Nr. 18 - 1940

October 1st

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This news-letter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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Tag für Tag und Nacht für Nacht greift die "Luftwaffe" Hitlers die britischen Inseln an, und allnächtlich dringen die Angreifer im Schutze der Dunkelheit nach London vor, um ihre Bomben auf die Häuser und Strassen der Hauptstadt abzuwerfen. Tausende von Opfern haben diese mörderischen Attacken auf die Zivilbevölkerung gefordert, Hunderte von Häusern sind zu Ruinen geworden, und ihre einstigen Einwohner, soweit sie am Leben blieben, müssen sich neue Heimstätten suchen, nicht sicher, dass auch diese einem neuen Angriff der Nazi-Flieger ausgesetzt sein werden. England, und insbesondere London, ist zum Schlachtfeld geworden, und der Donner der Geschütze, den die Londoner Nacht für Nacht hören können, ist die Begleitmusik zu dem fortgesetzten Massenmord, der auf Befehl Hitlers begangen wird, - und zugleich ein Zeichen dafür, dass hier in England ein Widerstand geleistet wird, wie ihn Hitler bisher noch nicht gefunden hat. Mehr als ein Monat ist seit dem Termin vergangen, den sich Hitler angeblich für seine Landung in England gesetzt hatte, der Sommer ist zu Ende gegangen, ohne dass die angekündigte Invasion auch nur gewagt wurde, und inzwischen ist die Antwort auf die Bombenwürfe in London auch in Berlin selbst schon wiederholt von den britischen Fliegern erteilt worden.

Wir alle sind Zeugen einer der Entscheidungsschlachten der Geschichte geworden. Hält die Verteidigung Englands stand, muss Hitler seine "Luftwaffe" hinopfern, ohne mehr zu erreichen als zu den vielen von ihm in Deutschland und auf dem Kontinent Gemordeten noch Tausende auf den britischen Inseln zu fügen, dann kann der Wendepunkt des Krieges erreicht sein.

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Die Rückwirkungen auf das vom Siegesrausch der Nazis betäubte deutsche Volk, die Rückwirkung auch auf die Haltung der Neutralen und der von Hitler unterworfenen nicht-deutschen Völker wären nicht abzusehen.

Es ist hier oft schon auf die möglichen Wendungen hingewiesen worden, die in naher Zukunft zu erwarten sind, wenn Hitler eine schnelle Entscheidung nicht gelingt. Die fortschreitende Annäherung Amerikas an den Krieg, den jetzt das britische Weltreich führt, ist in dem Austausch amerikanischer Zerstörer gegen britische Flottenstützpunkte im westlichen Atlantik erneut zum Ausdruck genommen. Der zu erwartende Konflikt im Fernen Osten ist durch das Eindringen der Japaner in Französisch Indochina und einen drohenden neuen Angriff auf China von Süden her in nächste Nähe gerückt.[1] Die dort geschaffene Situation berührt nicht nur Indien, sie berührt auch die Interessen Amerikas und sie kann sehr bald die Sowjetunion bedrohen, die, einer verblendeten Politik folgend, die Gefahren noch gefördert hat, denen sie sich bald genug gegenübersehen wird.

Inzwischen ist die Nazi-Diplomatie, die offenbar selbst nicht mehr mit einer schnellen Entscheidung rechnet, um eine Erweiterung der "Achse" bemüht. Ribbentrop wirbt nach seinem "Erfolg" mit Japan nun mit verstärkter Kraft um Spanien, und das Dritte Reich versucht, nach der Teilung Rumäniens und Verjagung des Königs Carol seine Vorherrschaft im Balkan mit Hilfe Ungarns und Bulgariens aufzurichten.[2] Die Italiener haben unterdessen Aegypten angegriffen, aber, obgleich die ägyptische Regierung den Angriff noch nicht mit einer Kriegserklärung beantwortet hat und die Verteidigung des Landes britischen Truppen, Flugzeugen und Schiffsgeschützen überlassen hat, nur unbeträchtliche Erfolge erzielt. Ein Grossteil der französischen Kolonien in Zentralafrika und manche anderen französischen Besitzungen in Uebersee haben sich gegen die Hitler hörige Regierung von Vichy erklärt.[3]

Vergessen wir im Donner der Londoner Geschütze nicht, dass wir auf dem Schlachtfelde eines Weltkrieges sind, der schon heute in drei Erdteilen geführt wird und der die zwei übrigen (Amerika und Australien) auch in naher Zukunft zum Kriegsschauplatz machen kann. Aber bleiben wir uns bewusst, dass von dem Ausgang des Kampfes

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um Grossbritannien der Ausgang dieses Weltkrieges entscheidend abhängt. Der Mut und die Zähigkeit, mit denen hier standgehalten wird, die Entschlossenheit und Festigkeit, mit der hier Opfer ertragen und Angriffe abgewehrt werden, die Umsicht, mit der hier Massnahmen ergriffen und durchgeführt werden, sind ausschlaggebend für die Zukunft der Welt, für Sieg oder Untergang der Demokratie, für Triumph oder Zusammenbruch der Diktatur.

Es wird vermutlich noch ein weiter Weg bis zur Entscheidung in diesem Kampfe sein, und viele schwere Opfer werden gebracht werden müssen. Es muss für uns als deutsche Kämpfer gegen Hitler klar sein, dass wir jedes Opfer, das dem Kampfe gegen Hitler nützt, zu bringen bereit sind, und dass wir alles tun müssen, um uns der Situation, in die wir gestellt sind, würdig zu erweisen. Seit die Armada des spanischen Tyrannen Philipp an Englands Küsten erschien, um - nach Schillers Worten - "der Unterdrückung letzten Felsendamm, der Freiheit Paradies, der Menschenwürde starken Schirm" zu zerstören, hat England keine schicksalsschwereren Stunden erlebt als diese, und nie hat Englands Haltung und Schicksal mehr für die Zukunft der Welt bedeutet als heute.

die für die politischen Flüchtlinge in Frankreich von Amerika aus geleistet wurde, ist dem Bestehen und der Tätigkeit zweier sozialdemokratischer Organisationen in [den] USA zu verdanken, dem "Jewish Labor Committee" und der "German Labor Delegation", die aus Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands besteht und die durch ihre Verbindungen zur "American Federation of Labor" (Präsident William Green) die Möglichkeit hatte, nicht nur für sozialdemokratische, sondern auch für andere politische Flüchtlinge die Hilfe der amerikanischen Regierungs-Behörden herbeizuführen. Auch finanziell leisten unsere Freunde in [den] USA wirksame Hilfe, um möglichst vielen politischen Flüchtlingen in Frankreich das Leben zu retten und die Reise nach Uebersee zu ermöglichen.

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Während das Schicksal der Genossen, die sich während des Einfalls der Nazi-Armee in Frankreich aufhielten, bisher noch ungewiss war, sind wir jetzt in der Lage, mitzuteilen, dass einige Mitglieder des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Lage waren, Frankreich zu verlassen und sich in einem neutralen Lande befinden, von wo sie die Möglichkeit haben werden, die Reise nach Amerika anzutreten.[4]

Ueber die Lage jener Genossen, die noch immer auf französischem Gebiet sind, lässt sich zurzeit nichts Sicheres sagen. Leider wird ein Teil von ihnen noch immer in Internierungslagern festgehalten, wo sich die Verhältnisse immer mehr zu verschlimmern scheinen und von wo aus es unmöglich ist, in den Besitz eines Visums zu gelangen, auch wenn es von einer ausländischen Regierung bereits bewilligt ist. Die französischen Behörden weigern sich auch sonst in vielen Fällen, die Ausreisebewilligung für politische Flüchtlinge zu gewähren.

Es ist eine grosse Hilfsaktion für politische Flüchtlinge in Frankreich im Gange, die von Amerika aus organisiert ist, und wir hoffen, dass unsere Genossen in möglichst grosser Zahl von ihr erfasst werden können.

Aus begreiflichen Gründen unterlassen wir es, über die uns bekannt gewordenen Einzelheiten zu berichten.[5]

Wir tragen bei dieser Gelegenheit die traurige Botschaft nach, dass Siegmund Crummenerl, der langjährige Kassierer des Parteivorstandes, noch vor der Besetzung von Paris an einer schweren Krankheit verstorben ist.[6] Seine aufopfernde Arbeit für die Partei wird über alle schweren Schicksalsschläge dieser Zeit hinweg unvergessen bleiben.

Aus Schweden berichteten uns unsere Freunde von den schweren Verlusten unter unseren Genossen nach der Besetzung Dänemarks durch die Nazis. Erich Alfringhaus, der ehemalige Leiter des Sozialdemokratischen Pressedienstes in Deutschland, verstarb in der Gestapohaft im Gefängnis in Kopenhagen.[7] Andere Genossen sind noch dort in Haft, andere sind durch die Gestapo ins Dritte Reich überführt worden.

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In der letzten Nummer der SM haben wir über die im zweiten Weissbuch über die Freilassungsmöglichkeiten für Internierte (Cmd. 6223) enthaltene neue Kategorie 19 berichtet, die vorsieht, dass Internierte vom Home Office freigelassen werden können, "über die ein Tribunal, das zu diesem Zwecke vom Innenminister ernannt wird, berichtet, dass genügend über ihre Vergangenheit bekannt ist, um zu beweisen, dass sie durch ihre Schriften oder Reden oder politische oder amtliche Tätigkeit ständig, Jahre hindurch, einen öffentlichen und hervorragenden Anteil an der Opposition gegen das Nazi-Regime genommen haben und der Sache der Alliierten freundlich gegenüberstehen". Inzwischen ist dieses Tribunal vom Innenminister eingesetzt worden. Den Vorsitz führt der namhafte internationale Jurist Sir Cecil Hurst.[8] Die Mitglieder sind: Mr. Kirkpatrick[9], der Sachverständige des britischen Aussenministeriums für deutsche Angelegenheiten, Mr. McFadyean[10] und Professor Seton-Watson[11] der Vorsitzende des slawischen Instituts des London University College und bekannte Freund der Tschechoslowakischen Republik und ihres ersten Präsidenten T. G. Masaryk.

Da der Innenminister Sir John Anderson im Unterhaus mitteilte, das Tribunal werde, wenn es das für richtig halte, den Rat und das Zeugnis von führenden politischen Flüchtlingen einholen können, haben sich sowohl die deutschen als auch die österreichischen Sozialisten und Gewerkschaftler zur Bildung je eines Komitees entschlossen, das dem Tribunal auf Wunsch zur Beurteilung und Bestätigung der Angaben zur Verfügung stehen wird, die von den Internierten gemacht werden, die sich in ihren Anträgen auf ihre Tätigkeit als Sozialdemokraten und Gewerkschaftler berufen.

Die Bildung und Zusammensetzung der beiden Komitees ist auf Anregung der Labour Party erfolgt. Das Komitee der deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, in dem ein Genosse den Vorsitz führen wird, der Jurist ist und die britische Staatsangehörigkeit besitzt, wird aus je einem Vertreter der Deutschen

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Sozialdemokratischen Partei, der Freien Gewerkschaften und der "Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft" und aus einem grösseren Kreis von Fachleuten bestehen, die zu den ihnen bekannten Einzelfällen gehört werden sollen.

Es sei bei dieser Gelegenheit noch einmal wiederholt, dass nach der Vorschrift des Weissbuches die Anträge auf Freilassung unter Kategorie 19 von den Internierten selbst, und zwar sehr gründlich, ausführlich und beweiskräftig, schriftlich an: Under Secretary of State, Aliens Dept., P.O.Box 100, Paddington District Office, London W2, gerichtet werden sollen.

Aus den Ergebnissen der Sammlung des International Solidarity Fund für internierte sozialistische und freigewerkschaftliche Flüchtlinge konnte Anfang September abermals ein Betrag von durchschnittlich 10 sh an etwa 100 Internierte gesandt werden. Da die Freilassungen aus der Internierung sehr langsam vorangehen und die gesammelten Gelder geringer geworden sind, ist es leider nicht sicher, ob im Oktober wieder ein gleicher Betrag wird verschickt werden können. Wir möchten bei dieser Gelegenheit alle unsere Leser, die dazu in der Lage sind, um Beiträge zu unserer Sammlung bitten, und wir machen wiederum darauf aufmerksam, dass in Room 62, Bloomsbury House, London WC1, Sammellisten für jene Freunde erhältlich sind, die Gelegenheit haben, unter ihren Freunden und Bekannten für unsere internierten Genossen zu sammeln.

Es sei an dieser Stelle allen gedankt, insbesondere unseren Freunden im Pionierkorps, die zu dem bisherigen Ergebnis unserer Sammlung beigetragen haben.

leisteten: H.G., London, -/6; BTUC 7/6; Stenc 9/9; Ann G. 1/-; March. 1/-; Antonie H. 2/6; R.R., London, 10/-. Dank allen Spendern.




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Am 23.9.1940 überschritten japanische Truppen mit Billigung der Vichy-Regierung die Grenze zu Französisch-Indochina, um den japanischen Feldzug in China zu unterstützen.

2 - Anfang September 1940 hatte auf deutschen Druck hin König Carol den späteren Marschall Ion Antonescu (1882 - 1946) zum Staatsführer ernannt. Der König dankte zu Gunsten seines Sohnes Michael ab.

3 - Ende August hatten sich beispielsweise die französischen Kolonien des Tschad und Kameruns für eine Fortsetzung des Kampfes gegen die Deutschen auf Seiten Englands (De Gaulle) ausgesprochen.

4 - Beispielsweise Hans Vogel und Erich Ollenhauer, die es allerdings vorzogen, sich von Portugal nach Großbritannien zu begeben.

5 - Vgl. Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, München - Wien 1986. Der Amerikaner V. Fry (1907 - 1967) war führend an dieser Rettungsaktion beteiligt. Sein Erlebnisbericht ("Surrender on Demand") erschien 1945 in New York. Titel der deutschen Übersetzung s. o. Fry arbeitete für das sog. Emergency Rescue Committee, das im Juni 1940 - nach der Kapitulation Frankreichs - in New York entstanden war und dessen Zweck darin bestand, antifaschistische Emigranten aus Frankreich herauszubringen.

6 - Siegmund Crummenerl (1892 - 1940), Beruf: Graveur, frühzeitig in der Arbeiterbewegung tätig (SPD und DMV / Deutscher Metallarbeiter-Verband), Parteikassierer beim PV ab 1932, im April 1933 von der Reichskonferenz der SPD als Mitglied des neu gewählten Parteivorstandes bestätigt, ab 1933 Exil in der CSR, dann ab 1938 Frankreich, 1935 ausgebürgert, entschiedener Gegner einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten bzw. linkssozialistischen Gruppen.

7 - Erich Alfringhaus (1897 - 1940), Journalist, SPD-Mitglied, 1924-1933 Redakteur des "Sozialdemokratischen Pressedienstes", Juli 1933 Emigration nach Dänemark, 1939 ausgebürgert, 1940 bei einem Fluchtversuch nach Schweden festgenommen, nahm sich vor der Deportation nach Deutschland das Leben. Im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 wird als Todesjahr 1941 angegeben.

8 - Cecil James Barrington Hurst (geb. 1870), Jurist, 1943-1944 Mitglied der Alliierten Kommission zur Untersuchung der Kriegsverbrechen.

9 - Ivone Kirkpatrick (1897 - 1964), Diplomat, 1950-1953 britischer Hoher Kommissar für Westdeutschland.

10 - Andrew McFadyean (1887 - 1974), 1920-1924 britisches Mitglied der Alliierten Reparationskommission, 1940-1941 beim Home Office.

11 - Robert William Seton-Watson (1879 - 1951), britischer Slawist und Historiker.



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