von Almut Wieland-Karimi, FES Berlin
6 .Juni 2002
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Die Menschen in Afghanistan fiebern zur Zeit der großen Sonder- oder Not-Ratsversammlung, der loya jirga, entgegen. Die Euphorie nach der Vertreibung der Taliban und den internationalen Hilfszusagen für Afghanistan in Milliardendollarhöhe weicht langsam einem politischen Realismus. Viele internationale Organisationen wollen den Mittelzusagen erst Zahlungen folgen lassen, wenn es zu einem akzeptablen Verhandlungsergebnis bei der loya jirga kommt. In den Provinzen haben oft altbekannte Kommandanten dank ihrer bewaffneten Truppen weiterhin das Sagen. Dennoch begreifen viele zu Recht diese Situation als eine historische Chance auf Frieden. Sie sehen jedoch auch die Stolpersteine, die es auf dem Weg dahin zu überwinden gilt. Zu diesen zählen die zur Zeit viel diskutierten Fragen der Sicherheit: Wer muss sich bedroht fühlen? Ist das Mandat der ISAF ausreichend? Was wird nach der loya jirga passieren? Wie reagieren dann die vermeintlich zu kurz Gekommenen?
Im Bonner (Petersberger) Abkommen wurde ein "Fahrplan zur Demokratie" mit folgenden Punkten vereinbart. Zuerst wird eine sechsmonatigen Übergangsverwaltung eingesetzt. (Diese ist am 22.12.2001 angetreten.) Dann wird eine Sonder-loya jirga abgehalten, in der eine Übergangsregierung gewählt werden soll. Nach weiteren 18 Monaten wird eine reguläre loya jirga einberufen. Zu guter Letzt erfolgen nach drei Jahren demokratische Wahlen.
Die erste loya jirga wird plangemäß vom 10. bis 16. Juni 2002 stattfinden. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. In allen Provinzen des Landes werden Delegierte gewählt. Für die 1501 Personen starke Versammlung bauen deutsche Experten der GTZ mit Hunderten von afghanischen Helfern auf dem Gelände des Polytechnikums in Kabul die Infrastruktur auf. Die Zelte stehen bereits, die Unterkünfte und der Speisesaal der technischen Universität sowie sogar eine Moschee auf dem Gelände wurden bereits renoviert.
Die internationale Schutztruppe ISAF wird gemeinsam mit der gerade im Aufbau befindlichen afghanischen Polizei das Gelände schützen. Es wird befürchtet, dass ehemalige Taliban, versprengte al-Qaida-Kämpfer oder auch andere Gegner des jetzigen Friedensprozesses versuchen könnten, die loya jirga zu stören. In Anbetracht der massiven ISAF-Präsenz und den umfassenden Sicherheitsvorkehrungen sowie der großen Unterstützung in der Bevölkerung für die Schritte in Richtung Frieden ist jedoch nicht mit ernsthaften Zwischenfällen zu rechnen.
Eine 21-köpfige von den Vereinten Nationen (VN) eingesetzte afghanische Kommission unter dem Vorsitz von Prof. Qasimyar bereitet mit der Unterstützung von UNAMA (United Nations Assistance Mission for Afghanistan) die Ratsversammlung vor. In zwei Wahlgängen werden die Delegierten nominiert. Dies ist eine erste "Demokratieübung", wie ein afghanischer Politiker sagte. Zu Beginn werden von der Bevölkerung eines Verwaltungsdistrikts (uluswali) 20 bis 30 Kandidaten gewählt. Diese wählen dann anschließend unter sich die Delegierten nach einem bestimmten Zahlenschlüssel, der sich nach Größe des Distrikts richtet. Beide Wahlgänge sollen mit Hilfe von mobilen Teams zur Wahldistriktbeobachtung, regionalen Anlauf- und Koordinierungsstellen sowie internationalen VN-Wahlbeobachtern ordnungsgemäß vonstatten gehen. Voraussetzung für eine Kandidatur sind laut dem Bonner Abkommen ein Mindestalter von 20 Jahren, die Fähigkeit des Lesens und Schreibens und die Anerkennung des Bonner Afghanistan-Abkommens. Die Kandidaten dürfen keiner Terrororganisation angehören und nicht an Verbrechen oder Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein.
Neben den Delegierten aus den Provinzen (insgesamt 1051) sind zusätzliche Sitze in der loya jirga u.a. für Frauen, die Führungspersonen der Übergangsverwaltung, Flüchtlinge, Vertreter der sogenannten Zivilgesellschaft, Händler und weitere Interessengruppen vorgesehen.
Die exklusiv für Frauen bestimmte Delegiertenliste verfügt über 100 Sitze. Gemeinsam mit den anderen Listen sowie durch einige Direktkandidatinnen aus den Provinzen werden etwa 180 Frauen (etwa 12%) in der loya jirga vertreten sein. Allein im zentralafghanischen Bamiyan, der Heimat der amtierenden Frauenministerin Sima Samar, wurden fünf weibliche Delegierte gewählt. Dies ist ein zukunftsweisender Schritt, denn bei früheren loya jirga Versammlungen durften immer nur ein Handvoll Frauen dabei sein. Wichtig ist nun, dass die gewählten Frauen, die einen sehr unterschiedlichen Erfahrungs- und Politikhintergrund haben, versuchen, gemeinsame Interessen zu definieren und eine Strategie für deren Durchsetzung zu erarbeiten.
In den Bonner Beschlüssen wurde vereinbart, dass alle Formen von Gewalt, Einschüchterung, Bestechung und Korruption bei der Wahl zur loya jirga verboten sind. Im Zusammenhang mit den Wahlen hat es nach VN-Angaben jedoch bereits acht Tote gegeben. Auch gibt es zahlreiche Berichte von massiven Einschüchterungen nach dem Motto "zieh deine Kandidatur zurück, sonst passiert dir oder deiner Familie etwas". Diese Methoden werden vor allem in den Provinzen von denjenigen angewandt, die bisher schon das Sagen hatten und ihre Macht weiter ausbauen wollen. Ihre Strategie scheint zu sein, möglichst treue Gefolgsleute zu entsenden, damit diese in ihrem Sinne in der loya jirga abstimmen. Es gibt aber auch Positives zu verbuchen. An einigen Orten haben sich Kommandanten zur Wahl gestellt und wurden schlichtweg nicht gewählt.
Insbesondere Frauen, die über keine wirtschaftlichen Mittel verfügen, beklagen, dass Stimmen gekauft würden und sie insofern keine Chance hätten gewählt zu werden. In Kabul erzählt eine Schuldirektorin aus dem wirtschaftlich katastrophal schlecht gestellten Stadtviertel Khair Khana, dass sie eigentlich die Schule und deren Umfeld sowie viele weitere Menschen hinter sich gehabt habe. Aber plötzlich hätten sich gut situierte Kandidaten aus reicheren Stadtvierteln wie Wazir Akbar Khan und Shahr-e Nau als Kandidaten in ihrem Wahldistrikt aufstellen lassen, obwohl sie dort nicht wirklich ihren Wohnsitz hätten. Nach kräftigen Spenden für die Armen, die von ausländischer Hilfe noch keinen Afghani [afghanische Währung] gesehen haben, habe sie die Wahl verloren.
Insgesamt wird geschätzt, dass es bei etwa 50% der Wahlen zu Unregelmäßigkeiten unterschiedlicher Natur gekommen ist. Die VN überlegen gemeinsam mit der 21-er Kommission zur Vorbereitung der loya jirga, ob sie in etwa 25 von 400 Distrikten die Wahlen annullieren sollen. Überdies werden an allen Ecken Stimmen laut, dass es besser gewesen wäre, hätten die VN von vornherein die Delegiertenauswahl in ihre Hand genommen. Fraglich ist, ob die Vorbereitungen durch die VN ausreichend waren, um einen fairen Wahlgang zu ermöglichen. Offensichtlich haben die VN als Wahlüberwacher es nicht geschafft, die im Bonner Abkommen festgelegten Regeln auch durchzusetzen und müssen sich dieses selbst eingestehen. Vielleicht war aber auch die Erwartungshaltung zu hoch. Nach über 20 Jahren Krieg unterwirft sich keiner so leicht von heute auf morgen einem im fernen Bonn geschlossenen Abkommen, für dessen Handschrift zudem die VN und die Amerikaner federführend verantwortlich sind.
Wie bei den VN-Sonderkonferenzen ist auch die loya jirga nicht wirklich ein offener Prozess, bei dem tatsächlich die Ergebnisse ausgehandelt werden. Nach der Tradition wird eine solche Versammlung von den Machthabern und nicht vom Volk einberufen. Zur Zeit herrscht ein intensiver Verhandlungstourismus, bei dem nicht transparent ist, wer mit wem über was redet und wo eigentlich wirklich die Kompromisse gemacht werden und die Kandidatenkür stattfindet. Die Präsenz der USA, in Form von afghanisch-amerikanischen Beratern und einem intensiven Pendelverkehr zwischen Washington und Kabul, ist jedoch mehr als deutlich. Es zeichnet sich ab, dass der Ende April aus dem römischen Exil zurückgekehrte Ex-Monarch die Rolle eines Staatsoberhaupts in der 18-monatigen Übergangsregierung übernehmen könnte. Er gilt als Integrationsfigur, vor allem für die vorwiegend im Süden lebenden Paschtunen, die sich in der jetzigen Regierung unterrepräsentiert fühlen. Weder kann noch will der 87-jährige Zahir Shah aber eine aktive politische Rolle übernehmen. In seiner Familie herrscht zudem ein Machtkampf um sein politisches Erbe. Sein Enkel Mustafa und sein jüngster Sohn Mirwais werden dabei als die aussichtsreichsten Kandidaten gehandelt.
Höchstwahrscheinlich wird Hamid Karzai, der Vorsitzende der jetzigen Übergangsverwaltung und Wunschkandidat vieler externer und interner Spieler sowie des Ex-Königs das Amt eines Ministerpräsidenten übernehmen. Bei seinen zahlreichen Auslandsbesuchen hat er sein Talent und seine Ausstrahlung als Botschafter seines Landes bewiesen. (In Afghanistan ist aber nicht bekannt, dass die Modegazetten ihn zum best gekleidetsten Staatsmann gekürt haben!) Karzai versucht nun, sich mit der Troika aus dem Pandshirtal (Außenminister Abdullah, Innenminister Kanuni, Verteidigungsminister Fahim) zu arrangieren, wobei er seine fehlende militärische Unterstützung zu kompensieren hat.
Gehandelt wird noch eine andere Konstellation, die von den drei Mächtigen aus dem Pandshirtal getragen wird. Diese versucht, den Paschtunen Karzai zum Führer einer gemeinsamen Partei und zum Präsidenten des Landes zu machen, um so den auch paschtunischen Ex-Monarchen auszubremsen. Sicherlich erhoffen sie sich mit einem solchen Schachzug selbst den Posten eines Ministerpräsidenten, wobei der interne Machtkampf unter den dreien nicht entschieden ist. Wichtig ist es, wie auch immer die Konstellation denn aussehen wird, eine ethnische Balance zu erreichen.
Auch der Bruder von Ahmad Shah Masood, der zwei Tage vor den Terrorangriffen auf New York und Washington ermordet wurde, möchte eine Wörtchen mitreden und den ehemaligen Präsidenten Burhanuddin Rabbani wieder auf das politische Podium heben. Wie auch immer der Machtpoker um die Übergangsregierung ausgehen wird, eines kann als sicher gelten: lebte Ahmad Shah Massod noch, wäre er wahrscheinlich eine zentrale politische Figur geworden. Auch so ist er omnipräsent mittels seiner Fotos, die sogar auf den VN-Vertretungen kleben. Aber auch er würde nicht von allen Seiten mit Sympathie betrachtet werden.
Klar ist auch, dass die Zahl der zur Zeit 29 Ministerien um etwa ein Drittel reduziert werden soll, was der Bürokratisierung Einhalt gebieten kann. Ohne Zweifel sinnvoll ist zum Beispiel, das Landwirtschaftsministerium mit dem für ländliche Entwicklung zusammenzulegen, oder auch das Ministerium für Wallfahrten mit dem für Märtyrer. Wahrscheinlich ist, dass auch das Ministerium für Wiederaufbau, dem der deutsch-afghanische Wirtschaftswissenschaftler Farhang vorsteht, wegfällt. Unter Leitung des ehemaligen Weltbank-Mitarbeiters und amerikanisch-afghanischen Ashraf Ghani wurde eine zentrale Anlaufstelle für die Koordination der internationalen Unterstützung für den Wiederaufbau geschaffen. Zweifelsohne zählt Ghani mit dieser Position zu den einflussreichsten Personen.
Einige der altbekannten Führer aus der Mudjahedin-Zeit und ihr Umfeld, die bereits Anfang der 90er die Chance auf Frieden in einen Bürgerkrieg haben enden lassen, akzeptieren das Bonner Abkommen nicht und stören den politischen Prozess, wo es ihnen möglich ist. Die Konfliktbewältigung wird zudem nicht einfacher dadurch, dass eine Bürgerkriegsfraktion für ihren (maßgeblich der internationalen Anti-Terror-Allianz geschuldeten) Sieg belohnt wurde und nun zusätzlich zu der militärischen auch noch die politische Macht erhält. Die ehemaligen Widerstandskämpfer verfügen weiter über Waffen und ihre alten Klientelsysteme. Worüber sie nicht verfügen ist die Expertise, wie ein Land politisch geführt werden sollte. Das Ergebnis ist, dass in einigen Ministerien Personen arbeiten, die sich schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben und in die die Bevölkerung kein Vertrauen hat. Außerdem ist es wenig ermutigend, wenn zum Beispiel in einem Ministerium Dutzende Anfang 20-jähriger derselben ethnischen Gruppe wie der Minister Schlüsselpositionen innehaben, ohne einen Computer bedienen zu können.
Viel wichtiger wäre es jedoch, dass auf der Arbeitsebene Leute säßen, die über Politikkenntnisse und Verwaltungserfahrung verfügen. Insbesondere die Exilafghanen mit ihren im Ausland erworbenen Erfahrungen könnten auf diesen Positionen in der zweiten und dritten Reihe eine wichtige Rolle spielen, bisher jedoch sind sie in einer verschwindend geringen Zahl anzutreffen. Viel systematischer müsste der afghanischen Regierung diese Expertise zugeführt werden, was auch als entwicklungspolitische Aufgabe der gastgebenden Staaten des Exils begriffen werden sollte.
Schwierig in diesem Prozess ist zudem das auch altbekannte "Bäumchen-wechsle-dich" Spiel vieler örtlicher Kommandanten, die ihre Loyalitäten wechseln wie andere ihre Hemden. Heute noch mit einer islamistischen Partei verbündet, entpuppen sie sich am nächsten Tag als Königsanhänger. Oder andersherum, je nach dem, welches Fähnchen gerade besonders attraktiv flattert. Ein anderes Spiel heißt: "Wer nicht mein Freund ist, arbeitet für den feindlichen Geheimdienst." Gerüchte fliegen durch die Luft. Der Nicht-Freund wird verdächtigt, entweder mit dem CIA, dem pakistanischen, iranischen oder afghanischen Geheimdienst, oder auch der Drogenmafia, den Islamisten, den Kommunisten oder anderen Gegnern zu arbeiten. Hierbei handelt es sich um im Kern destruktive Verdächtigungen, schwere Stolpersteine, die die so dringend nötigen vertrauensbildenden Maßnahmen für den Prozess eines Staatsaufbaus behindern.
Inzwischen ist deutlich, dass zwei der vier bei der Bonner Konferenz vertretenen Gruppen eine von den VN und den USA zusammengewürfelte Truppe, die nicht tatsächliche Einflusssphären innerhalb Afghanistans widerspiegeln, waren. Sie befriedigten lediglich die Interessen der Nachbarstaaten, namentlich für Pakistan die Peshawar-Gruppe und für Iran die Zypern-Gruppe.
Gefehlt hat hingegen eine offizielle Vertretung der demokratischen Gruppierungen, die weiterhin sehr aktiv versuchen, sich in das politische Geschehen zu integrieren. Im Gegensatz zu den anderen Fraktionen haben sie jedoch wenig Unterstützung von außen. Positiv zu bewerten ist ihr breites Spektrum. Von Vertretern der Verfassungsbewegung (mashrutiyyat), die es seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt, über ehemalige Kommunisten bis hin zu den demokratischen Flügeln der Nordallianz und der Königsanhänger treten sie nun miteinander in Dialog. Als Hoffnungsträger können sich auch die Vertreter der unabhängigen lokalen Ratsversammlungen aus dem ganzen Land fühlen, die sich in der shura-ye qaumi melli (Nationaler Stammesrat) zusammengeschlossen haben.
Vier dieser Gruppen, die seit Jahren zwangsläufig nur im Untergrund agieren konnten, haben sich vor kurzem mit einer Presseerklärung an die Öffentlichkeit gewagt. In den 80er und 90er Jahren mussten einige der Anführer dieser Bewegung ihr politisches Engagement mit dem Tod bezahlen. Teile dieser Gruppen haben jedoch auch Vorbehalte gegeneinander, so dass sie erst einmal eine gemeinsame Plattform erarbeiten müssen. In Ansätzen gibt es solche Arbeitsergebnisse schon. Obwohl sie nicht an der Macht in Kabul beteiligt sind, unterstützen sie das Bonner Abkommen. Jahrelang haben sie für die Demokratisierung ihres Landes gekämpft und zahlreiche Konzepte analog dem "Fahrplan zur Demokratie" entwickelt. Zu hoffen ist, dass in Zukunft die demokratischen Gruppen von der internationalen Gemeinschaft als Friedenskapazitäten stärker entdeckt und gefördert werden.
Ein anderes Problem ist, dass sich in Kabul Hunderte von Hilfsorganisationen aus aller Herren Länder tummeln. Zum Teil gibt es sogar Konkurrenzen bei der Unterstützung bestimmter afghanischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich einen Zugang zu der internationalen Hilfscommunity verschaffen konnten. Dieser funktioniert vor allem über englische Sprachkenntnisse und die Präsenz in den Vierteln Kabuls, in denen auch die Ausländer verkehren. In anderen Vierteln der Stadt, die als für Ausländer unsicher gelten, herrscht dieselbe Armut und humanitäre Not wie vor dem Beginn der "neuen Zeit" für Afghanistan.
Dasselbe gilt für die Provinzen, da deren Lage von den VN und den Botschaften als unsicher eingeschätzt wird und sich insofern nur vereinzelt Hilfsorganisationen dort hintrauen. Der Wandel besteht in diesen Gegenden lediglich darin, dass die Taliban nicht mehr da sind, und dafür meistens wieder die alten Machthaber aus der Mujahedin-Zeit das Sagen haben. Von der Bevölkerung wird dieses nicht unbedingt als "Befreiung" wahrgenommen. Böse Zungen behaupten, Karzai sei eigentlich der Bürgermeister von Kabul und nicht der Regierungschef des ganzen Landes. Die starke Unterstützung für das Zentrum, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Provinzen kann dazu führen, dass sich diese für autonom erklären und immer eigenständiger zu agieren versuchen.
Ismail Khan, auch ein alter Bekannter aus der Mujahedin-Zeit, regiert wie ein Emir den Westen des Landes. Er profitiert von der gegenseitigen Belauerung der iranischen und der amerikanischen Seite in seiner Region. So kann er sich auf großzügige Hilfe beider Seiten verlassen. Dieses ist sicherlich nicht im Sinne des Bonner Abkommens, wenn an der Zentralregierung vorbei einzelne Kommandanten und warlords unterstützt werden. Auch der ehrerbietige Besuch des US-Verteidigungsministers Rumsfeld in Herat hat die falschen Signale ausgesendet. Khan fühlte sich derart sicher, dass er kurz darauf Demokraten von ihrer Kandidatur für die loya jirga abhielt, indem er sie kurzerhand ins Gefängnis werfen ließ.
Wichtig wäre, konfliktsensitiv zu prüfen, wer von der internationalen Hilfe profitiert, um nicht gewaltbereite Gruppen bzw. Personen zu unterstützen, die das Bonner Abkommen nicht mittragen. Außerdem ist der einseitige Profit einiger weniger, die als Filter für den Zugang zu diesen Mitteln dienen, möglichst auszubremsen, um die Korruption gering zu halten. Es sollte noch viel gezielter und systematischer versucht werden diejenigen Gruppen und Personen zu unterstützen, die aus Überzeugung den Weg hin zur Demokratie beschreiten. So könnte mittel- und langfristig gewährleistet werden, dass das Bekenntnis zur Demokratie nicht nur ein opportunistisches Lippenbekenntnis bleibt, um an die Fleischtöpfe der internationalen Hilfe zu gelangen.
Dazu bedarf es einer möglichst umfassenden Koordination der Hilfe auf deutscher, europäischer, internationaler und auf afghanischer Seite, die über eine sektorale Koordinierung hinaus gehen sollte. Die politische Beobachtung und die Einschätzung der Zuwendungsempfänger sollte stärker Hand in Hand gehen. Besondere Bedeutung erhält dieses in der hoffentlich nahen Zukunft, wenn viel mehr NGOs und staatliche Organisationen auch außerhalb Kabuls arbeiten können, wo die Akteure bisher noch schwerer einzuschätzen sind. Gerade hier ist wichtig, die (exil-)afghanische Expertise einzubeziehen, denn nur ob der intimen Kenntnis der Konfliktgeschichte und der jeweiligen Sprache kann eine eindeutige Zuordnung erfolgen. Es wäre verhängnisvoll, wenn mittels der internationalen Hilfe der Konflikt wieder verschärft würde, indem bestimmte Gruppen besonders profitieren, ethnische Trennungslinien von außen gezogen werden und ganze Regionen instabil bleiben.
Trotz aller Stolpersteine ist das Bild Afghanistans im Frühsommer 2002 nicht nur schwarz zu zeichnen. Krankenhäuser wurden wiederaufgebaut, Tausende Kinder können wieder zur Schule gehen, in den Parks wird Fußball gespielt und am freitäglichen Feiertag machen Familien ihre Ausflüge. Aus Kabul heraus fahren sie beispielsweise in die sehr fruchtbare Shomali-Ebene im Norden, die während der vierjährigen Dürre so braun und trostlos aussah. Heute blühen dort wieder die Obstbäume in einer beeindruckenden Landschaft, die geprägt ist von den schneebedeckten tausende Meter hohen Bergen. Diese erneute Blüte fällt symbolisch mit dem Ende des Taliban-Regimes zusammen, als hätte der Regen die rigiden "Religionsstudenten" gemieden.
Das Straßenbild hat sich in nur wenigen Monaten stark verändert. Die Strassen sind verstopft mit nach Diesel stinkenden Taxis und den weißen Jeeps der Ausländer, aus den Geschäften dringt die obligatorische Schlagermusik einer orientalischen Stadt, und die Kinder rufen fröhlich "Hallo Mister". Ein Kontrastprogramm zum angstvollen "über-die-Straße-Hetzen" der Menschen und an Bäumen aufgehängten Musikbändern während der Taliban-Zeit. Viele der Frauen tragen jedoch weiter die Burqa und auch nur wenige Männer haben ihre Bärte abrasiert. Sie warten erst einmal ab. Sie haben weiterhin Angst und vertrauen den alten Gesellen in der neuen Regierung nicht. Außerdem ist eine Burqa für umgerechnet ca. 2 US$ ein günstiges Kleidungsstück, unter der man die Armut verbergen kann. Das erste magische Ereignis, auf das die Afghanen warten, ist die Sonder-loya jirga. Wie wird die Zusammensetzung der neuen Übergangsregierung und noch wichtiger, wie die Reaktion derer, die nicht daran teilhaben, auf sie aussehen? Bei positivem Verlauf könnten dann weitere Burqas und Bärte fallen.
Ironischerweise haben die traurigen Ereignisse des 11. September in den USA den Boden für die Vertreibung der Taliban, das Bonner Abkommen und den Friedens- und Wiederaufbauprozess in Afghanistan geebnet. Einige Beobachter sind allerdings nach wie vor skeptisch und fühlen sich sehr an die Zeit nach der Absetzung des letzten kommunistischen Statthalters Najibullah erinnert. Auch damals herrschte Aufbruchsstimmung, die Mujahedin hatten einen großen Sieg zu verbuchen und die Bevölkerung hoffte darauf, dass der Krieg nun vorüber sei. Aber die triumphierenden Mujahedin konnten sich nicht einigen, wie sie die neue Macht untereinander aufteilen sollten bzw. jede einzelne Gruppe beanspruchte diese Macht für sich. Die Anrainerstaaten intrigierten zudem kräftig, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Vor diesem Erfahrungshintergrund ist also die Sorge berechtigt, dass Afghanistan ein weiteres Mal aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit in die Peripherie des Vergessens abrutschen könnte.
Der kleine große Unterschied zwischen 1993 und 2002 besteht nun darin, dass die USA sich aufgrund direkter Betroffenheit infolge des 11. Septembers mit der Aufgabe der Terrorismusbekämpfung identifizieren und dies nicht nur politisch abstrakt. Ihre Truppen sind im Land und versuchen vor allem im Südosten, versprengte al-Qaida Kämpfer und Taliban zu finden. Bisher geschieht dies allerdings mit wenig sichtbarem Erfolg. Die USA haben ein ureigenes Interesse daran, dass keine gewaltbereiten islamistischen und dezidiert anti-westlichen Kräfte in Afghanistan nachwachsen und vor allem keine weiteren Ausbildungslager entstehen können. Für dieses Ziel ist es unumgänglich, eine stabile Regierung in Kabul zu haben, die tatsächlich die Kontrolle über das ganze Land auszuüben vermag. Deshalb wurde ein massives Hilfspaket geschnürt, die ISAF aufgebaut und Elitesoldaten in die versprengten Höhlen in den hohen Bergen im Grenzgebiet zu Pakistan entsendet. Alle drei Maßnahmen werden mit verschiedenen Zeithorizonten umgesetzt. Der Einsatz der Elitesoldaten hat ein open end, das ISAF-Mandat ist immer wieder zu verlängern und die Hilfszusagen liegen nur bis Ende 2004 vor.
An dieser Stelle liegen auch zwei Schwachpunkte in der Stabilisierungsstrategie für Afghanistan. Erstens ist die Stationierung der ISAF nur in Kabul unzureichend. Auf die Frage eines Afghanen: "Warum bauen Soldaten in Kabul Kindergärten auf, was doch auch Afghanen könnten, und sorgen nicht in anderen Städten für Ruhe?", gibt es keine befriedigende Antwort. Wenn der Grund in mangelnden Ressourcen für die ISAF liegt, dann ließe sich doch wenigstens die Idee von Brückenköpfen für die zentralen Provinzstädte umsetzen. Dazu müssten einige Soldaten aus Kabul abgezogen werden. Diese selbst sind frustriert, weil sie kein Mandat zur Entwaffnung haben. Dies ist ein Wunsch, der sogar von vielen Kommandanten vorgetragen wird. Dazu bedürfte es jedoch der Weisung durch die VN und einem parallelen Arbeitsbeschaffungsprogramm für die ehemaligen Kämpfer. Hierfür ließe sich auf Erfahrungen in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Kambodscha, zurückgreifen.
Zweiter Schwachpunkt ist die Finanzplanung. Viele Organisationen haben zunächst lediglich Mittelzusagen für das Jahr 2002 gemacht. Ihre Projekte sind mittelfristig nicht planbar, und Zahlungen sollen erst nach erfolgreicher Beendigung der Sonder-loya jirga erfolgen, ein Manko, das auch Bundeskanzler Schröder während seiner kürzlichen Afghanistan-Reise monierte. "Den schönen Worten müssen Taten folgen", so die Kritik vieler Afghanen im Hinblick auf die noch mangelnde Sichtbarkeit der Hilfe.
Fortschritte gibt es bereits bei den Plänen für den Bau einer Öl-Pipeline aus Zentralasien via Afghanistan nach Pakistan und damit dem Zugang zum Meer. Karzai hat erste Verträge unterzeichnet, und die internationalen Ölkonsortien sitzen in den Startblöcken. Dass nicht nur die al-Qaida, sondern auch die umfangreichen Ressourcen in Zentralasien sowie Afghanistans strategische Lage zwischen den mächtigen asiatischen Staaten Russland, China und Indien wiederum die Aufmerksamkeit auf das Land am Hindukusch gelenkt hat, ist wohl niemanden verborgen geblieben.
Es bleibt abzuwarten, wie sich der Kashmir-Konflikt entwickelt und es wäre wohl eine weitere Ironie des Schicksals, wenn demnächst pakistanische Flüchtlinge nach Afghanistan strömten. Eine Eskalation des Konflikts zwischen Indien und Pakistan würde Afghanistan auf alle Fälle weiter destabilisieren. Es bleibt zu hoffen, dass die beiden Kontrahenten zur Vernunft gebracht werden können.
Die Hoffnung und Chance besteht nun darin, dass sich erstens mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft die altbekannten Militärs zu Politikern entwickeln, die ihre Meinungsverschiedenheiten mit Worten und nicht mit Waffen austragen. Zweitens müssten immer mehr demokratische Kräfte eine Möglichkeit erhalten, sich am Friedens- und Wiederaufbauprozess aktiv zu beteiligen. Den Skeptikern am in Bonn vereinbarten Prozess ist hingegen die Frage zu stellen, wie eine bessere Alternative ausgesehen hätte. Zu recht zu kritisieren ist, dass weder die afghanische Übergangsregierung noch die VN ihre Hausaufgaben hinreichend erledigt haben. Derzeit sollte es noch wie in den ersten Klassen der Grundschule gehalten werden: Keine Noten ausstellen, sondern nur Entwicklung, Mitarbeit am Unterricht und häuslichen Fleiß schriftlich beurteilen und Anregungen zur Verbesserung geben. Bis jetzt kann es keine Sitzenbleiber geben, aber blaue Briefe sind allemal zu verschicken, um aus den Stolpersteinen nicht Straßenblockaden werden zu lassen.
Dr. Almut Wieland-Karimi ist gerade von einer Reise nach Kabul zurückgekehrt. Dort hat sie an einer Frauenkonferenz teilgenommen, mit vielen Partnern gesprochen und das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung eröffnet.
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