Sozialistische Mitteilungen

21. Sept. 1939

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Auf die vorgestrige Rede Adolf Hitlers in Danzig[2] erwiderte gestern Ministerpräsident Chamberlain in seiner Rede im Unterhaus mit folgenden Worten: "Herr Hitler sagte in seiner Rede viel über die humanen Methoden, mit denen er Krieg führt. Ich kann nur sagen, dass Methoden nicht dadurch human werden, dass man sie so nennt und dass die Berichte von der deutschen Bombardierung offener Städte und von Beschiessungen von Flüchtlingen aus Maschinengewehren die ganze Welt empört haben. Was ich in seiner Rede vergeblich gesucht habe, war ein einziges Wort, das gezeigt hätte, dass Herr Hitler der tapferen Männer gedenkt, die bereits ihr Leben in dem Kampf, den er angestiftet hat, verloren haben, oder der Frauen und Kinder, die für immer des Familienoberhauptes beraubt wurden, weil ihr Führer nach Macht dürstet und dieses Begehren befriedigen will. - Ich habe nur eine allgemeine Bemerkung gemacht. Unser grundsätzliches Ziel in diesem Kampfe ist wohlbekannt. Das Ziel ist, Europa von der dauernden Furcht vor dem deutschen Angriff zu befreien und es den europäischen Völkern zu ermöglichen, ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheiten zu bewahren. Keine Drohungen werden uns oder unsere französischen Verbündeten von diesem Ziele abbringen. - Die englische Regierung hat diesen Krieg nicht gewollt. Sie hat, wie die kürzlich veröffentlichten Dokumente[3] beweisen, wiederholt ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung auf dem Verhandlungswege erklärt. Sie beharrte bei den Versuchen, diese Möglichkeit, bis der erste Schlag fiel und sogar noch nachher, zu sichern, aber ihre Anstrengungen wurden durch den unprovozierten und brutalen Angriff Deutschlands auf unsere polnischen Verbündeten zunichte gemacht, und ihre Hoffnungen wurden zerstört."

In der gestrigen Unterhaussitzung gab der Innenminister, Sir John Anderson[4], bekannt, dass hundert "Ein-Mann-Tribunale" eingesetzt werden, um sich mit den 50.000 feindlichen Ausländern im registrierungspflichtigen Alter, die es in Grossbritannien gibt, zu befassen. Der Innenminister erklärte, es sei ihm gelungen, sich den Beistand von etwa 100 Männern mit juristischen Erfahrungen zu sichern, die alle Fälle von Deutschen und Oesterreichern in England studieren werden. Und jeder von ihnen wird als Tribunal die Fälle untersuchen, die in das ihm zugewiesene Gebiet fallen. In London wird es mehrere Tribunale geben - in Bezirken, in denen eine grössere Anzahl von Deutschen und Oesterreichern wohnt. Kein Tribunal wird mehr als 500 Fälle zu untersuchen haben, sodass eine schnelle Übersicht möglich sein wird. Die Polizei wird darauf achten, dass die Einzelheiten jedes Falles dem Tribunal vorgelegt werden können. Die Flüchtlings-Komitees werden den Tribunalen Informationen über die ihnen bekannten Ausländer geben und das "Refugee Joint Consultative Committee" (Vereinigtes Beratungs-Komitee für Flüchtlinge) wird beglaubigte Vertreter als Verbindungsmänner zu den Tribunalen senden, um Auskünfte zu erteilen. Die Tribunale werden darüber entscheiden, ob der Ausländer im Hinblick auf seinen Charakter, seine Sympathien und seine allgemeine Führung interniert werden soll, in Freiheit gelassen werden und vielleicht am National Service teilnehmen soll oder ob er in seine Heimat zurückgestellt werden soll, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Der Innenminister fügte hinzu, dass ungefähr die Hälfte der 50.000 registrierten "Feindlichen Ausländer" in London [wohnt].

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Der "Daily Telegraph" fügt hinzu, dass die Gesellschaft der Freunde (Quaker[5]) jenen Ausländern, die nicht in der Lage sind, britische Freunde zu den Tribunalen mitzubringen, Personen zur Seite stellen will, die den Ausländern vor den Tribunalen Beistand leisten können. Es wird dazu erklärt, dass solche Personen keine Juristen sein sollen.

Infolge des Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion ist es Hitler möglich gewesen, Polen zu überfallen, ohne einen militärischen Misserfolg zu riskieren. Da ausserdem die Rote Armee am 17. Kriegstage den sich hartnäckig verteidigenden Polen in den Rücken fiel, konnte es der Naziarmee gelingen, ihren Überfall nach drei Wochen als erfolgreich beendet zu erklären.[6] Noch immer halten sich Teile der polnischen Armee in Warschau und östlich der Hauptstadt, aber das Schicksal der polnischen Armee war spätestens in dem Augenblick, als die Rote Armee von Osten her in Polen eindrang, besiegelt. - Die englische und französische Regierung haben davon abgesehen, der Sowjetunion als Antwort auf ihren Angriff gegen Polen den Krieg zu erklären, und die Moskauer Regierung hat sich beeilt, trotz ihrer Einmischung in Polen eine erneute Neutralitätserklärung zu geben.[7] Die Weltpresse hat in den letzten Tagen viel über Stalins Absichten und über die weitere Entwicklung in Osteuropa diskutiert. Zum Teil wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass Hitler und Stalin früher oder später wegen der Teilung der polnischen Beute in Konflikt miteinander geraten werden. Manche Stimmen geben der Ansicht Ausdruck, dass die Besetzung Ostgaliziens durch die Rote Armee Hitler am Weitermarsch nach Rumänien hindern werde. Andere wieder sagen voraus, dass Stalin mit Hitlers Zustimmung die baltischen Staaten annektieren werde.[8] Klar ist nur soviel, dass die Haltung der Moskauer Regierung Hitler nicht nur den Krieg gegen Polen, sondern auch den schnellen Sieg über Polen ermöglicht hat und dass es nur der festen Haltung der Westmächte zu verdanken ist, dass Hitler nicht auch in diesem Falle wieder eine ungestrafte Annexion ermöglicht wurde. Das bedeutet, dass der Kampf gegen das Hitlerregime jetzt allein in den Händen der europäischen Demokraten liegt und alle Illusionen über eine Mithilfe der Sowjetunion bei diesem Kampfe durch den Beweis des Gegenteils widerlegt sind. Im heutigen "Daily Herald", dem Blatt der englischen Arbeiterpartei, schreibt W. N. Ewer[9]: Wir müssen die Theorie aufgeben, dass Stalins Politik auf der Opposition gegen den Nazismus, gegen Angriff und Krieg beruht. Wenn es eine Antwort auf das russische Rätsel gibt, die den Tatsachen entspricht, dann ist es diese: dass Joseph Stalin heute ein Imperialist ist. Sein Begehren ist nicht die Wohlfahrt der Sowjetvölker, sondern die Vergrösserung und Expansion des Staates, den er autokratisch beherrscht. Ewer führt weiter aus, dass schon bei der letzten Septemberkrise Stalin den Plan hatte, die Hilfeleistung für die Tschechoslowakei als Vorwand für einen Einfall in Polen zu benutzen und dass der Abschluss des Münchner Abkommens durch England und Frankreich das Ziel der Okkupation Ostpolens und der Ausdehnung der russischen "Interessenspäre" auf die baltischen Staaten im Auge hatte. Da England, Frankreich und Polen dem nicht zustimmen konnten, scheiterten die Verhandlungen, und Stalin schloss den Pakt mit Hitler, weil dieser ihm den geforderten Preis zusagte.

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Die Ereignisse der letzten Tage haben naturgemäss einen starken Einfluss auf die politische Beurteilung der Kommunisten ausserhalb Russlands. Aus Frankreich wird gemeldet, dass zahlreiche Austrittserklärungen ehemaliger Angehöriger kommunistischer Organisationen erfolgen, dass aber ein erheblicher Teil der kommunistischen Funktionäre weiter als Propagandisten für Stalins Politik wirken wollen. Wie der gestrige "Daily Herald" dazu meldet, beabsichtigt die französische Regierung, mit einer solchen Tätigkeit energisch Schluss zu machen. Im "Populaire", dem Blatt der französischen Sozialisten,[10] hat Léon Blum[11] an die Kommunisten die Aufforderung gerichtet, ihre Haltung zu Stalins Verrat eindeutig bekanntzugeben. Erst dann werde man erkennen, ob sie selbst als Verbündete oder Verräter zu betrachten seien. Unter der Überschrift "Farbe bekennen" hat Gerhart Seger[12] in der "New Yorker Volkszeitung"[13] unmittelbar nach dem Berlin-Moskauer Pakt eine Aufforderung an die Volksfrontpolitiker in Amerika und in der deutschen Emigration gerichtet, ihre Stellungnahme zu den Kommunisten bekanntzugeben. Aus Holland kommt die Meldung, dass dort deutsche kommunistische Emigranten von der holländischen Regierung interniert wurden. In England macht sich unter den deutschen Emigranten eine beträchtliche Austrittsbewegung aus den kommunistischen "Gruppen" bemerkbar.

Nach Meldungen der englischen Presse ereignen sich im Gebiete der früheren Tschechoslowakei seit Sonntag fortgesetzt Aufstände gegen die Nazityrannei. Das englische Informationsministerium gab gestern Abend bekannt, dass von den Aufständischen grosser Materialschaden verursacht, Brücken zerstört, Strassen demoliert, Feuerwehrstationen, Eisenbahnmaterial und Fabriken beschädigt wurden und dass es auch zu Bombenattentaten gekommen sei. Den Auftakt zu der Erhebung gaben Arbeiterdemonstrationen, die am Samstagabend in Prag stattfanden und die zu ernsten Zusammenstössen mit den Nazis führten, wobei es zu Schiessereien kam. Die Unruhen dehnten sich auf viele andere Städte in Böhmen und Mähren aus, besonders auf Pilsen, Tabor, Pardubice und Brünn, wo auch Deutsche an den Unruhen teilnahmen. Zahlreiche Verhaftungen sollen vorgenommen worden sein. In Prag sollen Erschiessungen stattgefunden haben.

Am Sonntag ist der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Otto Wels, im Alter von 67 Jahren in Paris gestorben.[14] In der gestrigen Londoner englischen Rundfunksendung wurde ein ehrenvoller Nachruf auf Otto Wels verlesen. Wir werden das Andenken des Toten ehren, indem wir die Ideen, fuer die er kaempfte, am Leben erhalten und der Partei, die er fuehrte, in Treue weiterdienen, bis der Sieg in dem Kampfe errungen ist, den wir fuehren.






Editorische Anmerkungen


1 - Arthur Neville Chamberlain (1869 - 1940), konservativer Politiker, britischer Premier-minister 1935-1940.

2 - Am 19.9.1939.

3 - Am 2.9.1939 war ein amtliches englisches Weißbuch erschienen, das den Gang der Ereignisse, die zum Krieg führten, aus englischer Regierungssicht schilderte.

4 - John Anderson (1882 - 1958), britischer konservativer Politiker, Mitglied der schottischen National Party, 1939-1940 Innenminister, 1943-1945 Finanzminister (Schatzkanzler).

5 - "Quakers" = in der Mitte des 17. Jahrhunderts in England gegen die Staatskirche entstandene christliche Bewegung mit rigorosen moralischen Postulaten (u.a. Verweigerung des Eids und des Kriegsdienstes). Etwa seit 1665 nennt sich die Bewegung in England "Society of Friends" (Gesellschaft der Freunde). Aber auch der ursprüngliche Spottname (Quaker = Zitterer) wird als Selbstbezeichnung verwendet.

6 - Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in das damalige Ostpolen erfolgte am 17.9.1939; die Polen konnten ihm nur einen schwachen Widerstand entgegensetzen. Am 20.9.1939 erklärte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), "die Operationen gegen Polen" für "abgeschlossen".

7 - So erklärte die SU beispielsweise am 19.9.1939, dass sie hinsichtlich ihrer Beziehungen zu GB eine Politik der Neutralität verfolgen werde.

8 - In der Tat wurde in einem geheimen Zusatzabkommen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt festgehalten, dass Litauen, Lettland, Estland und Finnland zur "Interessensphäre" der UdSSR gehörten.

9 - William Norman Ewer (geb. 1885), Journalist (Labour), zu jener Zeit "diplomatic correspondent" (Auslandsredakteur) des "Daily Herald".

10 - "Le Populaire" (Paris), ab 1918 Tageszeitung der französischen Sozialisten, im Juni 1940 verboten, erschien wieder ab 1944.

11 - Léon Blum (1872 - 1940), Schriftsteller, Journalist und Politiker, ab 1902 Sozialist, nach dem I. Weltkrieg Herausgeber von "Le Populaire" und Vorsitzender der französischen Sozialistischen Partei (SFIO), 1929-1940 Abgeordneter der Nationalversammlung, 1936/1937 und 1938 Ministerpräsident einer Volksfrontregierung, die eine Reihe von wichtigen sozialen Reformprojekten verwirklichte, 1940-1942 in französischer Haft, an Deutschland ausgeliefert, 1943-1945 KZ Buchenwald, 1946/1947 nochmals für 2 Monate französischer Ministerpräsident.

12 - Gerhart Seger (1896 - 1967), von Beruf Steindrucker, Frontsoldat im I. Weltkrieg, Gasthörer an der Universität Leipzig, Sozialdemokrat (zeitweise USPD), ab 1920 Redakteur und Chefredakteur an versch. sozialdemokratischen Zeitungen, 1930-1933 SPD-MdR, forderte 1932 in der "Leipziger Volkszeitung" die Ausweisung Hitlers als unerwünschten Ausländer und Hochverräter, März 1933 verhaftet, Juni - Dezember 1933 KZ, Flucht nach Prag (s.w.u.), Exil in Großbritannien und Vortragsreisen durch versch. Länder, ab 1934 Exil in den USA, 1934 ausgebürgert, 1936-1949 Chefredakteur der "Neuen Volks-Zeitung" (New York), Positionen in einigen deutschen Emigrantenvereinigungen in den USA mit Frontstellung gegen Kommunisten und Linksgruppen. Nach dem Krieg Berater des OMGUS (s. d.) und später der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in den USA, Gastprofessor in New Mexico, zahlreiche Vortragsreisen. 1934 hatte Seger im sozialdemokratischen Exilverlag Graphia einen aufsehenerregenden Erlebnisbericht über seinen KZ-Aufenthalt veröffentlicht, der bis 1935 auch in 6 Fremdsprachen erschien. Vgl. Gerhart Seger: Oranienburg. Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten. Mit einem Geleitwort von Heinrich Mann, Karlsbad 1934 (1979 nachgedruckt).

13 - Der Zeitungsname ist hier falsch wiedergegeben. Die "New Yorker Volkszeitung" (Untertitel: Den Interessen des arbeitenden Volkes gewidmet) erschien als sozialdemokratische Tageszeitung in deutscher Sprache von 1878-1932. Sie wurde durch die Wochenzeitung "Neue Volks-Zeitung" abgelöst (1932-1949). Vgl. a. G. Seger.

14 - (Im Alter von 66 Jahren): Otto Wels (1873 - 1939), Tapezierer, früher Beitritt zur SPD und zur Gewerkschaft, 1907-1918 SPD-Sekretär für Brandenburg, 1912-1918 MdR, ab 1913 Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes, November/Dezember 1918 Stadtkommandant von Berlin, 1919-1933 Mitglied der Nationalversammlung bzw. des Reichstags, ab 1919 neben Hermann Müller (s. d.) Vorsitzender der SPD, am 23. März 1933 Rede zum sog. Ermächtigungsgesetz, auf der SPD-Reichskonferenz am 26.4.1933 neben Hans Vogel (vgl. Einleitung) als Parteivorsitzender bestätigt, danach Exil in der CSR, Verlegung des PV (Sopade) nach Prag, 1933 ausgebürgert, ab 1938 Exil in Frankreich, Verlegung des PV nach Paris, in den letzten Lebensjahren zunehmend durch Krankheit behindert. (Zu Antonie Wels, seiner Witwe, siehe SM 26, Ende Mai 1941, Anm. 22). Vgl. u.a. Hans J. L. Adolph: Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894-1939, Berlin 1971.



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