May, 30th

No. 11 - 1940

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This news-letter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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Die neue britische Regierung mit Winston Churchill an der Spitze und mit den Labour-Ministern Attlee, Greenwood, Alexander, Bevin und Hugh Dalton im Kabinett, steht der Aufgabe gegenüber, alle Kräfte des Landes zur Durchführung des Krieges, zur Abwehr der von aussen und innen drohenden Gefahren und zum Siege über das Hitlerregime zusammenzufassen. Der Ernst der Situation und die Grösse der Aufgabe erforderten ausserordentliche Vollmachten, wie sie keine englische Regierung seit Jahrhunderten besessen hat. Am 22. Mai hat Mr. Attlee als stellvertretender Führer des Unterhauses den Entwurf eines Ermächtigungsgesetzes vorgelegt, der dahin ging, der Regierung die Vollmacht zu geben, über Eigentum und Person der Bürger nach ihrem Ermessen zu verfügen und diese Vollmacht bis zum Juni nächsten Jahres auszudehnen. Das bedeutet, dass die britische Regierung de[n] Besitz und die Arbeitskraft der Einwohner des Landes dort einsetzen kann, wo es die Situation nötig macht, und diese Bestimmung wird sich, wie Attlee am Schluss seiner Rede sagte, auch auf gewisse Klassen von Flüchtlingen erstrecken. Beide Häuser des Parlaments haben den Gesetzentwurf im Laufe eines Tages durchberaten und angenommen.

Auf Grund dieses Gesetzes soll die Kriegsproduktion ausserordentlich erhöht, das noch brachliegende Kapital und die noch ungenützte Arbeitskraft in die Produktion eingesetzt und die Herstellung kriegswichtigen Materials auf ein Maximum gebracht werden. Eine besondere Aufgabe ist dabei dem neuen Arbeitsminister Ernest Bevin, dem bisherigen Führer der Transportarbeitergewerkschaft[1] zugefallen, der einen Plan zur Mobilisierung der Arbeits-

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kraft ausgearbeitet hat und ihn am vorigen Sonnabend vor einer Konferenz der Gewerkschaftsvertreter vortrug, die ihm einmütig ihre Zustimmung gaben. Unter dem Vorsitz des stellvertretenden Führers der Labour Party und jetzigen Ministers Greenwood wird ein Produktionsrat gebildet, der die oberste Kontrolle über die gesamte Wirtschaft und Arbeitsverteilung des Landes hat. Er wird die von der Kriegs- und Rüstungslage bestimmten Instruktionen für den notwendigen Produktions- und Arbeitseinsatz geben. Unter Bevins Vorsitz wird ein Arbeitseinsatz-Ausschuss (Labour Supply Board) gebildet, der mit den Gewerkschaften und Unternehmern zusammenarbeiten wird. Die Aufgabe des Ausschusses und seiner lokalen Vertretungen im ganzen Lande wird die Dirigierung der Arbeitskräfte in jene Zweige der Produktion sein, wo sie am meisten benötigt werden.

Das erste Zeichen der neuen Produktionserhöhung war die Tatsache, dass in Flugzeug- und Munitionsfabriken die Siebentagewoche eingeführt und am Sonntag gearbeitet wurde. Die meisten dieser Fabriken werden in Doppelschichten Tag und Nacht in Betrieb sein. Ein anderes Anzeichen für die Erhöhung des Arbeitseinsatzes war Bevins Appell an die Arbeiter, die früher im Bergbau tätig waren, an ihre alte Arbeit zurückzukehren, wo sie am meisten gebraucht werden.

Was die bisher ungenützte Arbeitskraft der in England befindlichen Flüchtlinge anbetrifft, so wird sich ihr vor allem in der Land- und Forstwirtschaft ein weites Feld eröffnen, und es sind schon Bestrebungen im Gang, Flüchtlinge in grosser Anzahl zu Ernte- und Waldarbeiten einzuteilen.

Die grosse Nazi-Offensive, die mit dem Einfall in Holland und Belgien begann, hat zum Durchbruch durch die nordfranzösische Verteidigungslinie bei Sedan und von da zum Vorstoss an die französische Küste bei Boulogne und Calais geführt. Der Stoss, der anfangs gemäss dem Schlieffen-Plan[2] gegen Paris gerichtet schien, ist also nach Westen abgebogen und gegen die Strasse von Dover gerichtet worden: die Nazi-Armee ist der Taktik Ludendorffs[3] vom März 1918 gefolgt, die auf eine Ausein-

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andersprengung der britischen und französischen Truppen und auf die unmittelbare Bedrohung der englischen Küste gerichtet war. So wie im Frühjahr 1918 der Druck der britischen Blockade zu dieser Taktik veranlasste, so ist diesmal schon im ersten Stadium des Krieges der Versuch erfolgt, einen Stoss zur Nordseeküste zu führen, um England zu bedrohen, dessen Blockademassnahmen den Herrschern des Dritten Reiches offenbar als die ernsteste Gefahr erscheinen.

Dass es Hitlers Armee gelang, bis zum Kanal vorzustossen, ist auf Umstände zurückzuführen, die von den für die Kriegsführung der Westmächte Verantwortlichen mit grösstem Ernst beachtet werden müssen. Die schnelle Besetzung Hollands war nur möglich, weil sich in diesem Lande Agenten Hitlers und Verräter befanden, die mit den Angreifern gemeinsame Sache machten und damit denen eine furchtbare Lektion erteilten, die den Warnungen vor Neutralitätsillusionen, vor dem Glauben an Hitlers Friedensversicherungen und vor Hitlers Verbündeten im Ausland nicht rechtzeitig gefolgt sind. Der Durchbruch durch Belgien nach Nordfrankreich konnte nur gelingen, weil Hitler die neue Angriffstaktik, die Flugzeuge, Tanks und Motorräder kombiniert, mit rücksichtslosem Einsatz anwandte, während seine Gegner sich auf eine veraltete Verteidigungstaktik beschränkten und noch dazu, wie der französische Premierminister Reynaud feststellte, "unglaubliche Fehler" begingen, die zur Absetzung des Generals Gamelin und 15 anderer Generale und zur Ernennung des Generals Weygand, des einstigen Mitarbeiters von Marschall Foch[4] und bisherigen Kommandanten der Orientarmee in Syrien, zum Oberkommandierenden führten. Ihm ist es gelungen, die französische Front an der Somme zu konsolidieren. Ob es ihm gelingen wird, die am Kanal umzingelte britische Armee zu retten, kann im Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, nicht gesagt werden. Der belgische König hat eine Proklamation erlassen, deren Hintergründe vielleicht auf jenem Felde liegen, auf dem Hitler wirksamer noch als auf dem Schlachtfelde seine Kriege führt.

Es hätte keinen Sinn, am Ernst der Situation vorbeizureden. Die Naziarmee steht halbwegs zwischen Paris und London. Englands Küste ist bedroht, Holland und Belgien sind vorerst verloren. Es wäre aber verbrecherisch, sich deshalb einem Pessimismus der Verzweiflung

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hinzugeben. Die einzige Folgerung, die gezogen werden soll, ist: erhöhte Entschlossenheit, erhöhter Widerstandswille und volles Bewusstsein dessen, was auf dem Spiel steht.

Man darf nicht übersehen, dass Hitlers Armee beim Durchbruch im Westen unerhörte Verluste an Menschen und Material hatte, dass ein grosser Teil der vollmobilisierten Armee des Dritten Reiches geopfert wurde, während England sein Kriegspotential bisher nur zum geringsten Teil in die Waagschale warf und somit noch über sehr grosse Reserven verfügt. Der ungeheure Einsatz Hitlers beweist, dass er eine schnelle Entscheidung des Krieges erzwingen will. Die grossen Reserven der Gegenseite begründen die Hoffnung, dass es ihm nicht gelingen wird. Und selbst wenn Mussolini den Augenblick für gekommen erachtet, an Hitlers Seite in den Krieg einzutreten, bleibt die Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Stimmung sich immer stärker einer Hilfsaktion für die Westmächte zuwendet, als Verbündete auf der anderen Seite erscheinen werden.

Vergessen wir nicht, dass territoriale Gewinne für den Ausgang des Krieges nicht entscheidend sind, wie es auch der Krieg von 1914 bis 1918 lehrte. Vergessen wir nicht, dass neben dem Gewinn die Gefahr steht, die jeder in fremdem Land stehenden Armee droht. Und glauben wir daran, dass selbst die teuflischste Angriffstaktik, die Hitler anwendet, eine wirksame Verteidigung und einen Gegenangriff nicht unmöglich macht, wenn seine Gegner sich auf die Erfordernisse der neuen Kriegsführung einstellen.

Niemand kann voraussagen, wie der Kampf weitergehen wird. Niemand kann wissen, wie das Schicksal jedes einzelnen und ganzer Völker davon betroffen sein wird. Nur soviel wissen wir, dass Europas Zukunft vom Ausgang dieses Kampfes abhängt und dass kein Opfer zu gross ist, das für den Krieg gegen Hitler gebracht werden muss. Was immer kommen möge, wir wollen die Zuversicht nicht verlieren und den Glauben daran, dass unsere Ideale, für die wir so oft schon geopfert haben, unbesiegbar sind.

der "Neue Vorwärts" und die "Deutschland-Berichte", können infolge der Ausländermassnahmen in Frankreich vorübergehend nicht erscheinen.

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Das Näherrücken der Gefahr hat die britischen Behörden zum schärfsten Vorgehen gegen jene Kreise im Lande veranlasst, die im Verdacht stehen, als Teilnehmer einer "fünften Kolonne" wirken zu können, als Helfer bei Landungsversuchen der Nazis in England, als Verräter und Agitatoren zugunsten Hitlers. dass man diesmal entschlossen ist, vor niemandem, der verdächtig ist, Halt zu machen, bewies die Verhaftung des konservativen Abgeordneten Ramsay[5] und die Festnahme des Führers der faschistischen "British Union", Sir Oswald Mosley, mit 33 seiner engsten Mitarbeiter nach einer Haussuchung in den Räumen des faschistischen Hauptquartiers in London. Zu gleicher Zeit sind verdächtige Iren in England verhaftet worden. Der Innenminister hat die Vollmacht erhalten, jede verdächtige Person festnehmen und internieren zu lassen. Die Ereignisse in Holland haben bewiesen, wie nötig rechtzeitige Vorkehrungen dieser Art sind.

Dass auch ein Teil der Flüchtlinge in England von den Massnahmen betroffen wurde, ist eine Tatsache, die man bedauern kann, aber aus Gründen, die hier des öfteren erörtert wurden, verstehen muss. Es ist zu hoffen, dass die Internierung derer, die ihre Zuverlässigkeit beweisen können, nur eine zeitweilige Massnahme bleiben wird. Zu den Internierungen aller Deutschen und Oesterreicher, die sich in den an die Ostküste angrenzenden Gebieten aufhielten, ist die Internierung aller männliche[n Deutschen und] Oesterreicher im Alter von 16 bis 60 Jahren gekommen, die von den Tribunalen als "B"-Fälle klassifiziert wurden, also nicht von den Restriktionen befreit waren. In einzelnen Fällen wurden auch "B"-Fälle über 60 Jahre und verdächtige "C"-Fälle interniert. Weibliche Ausländer, die als "B"-Fälle klassifiziert wurden, sind am Montag ebenfalls interniert worden. Die 12 Advisory Committees, die die Aufgaben haben sollten, alle "B"-Fälle nachzuprüfen, werden jetzt die Nachprüfung der als "B"-Fälle klassifizierten Männer über 60 Jahre durchführen.

Die Vermutung, dass unter den Flüchtlingen, die in letzter Zeit aus Holland und Belgien kamen, Naziagenten sind, hat zu einer scharfen Ueberwachung der Flüchtlingstransporte geführt, und eine Reihe von Ver-

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haftungen ist in den Kreisen dieser Flüchtlinge vorgenommen worden. Es ist ausserdem angeordnet worden, dass alle nach dem 9. Mai 1940 in England eingetroffenen Flüchtlinge den Restriktionen unterliegen, die bei Kriegsausbruch für feindliche Ausländer in Kraft traten, was bedeutet, dass sie ohne Polizeierlaubnis nicht reisen dürfen, keine Kamera und keinen Kraftwagen besitzen dürfen. Der Besitz von Schusswaffen ist inzwischen allen Ausländern ohne Ausnahme untersagt worden.

Soviel bisher bekannt ist, besteht Aussicht, dass Internierte, die "C"-Fälle sind und im Ostküstengebiet zur Zeit der Internierung nur auf Besuch waren, freigelassen werden, wenn sie den Nachweis erbringen, dass sie nach ihrer Entlassung in einem Gebiet Aufenthalt nehmen können, das nicht in der Gefahrenzone liegt. Weiter besteht die Möglichkeit, dass Kranke, die interniert wurden, freigelassen werden. Auch Personen, die in der Landwirtschaft arbeiten und nachweisen können, dass sie nach ihrer Entlassung in einem nicht in der Gefahrenzone liegenden Gebiet weiterarbeiten können, dürften die Möglichkeit haben, aus der Internierung entlassen zu werden. Dasselbe gilt von Internierten, die ein Uebersee-Visum besitzen. Ueber die Frage, in welcher Weise man den Internierten Unterstützungen zukommen lassen kann, wird zurzeit von den verschiedenen Flüchtlingsorganisationen beraten.

für Unkostendeckung der SM leisteten: R.T., London, sh 2/-; Sudetend. Soziald. 20/-; Koloman N. 1/-; Lod., London, 3/-; O.S., Farmer, 5/10; Hertha G. 1/-; Dr. B. -/6; H. So. 1/-; Hans H. 2/6; Hans L. 1/6; Seg. -/6. - Wir danken allen Freunden für die Beiträge. - Die Steigerung der Porto- und Herstellungskosten der SM gestattet uns die weitere Zustellung nur an jene Leser, die einen Beitrag geleistet haben.




Angebote erbeten unter L.M. an: International Sol. Fund, Room 62, Bloomsbury House, London W.C.1.

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Am 21. Mai sprach R. Crossman, Redakteur von "New Statesman and Nation" und Abgeordneter der Labour Party, bei der zweiten von der "Sozialdemokratischen Union" veranstalteten Versammlung, die unter dem Vorsitz des Genossen Wenzel Jaksch im Saale der Londoner YMCA stattfand, über die politische Lage der Gegenwart und die Haltung der Labour Party. Crossmans Vortrag in deutscher Sprache war in Inhalt und Form überaus eindrucksvoll, und gerade in einem Augenblick kritischster Spannung wirkten seine ernsten, tapferen und gläubigen Worte ermutigend und dankenswert. Genosse Crossman begann mit der Feststellung, dass er in schwieriger Stunde nicht über die militärische Lage sprechen wolle, die nicht in Händen von Politkern liege, sondern von kämpfenden Armeen entschieden werde. Unsere Pflicht in dieser Stunde sei es, ruhig zu bleiben und nichts zu tun, um die Zuversicht und Entschlossenheit des englischen Volkes zu schwächen. Denn das Volk ist gesund und soll nicht mit den Sorgen der Intellektuellen belastet werden. Daran zu denken, ist die Pflicht der englischen Genossen ebenso wie die der deutschen.

Genosse Crossman sprach dann von der Stellung der Labour Party zum Krieg. Sie hat von Beginn des Krieges an die Stellung eingenommen, diesen Kriege zu bejahen, aber die Regierung, die Führung, jederzeit, wenn nötig, erbarmungslos zu kritisieren. Es hat dabei in den Reihen der Partei manches unklare Gefühl gegeben. Weil die Regierung konservativ war, haben manche guten Sozialisten daran gezweifelt, dass dieser Krieg ihr Krieg sei, und haben gefragt, ob die Männer dieser Regierung wirklich Führer der westlichen Demokratien seien. Hinzu kam die Tradition der sozialistischen Bewegung in England, die im Kampfe gegen die Armee und für christliche Glaubensfreiheit gross geworden ist. Nur wer den Pazifismus der britischen Arbeiterbewegung versteht, wird ihre politische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten verstehen. Für die britischen Sozialisten hat der Völkerbund als Ersatz für den Krieg gegolten; sie glaubten, mit Abrüstung und kollektiver Sicherheit die aussenpolitischen Probleme lösen zu können, und es

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war ein besonderes Missgeschick, dass ihre Forderungen sich durchzusetzen begannen, gerade als die Hitler-Gefahr von Deutschland aus die Welt zu bedrohen anfing. Die Vertreter der jüngeren Generation in der Labour Party, die darauf hinwiesen, dass der Weltfriede nicht von der Tatsache abhänge, dass es Millionen von Pazifisten in England gebe, hatten lange einen sehr schweren Stand.

Die Verwirrung, die so in der Labour Party entstand, war auch mit dem Kriegsausbruch nicht völlig überwunden. Man hatte wenig Vertrauen zur konservativen Regierung, und der alte pazifistische Einfluss wirkte noch weiter. Allmählich wurde klar, dass die konservative Regierung zur Führung einer wirksamen Kriegswirtschaft und eines ernsthaften Krieges nicht fähig war. Aber erst, als man dicht vor dem Abgrund stand, erkannte[n] die Arbeiterschaft und das Volk, dass eine Entscheidung nötig war, und so kam es zur Bildung der neuen Regierung, an der sich die Labour Party beteiligte. Die Einheit und Entschlossenheit, die der Parteitag der Labour Party in Bournemouth zeigte, war erstaunlich. Die Partei ist sich ihrer grossen Pflicht und ihrer grossen Aufgaben klar geworden, die besonders in der Durchführung des Kriegssozialismus und in der Durchsetzung jener Kriegsziele liegen, die sie vor einiger Zeit schon verkündet hat.

Genosse Crossman betonte, dass die Labour Party nie deutschfeindlich war und dass sie es auch heute nicht ist. Sie weiss, dass der Kampf nicht gegen das deutsche Volk geht, und sie weiss, dass sie im deutschen Volk ihre Genossen hat.

Am Schlusse seines Vortrags sprach Genosse Crossman die Mahnung aus, nicht mutlos und kurzsichtig eine Episode des Krieges schon für die Entscheidung zu halten. Es hat im letzten Kriege schlimmere Situationen gegeben als die, in der wir uns jetzt befinden. Und gerade wir Sozialisten dürfen den Glauben nicht verlieren, den Glauben, der in der englischen Arbeiterbewegung mehr noch als in der kontinentalen die Grundlage des Sozialismus ist. Was immer geschehen möge, wir sollen nie vergessen, dass unsere Ideen unsterblich

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sind und dass diese Ideen uns höher stehen als unser persönliches Schicksal.

Auf Wunsch des Redners schloss sich an seinen mit begeistertem Beifall aufgenommenen Vortrag noch eine Aussprache [an], in der Genosse Crossman auf Anfragen Auskunft gab und dabei zur Frage der Propaganda im Kriege (die sich nach seiner Meinung auf die Arbeiterschaft aller Länder konzentrieren sollte) und zur Frage der Kriegswirtschaft (in der er die eigentliche Aufgabe der sozialistischen Regierungsteilnahme erblickt), Erklärungen abgab, die ebenfalls einmütigen und starken Beifall fanden.

Die Aussenpolitik Moskaus ist nach dem "Sieg" über Finnland (dessen Früchte Hitler in Dänemark und Norwegen erntete) auffällig passiv geworden. Wirtschaftliche Bedürfnisse haben die Moskauer Regierung veranlasst, trotz aller vorangegangenen Erklärungen gegen die Westmächte den Wunsch nach Aufnahme von Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit England verlauten zu lassen. Die britische Regierung erklärte sich dazu unter der Bedingung bereit, dass die Sowjetregierung Garantien gebe, dass die von England zu liefernden Waren nicht zur Belieferung Deutschlands verwendet werden. Bisher scheint die Moskauer Regierung eine solche Garantie nicht haben geben wollen, aber sowohl der Londoner russische Botschafter Maiski als auch Molotow selbst sollen Erklärungen abgegeben haben, welche die "Tür zu weiteren Verhandlungen offen lassen". in London soll nun die Absicht bestehen, einen besonderen Unterhändler nach Moskau zu senden, und es ist der Name von Sir Stafford Cripps[6], des früheren Labour-Abgeordneten, der als Organisator einer "Sozialistischen Union" und Agitator für eine englische "Volksfront" mit seiner Partei in Konflikt geriet, genannt worden. Auch der Name des ehemaligen liberalen Premierministers Lloyd George[7] ist genannt worden. - Grosse russische Truppenmassen wurden nach neueren Meldungen von der rumänischen Grenze an die deutsch-russische Grenze in Polen verlegt.
(Sir Stafford Cripps hat bereits England verlassen.)

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Am Dienstag gab Premierminister Churchill im Unterhaus eine Erklärung ab, in der er u.a. sagte: "Ich habe nicht die Absicht, vorzuschlagen, dass wir in diesem Augenblick versuchen sollten, ein Urteil über die Handlungsweise des Königs der Belgier in seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der belgischen Armee zu fällen. Diese Armee hat sehr tapfer gekämpft und hat sehr schwere Verluste erlitten und verursacht. Die belgische Regierung hat sich von der Aktion des Königs losgesagt und sich für die einzig legale Regierung Belgiens erklärt und in aller Form ihre Entschlossenheit verkündet, den Krieg an der Seite der Alliierten fortzusetzen, die Belgien auf dessen dringenden Appell zu Hilfe kamen.[8] Was auch unsere Gefühle angesichts der Tatsachen sein mögen, soweit uns diese bekannt sind, das Gefühl der Brüderschaft zwischen den vielen Völkern, die unter die Gewalt des Angreifers gefallen sind, und jener, die ihr noch gegenüberstehen, wird in besseren Tagen als diesen, die wir durchleben, eine Rolle spielen. Die Lage der britischen und französischen Armeen, die jetzt in eine äusserst schwere Schlacht verwickelt und an drei Seiten und von der Luft aus angegriffen sind, ist offensichtlich ausserordentlich ernst. ... Ich habe nur hinzuzufügen, dass nichts, was in dieser Schlacht geschehen mag, uns in irgendeiner Weise von der Pflicht befreien kann, die Sache, der wir uns ergeben haben, zu verteidigen. Auch soll unser Vertrauen in unsere Kraft nicht zerstört werden, unseren Weg so wie bei früheren Gelegenheiten in unserer Geschichte durch Unglück und Kummer zum endlichen Sieg über unsere Feinde zu bahnen."

Am Mittwoch schrieb Léon Blum im "Populaire": "König Leopold ist weder der Sprecher seines Volkes noch der Millionen von Flüchtlingen, die auf französischem Boden Gastfreundschaft gefunden haben und finden werden. Wäre nicht unsere Treue zu Belgien gewesen, würden wir noch die britischen und französischen Divisionen, die jetzt auf belgischem Boden kämpfen, in unseren Linien haben. Wir werden mit Mut in der Lage sein, die Wirkungen dieses furchtbaren Schlages zu begrenzen. Empörung wird den Mut anfachen."




Issued by the London Representative of the German Social Demo-
cratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Transportarbeitergewerkschaft = Transport and General Workers' Union.

2 - Plan des preußischen Generalfeldmarschalls Alfred Graf von Schlieffen (gest. 1913) für den Fall, dass Deutschland in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt wird. Bei einer hinhaltenden deutschen Verteidigung in den Vogesen und im Osten sollte das französische Heer im Norden durch einen starken rechten deutschen Flügel umzingelt werden. Dabei wurde die Verletzung der belgischen Neutralität in Kauf genommen.

3 - Erich Ludendorff (1865 - 1937), im I. Weltkrieg Generalstabschef an der Ostfront, dann Generalquartiermeister, nach der deutschen Niederlage republikfeindlicher und antidemokratischer Politiker.

4 - Ferdinand Foch (1851 - 1929), Heerführer des I. Weltkriegs, unterzeichnete am 11.11.1918 für die Siegermacht Frankreich im Wald von Compiègne den Waffenstillstandsvertrag mit Deutschland.

5 - Archibald H. M. Ramsay (1894 - 1955), konservatives MP (Unionist) 1931-1945, 1940-1944 in Haft.

6 - Richard Stafford Cripps (1889 - 1952), Labour-MP seit 1931 (bis 1950 Abgeordneter im Unterhaus), 1934 im Vorstand der Labour Party; 1939 wurde der "britische Trotzki" aus seiner Partei ausgeschlossen, 1940-1942 Botschafter in Moskau, 1942-1945 Minister für Flugzeugbau, 1945 wieder in der Labour Party, 1945-1947 Handelsminister, 1947-1950 Schatzkanzler.

7 - David Lloyd George (1863 - 1945), 1916-1922 brit. Premierminister (Liberal Party), nach 1929 in GB politisch einflusslos, sympathisierte temporär mit Hitler.

8 - Die Kapitulation durch Leopold III. erfolgte am 28.5.1940; Belgien wurde unter deutsche Militärverwaltung gestellt, ab Juni befand sich eine belgische Exilregierung in London.



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