer Titel konnte nicht überprüft werden; im Schumacher-Nachlass ist der deutsche Titel des Artikels mit "Deutschlands Zukunft" angegeben.

18 - Liselotte Wettig (geb. 1907), Lehrerin, vor 1933 in der ISK-Schule Walkemühle bei Göttingen, 1933 über Österreich nach Dänemark, 1938 nach Großbritannien, 1940-1941 interniert.

19 - Wahrscheinlich handelt es sich um Frida Walter (geb. 1902), geb. Schotz, seit 1940 Ehefrau von Paul Walter (s. d.). Vor 1933 SPD-Mitgliedschaft, dann SAP in Breslau, 1934 Emigration in die Niederlande, 1936 Großbritannien.

20 - = "Neue Ruhr-Zeitung", deren Chefredakteur Brost von 1946 bis 1947 war.

21 - "News of the World", Londoner Sonntagszeitung seit 1843; Tendenz konservativ.

22 - Zu den "Deutschland-Berichten" der Exil-SPD allgemein vgl. Werner Plum (Hrsg.): Die "Grünen Berichte" der SOPADE. Gedenkschrift für Erich Rinner (1902-1982), Bonn 1984.

23 - Der "Deutsche Nachrichtendienst" wurde vom Exilparteivorstand der SPD 1934 bis 1938 in Prag und von 1938 bis 1939 in Paris herausgegeben. Es handelt sich um gekürzte maschinenschriftlich vervielfältigte Miniaturausgaben eines Teils der "Deutschland-Berichte".

24 - Die "Informationsblätter" wurden vom Exilparteivorstand der SPD 1934 bis 1938 in Prag und von 1938 bis 1940 in Paris herausgegeben. Es handelt sich um gekürzte maschinenschriftlich vervielfältigte Miniaturausgaben eines Teils der "Deutschland-Berichte".

25 - Die "Germany. Monthly Reports" erschienen von 1937 bis 1940 (erst Prag, dann Paris). Es handelt sich im wesentlichen um die englische Ausgabe der "Deutschland-Berichte".

26 - Die "Rapports d'Allemagne du Parti Social-Démocrate Allemagne" erschienen von 1939 bis 1940 in Paris. Es waren die französischen Ausgaben der "Deutschland-Berichte".

27 - "Volksjugend" - wahrscheinlich: Tarnbezeichnung für Falken oder Sozialistische Arbeiterjugend. 1945/1946 hatten die Besatzungsbehörden - auch die britischen - mancherorts die Wiedergründung der Falken bzw. SAJ verhindert. Noch 1947 erklärte der Falken-Vorsitzende Erich Lindstaedt (selbst heimgekehrter Emigrant): "Wir haben Gebiete in Deutschland, die heute noch demokratisches Brachland sind. Zum Beispiel Bremen. Dort wurden nach dem Einmarsch der Alliierten neue Gruppen aufgebaut unter dem alten vertrauten Namen 'Sozialistische Arbeiterjugend'. Sie wurden verboten. Später haben die Genossen dort von vorn begonnen. Und heute ist es so, dass diese jungen Menschen dort noch immer nicht unseren Namen tragen dürfen. Unter dem Rockaufschlag tragen sie unser Falkenabzeichen, in der Jackentasche eine Mitgliedskarte mit irgendeinem sinnlosen Namen, nur um den Vorschriften Rechnung zu tragen."

28 - Friedrich Salomon (1890 - 1946), seit 1919 SPD-Mitglied, nach Studium 1921 bis 1924 Angestellter der Darmstädter und Nationalbank in Breslau, 1924-1928 Privatsekretär des früheren SPD-Innenministers von Preußen Wolfgang Heine, 1928-1933 Mitarbeiter des SPD-Archivs in Berlin, Juni 1933 Emigration in die CSR, dort Aushilfsarbeiten für die Sopade und das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, 1939 nach Großbritannien.



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