Kurzberichte aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Asien und Pazifik

Kaschmir: Vehikel des indisch-pakistanischen Konflikts

von Manfred Haack, Friedrich-Ebert-Stiftung Indien, und Gunter Lehrke, Friedrich-Ebert-Stiftung Pakistan
20. Februar 2002

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Die Folgen des 11. Septembers

Nach dem Attentat auf das World Trade Centre in New York ist es weltweit und besonders in Asien zu politischen Positionswechseln gekommen, die das Koordinatensystem der südasiatischen Politik grundlegend verändert haben.

Die indische Regierung hatte mit der umgehend erklärten, in der Öffentlichkeit freilich nicht unumstrittenen Bereitschaft, der amerikanisch geführten Anti-Terrorismus-Koalition beizutreten, erfüllt, was sie der strategischen Partnerschaft mit den USA schuldig zu sein glaubte. Parallel zu der ernüchternden Erfahrung, dass konkrete Angebote von Basen, Flugplätzen und Überflugrechten in Washington mit höflichem Desinteresse quittiert wurden, musste die politische Klasse Indiens allerdings mit ansehen, wie es Pakistan mit einem fulminanten Drahtseilakt seines Militärpräsidenten gelang, das Stigma eines rogue state abzuschütteln und zum Schlüsselpartner der amerikanischen Afghanistan-Kampagne aufzusteigen.

Pakistan hat in der Situation mehr getan als über den eigenen Schatten zu springen. Musharraf hat sich zum Politikwechsel gegenüber Afghanistan und im eigenen Lande entschlossen - zunächst auch auf die Gefahr hin, sein Land in bürgerkriegsähnliche Zustände zu versetzen. Die Optimisten in Pakistan haben schließlich Recht behalten; eine große Solidaritätswelle für die Taliban hat es nicht gegeben. Für Pakistan war dies eine wichtige Selbsterfahrung. Nach dem 11. September und der folgenden Bombardierung Afghanistans durch die USA hatte man in Pakistan nicht ausgeschlossen, dass es den Islamisten gelingen könnte, Millionen zu mobilisieren. Es waren aber nur einige Zehntausende und die Regierung blieb Herr der Lage.

Die Anschläge nach dem 11. September

Am 1. Oktober kamen bei einem terroristischen Anschlag auf das Parlament von Jammu und Kaschmir in Srinagar 38 Menschen ums Leben. Es überrascht nicht, dass alsbald die von Pakistan aus operierenden Gruppen Jaish-e-Mohammad und Lashkar-e-Taiba um die Urheberschaft wetteiferten, wohl aber, dass der pakistanische Präsident Musharraf dem indischen Premierminister Vajpayee telefonisch sein Beileid aussprach. Dennoch bewirkte das Srinagar-Attentat eine kategorische Änderung der indischen Position innerhalb der Anti-Terrorismus-Koalition. Nachdem Indien auf amerikanisches Drängen zunächst zugesichert hatte, den riskanten Seitenwechsel Musharrafs vom Sponsor der Taliban zum Verbündeten der USA nicht als günstige Gelegenheit zum eigenen Vorteil auszunutzen, reklamierte Außenminister Jaswant Singh nun in Washington mit deutlichem Verweis auf Pakistan, dass Indien ebenfalls Opfer des internationalen Terrorismus sei.

Als am 13. Dezember fünf vermutlich aus dem pakistanischen Teil Kaschmirs kommende Terroristen versuchten, das indische Parlament in New Delhi zu stürmen, und dabei schließlich acht Sicherheitsleute und einen Gärtner mit in den Tod nahmen, schien in Indien der Geduldsfaden zu reißen. Im Nachhinein sieht es freilich eher so aus, als hätte man auf ein Ereignis dieser Art geradezu gewartet. Was nämlich folgte, sah wie eine indische Kopie der amerikanischen Überinterpretation des 11. September aus. Die ruchlose Tat einer Handvoll von Selbstmordattentätern verwandelte sich binnen Stunden in einen Angriff auf das Symbol der indischen Demokratie, mithin auf die Demokratie selbst und schließlich in eine Kriegserklärung an die Indische Union. Dieser semantischen Eskalation folgte die planmäßige Steigerung der politischen Feindseligkeiten gegenüber Pakistan.

Das indische Vorgehen wurde auf pakistanischer Seite mit erkennbarer Irritation verfolgt, zumal die dortige Regierung das Attentat umgehend verurteilt und Musharraf in den Grenzen seiner derzeitigen Möglichkeiten sehr wohl begonnen hatte, den Bewegungsspielraum islamistischer Extremisten einzuschränken.

Die Gründe für die dramatische Zuspitzung des Konflikts, die beide Länder pünktlich zu Weihnachten - zumindest rhetorisch - an die Schwelle eines neuerlichen Krieges brachte, liegen freilich überwiegend auf indischer Seite und haben mit dem Überfall auf das Parlament nur mittelbar zu tun.

Das im Sprachgebrauch - Ähnlichkeiten sind rein zufällig - auf das Datum reduzierte und solchermaßen als "13. Dezember" ikonisierte Ereignis gab Indien endlich Gelegenheit, die politisch korrekte Rangordnung wiederherzustellen: "Indien ist Opfer, Pakistan ist Täter".

Obschon diese Übertreibungen erkennbar der öffentlichen Pflege des politischen Selbstbewusstseins dienten, spielte offenbar die ernsthafte Absicht mit, den Drive der amerikanischen Kampagne auf den grenzüberschreitenden Terrorismus in Kaschmir zu lenken. Merkwürdigerweise wurde dabei übersehen, dass ein amerikanisches Engagement in Kaschmir unausweichlich zu eben der Internationalisierung des Kaschmir-Konflikts führen muss, die Indien bisher kategorisch abgelehnt hat.

Ein weiterer, innenpolitischer Grund für das unproduktive indische Brinkmanship (einer Politik des äußersten Risikos) sind die für Februar angesetzten Landtagswahlen in Uttar Pradesh. Nach den bisherigen Umfragen muss die in New Delhi die Mitte-Rechts-Koalition anführende BJP in diesem mit 130 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Unionsstaat mit einer Niederlage rechnen. Zu den ungeschriebenen Gesetzen des indischen politischen Systems gehört aber, dass, wer in Uttar Pradesh verliert, auch auf Unionsebene nicht gewinnen kann.

Konfliktpolitik

In Kaschmir spiegelt sich für Indien wie für Pakistan ein Teil ihrer politischen Identität. Dem einen ist Kaschmir Ausdruck der Spannweite des säkularen Föderalismus, dem anderen Cornerstone des muslimischen Staates in der Erbfolge Britisch-Indiens. Und beide haben dabei das Bedürfnis der Kaschmirer, ihre Identität selbst zu bestimmen, mehr oder weniger verdrängt. Gäbe es sonst keinen Streit zwischen Indien und Pakistan, könnte man sich für das Kaschmirproblem eine konditionierte - etwa von verschränkten indisch-pakistanischen Hoheitsrechten überdachte - Autonomielösung vorstellen.

In Wirklichkeit ist Kaschmir freilich nur Vehikel eines zum Fundamentalkonflikt aufgetriebenen Gegensatzes, der beide Länder zu ihrem Nachteil permanent am Rande eines Krieges gefangen hält. So liefert der unbewältigte Konflikt beiden auch immer wieder den Vorwand, überfällige Reformen auf die lange Bank zu schieben. Nicht von ungefähr fällt die im letzten Jahr zwischen Gipfeldiplomatie und Kriegsandrohung changierende Politik Indiens mit dem offenkundig werdenden Scheitern seiner viel gepriesenen New Economy zusammen. Für Pakistan bleibt Kaschmir wiederum eine Grundfrage, die eng mit der nationalen Identität verbunden ist - wie dort anlässlich des am 5. Februar wieder einmal als Feiertag begangenen Kashmir Day in vielen Reden deutlich gemacht wurde.

Hauptsächlich geht die Verhärtung der indischen Haltung gegenüber Pakistan allerdings auf einen politischen Paradigmenwechsel in der Regierung von Premierminister Atal Behari Vajpayee zurück. In dessen Bharatiya Janata Party (BJP), die eine Koalition von 24 Parteien anführt, scheinen die Hardliner um Innenminister Lal K. Advani, Außenminister Jaswant Singh und besonders Sicherheitsberater Brajesh Mishra die Oberhand gewonnen zu haben. Mishra wird nachgesagt, er habe seit der Regierungsübernahme durch die BJP nur zwei Ziele verfolgt, nämlich Indien zur Nuklearmacht zu erheben und Pakistan als Störfaktor für die indische Politik ein für alle Mal auszuschalten. Letzteres reflektiert in seiner unbeschönigten Militanz die hindunationalistische Ideologie der BJP, deren extremistische Eiferer bedenkenlos die Grenze zum Rassismus überschreiten. Diese Gruppen, die im Innern bereits den Bürgerkrieg gegen die große muslimische Minderheit üben, liefern natürlich auch für jede politische Drohgebärde gegenüber Pakistan die martialische Geräuschkulisse.

Gipfeltreffen in Agra

Die jüngste Zuspitzung des indisch-pakistanischen Konflikts hatte ein halbes Jahr zuvor mit einem neuerlichen Anlauf zu seiner Entschärfung begonnen.

In etwas überraschendem Gegensatz zu der bis dahin geltenden Doktrin - solange Pakistan den grenzüberschreitenden Terrorismus nicht unterbindet, werde es keinen Dialog geben - hatte Premierminister Vajpayee den pakistanischen Militärmachthaber General Pervez Musharraf zu einem Gipfeltreffen nach Agra eingeladen.

Schon der Zeitverzug von acht Wochen zwischen Einladung und endgültigem Termin gab den Bedenkenträgern und Entspannungsgegnern auf beiden Seiten reichlich Gelegenheit, die Erfolgschancen des Treffens mal mit überzogenen Erwartungen, mal mit düsterem Zweckpessimismus zu torpedieren. Folglich wurde dem Gipfel, als ein wie auch immer gearteter Durchbruch in der Kaschmir-Frage vorhersehbar ausblieb, kurz und bündig sein Scheitern attestiert. Gegen diesen als selffulfilling prophecy daherkommenden Befund hatten gewisse Fortschritte auf anderen Gebieten wie auch der Wert des politischen Dialogs an sich keinen Bestand. Schon am Tag danach meldeten sich in New Delhi die Hardliner zurück und erklärten alle in Agra erzielten Annäherungen als gegenstandslos.

Musharraf, der sich wenige Tage vor dem Treffen selbst zum Präsidenten ernannt hatte, um mit Vajpayee "auf gleicher Augenhöhe" verhandeln zu können, kam bei dem Treffen aus pakistanischer Sicht sehr gut heraus, auch wenn er mit leeren Händen zurückkehrte. Sein Image als souveräner Staatsmann hatte gewonnen.

Jenseits der aktuellen Bewertung kommt dem Agra-Summit aus zwei Gründen historische Bedeutung zu. Einmal war er das erste Treffen dieser Art nach dem Kargil-Krieg im Frühsommer 1999, nach dem Machtwechsel in Pakistan 1999 und nach einer gewissen Bewegung in der indischen Kaschmir-Politik. Zum anderen hat die Inszenierung des Gipfels als Medienereignis die politische Phantasie über das immense Entwicklungspotential gutnachbarlicher Beziehungen zwischen beiden Ländern beflügelt.

Interessen in und an Kaschmir

Der indische Verteidigungsminister George Fernandes hat sicher Recht mit seinem Kommentar, dass ein fünf Jahrzehnte lang bestehender Konflikt nicht in fünfstündigen Verhandlungen gelöst werden kann. Der Kaschmir-Konflikt ist allerdings nicht deshalb so zählebig, weil seine Lösung an sich kompliziert wäre, sondern weil bislang weder Indien noch Pakistan den politischen Willen hatten, die mit einer Konfliktlösung verbundenen Konsequenzen zu tragen.

Für den Staat Pakistan ist die Forderung nach einer "Befreiung" der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung im indisch gehaltenen Teil Kaschmirs konstitutiv. Deshalb galt in der Vergangenheit die Unterstützung all derer, die diesen "Befreiungskampf" mehr oder weniger gewaltsam führten, als legitim. Dass von Anbeginn Eindringlinge dabei waren, die anderes als die Selbstbestimmung der Kaschmirer im Schilde führten, steht außer Frage. Deshalb lässt sich heute nicht ohne weiteres auseinander sortieren, wer in den Northern Frontier Provinces islamistischer Terrorist, heimatloser Mudjahedin oder authentischer Freiheitskämpfer ist. Letzteren kann keine pakistanische Regierung, die im Amt bleiben will, ihre Unterstützung versagen - zumindest nicht, solange Indien nicht zu substantiellen Zugeständnissen in Kaschmir bereit ist.

Dagegen ist aus indischer Sicht die Zugehörigkeit von Jammu und Kaschmir zur Indischen Union nicht verhandelbar. Indien sieht sich als Demokratie politisch und historisch im Recht und meint im übrigen, seinen Beitrag zum Kompromiß bereits mit der de facto-Anerkennung der Kaschmir teilenden Line of Control geleistet zu haben. Die Schwäche dieser Position ist, dass Indien seinen Anspruch in Kaschmir mittlerweile auch gegen die dortige Bevölkerung durchzusetzen sucht und deshalb als Besatzungsmacht auftritt. Anfänglich moderate Autonomieforderungen wurden nicht ernstgenommen und die indische Herrschaft statt dessen mit viel Repression und gefälschten Wahlen befestigt. Folglich hat sich das ursprüngliche Autonomiebegehren inzwischen zum Unabhängigkeitsverlangen versteift.

Inwieweit die zögerlichen Kontakte zur All Party Hurriyat Conference, einer Koalition kaschmirischer Autonomie-Initiativen, daran noch etwas ändern können, hängt davon ab, ob diese Gruppierungen eine Mehrheit re-präsentieren und von einer solchen bei den im Herbst fälligen Wahlen in Jammu und Kaschmir ein Mandat bekommen.

Mittlerweile gewinnt auch in Delhi die Idee an Boden, mit einer Autonomielösung "innerhalb" der Indischen Union könne man den gordischen Knoten durchschlagen. Dass dies allein die Sicherheitsprobleme in Kaschmir nicht lösen würde, hat der Misserfolg eines einseitig von der indischen Armee ausgerufenen Waffenstillstandes gezeigt. Unter diesem Blickwinkel war schon die vage Aussicht, mit Musharraf einen Modus vivendi an der Line of Control vereinbaren zu können, Grund genug für Vajpayee, mit der Einladung nach Agra über seinen Schatten zu springen.

Pakistans interner Kampf

Die pakistanische Militärregierung hat indessen gegen Ende des Jahres 2001 - mit einer unverzeihlichen Verspätung, wie manche meinen - die Schlinge um die "Jihad"-Gruppen im Lande enger gezogen, indem sie Maulana Masood Azhar, Hafiz Mohammad Saeed und rund 100 ihrer Anhänger verhaftete. Beide sind die Köpfe der aktivsten Gruppen der "Freiheitskämpfer für Kaschmir", der Jaish-e-Mohammad (Kämpfer Mohammeds) und der Lashkar-e-Taiba (Truppe der Gerechten). Die rund einhundert Festgenommenen hielten sich in verschiedenen Teilen Pakistans auf, und ihre Büros in Städten wie Karatschi, Islamabad, Multan, Bahawalpur, Rahim Yar Khan und Sukkur wurden in den letzten Tagen des alten Jahres geschlossen und versiegelt. Um die beiden Bewegungen ist es danach ruhig geworden, nicht verhaftete Mitglieder sind abgetaucht.

Im Zuge der internationalen Anti-Terror-Kampagne nach dem 11. September verfolgt das Regime die Jihadis in Pakistan sowie islamistische Parteien. Es tut dies aber erst nach dem Anschlag auf das indische Parlament am 13. Dezember und den ernsten Spannungen mit dem großen Nachbar mit der notwendigen Härte. Nun warfen die Jihadis und islamistischen Parteien Musharraf vor, von dem für Pakistan seit 53 Jahren geltenden Standpunkt in Bezug auf Kaschmir abzurücken. Diese Furcht wurde besonders durch die Ankündigung des pakistanischen Außenministers Abdul Sattar genährt, Festgenommene dieser Gruppen könnten an die internationale Koalition gegen den Terror ausgeliefert werden.

Der Staatspräsident, General Pervez Musharraf, hatte von Anfang seiner Regierungszeit an immer wieder erklärt, er werde nicht zulassen, dass Jihadis seinem Regime Probleme machen. Während seiner gesamten Regierungszeit gab es immer wieder - wenn auch halbherzige - Versuche, islamistischen Gruppen und deren Kämpfern das Handwerk zu legen. Der Innenminister, Moinuddin Haider, beschloss zu Beginn des Jahres 2001, die Jihadi-Gruppen, die Terroristen Unterschlupf gewähren, zu zerschlagen. Ihnen wurde verboten, Geld für ihre Sache zu sammeln, und man beschlagnahmte Waffen bei ihnen. Öffentliche Auftritte und Presseerklärungen von Vertretern dieser Gruppen wurden untersagt.

Nachdem Musharraf nach dem 11. September beschlossen hatte, die amerikanischen Aktionen gegen die Taliban in Afghanistan zu unterstützen, begann ein strikteres Vorgehen gegen die islamistischen Kampfgruppen. Als erstes wurde das Büro der relativ kleinen Taliban-nahen Organisation Harkate Jehade Islami in Lahore geschlossen und die Mitarbeiter verhaftet. Dann folgte das Verbot der Harkat ul Mujahedin und das Einfrieren ihrer Bankkonten. Kurz darauf wurden die Jaish-e-Mohammad und die Lashkar-e-Taiba zu Terroristen erklärt. Ihre Konten wurden dem Zugang verschlossen.

Dies hat in der öffentlichen Meinung Pakistans zu dem Eindruck geführt, dass Präsident Muscharraf den Freiheitskampf der Kaschmirer geschwächt habe. Damit ist er in eine schwierige Position geraten, weil wohl die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Kampf und die Kämpfer für ein unabhängiges Kaschmir unterstützt. Deshalb kann es sich der Präsident nicht erlauben, von der alten Position Pakistans abzurücken, die ein Plebiszit der Kaschmirer fordert.

Eine immer offene Frage in Pakistan ist die, welche Rolle der militärische Geheimdienst ISI (Inter Services Intelligence) spielt, und wie weit Musharraf ihn im Griff hat. Dieser hat zwar den Chef des ISI ausgewechselt, dennoch besteht der Eindruck fort, dass dieser Dienst weiterhin durch seine gefestigten internen Strukturen und starke islamistische Kräfte ein Eigenleben führt, das sich jeglicher Kontrolle entzieht. Der ISI hat die Taliban gefördert und personell wie materiell unterstützt und ist auch an den Kämpfen im indischen Kaschmir beteiligt. Musharraf hat es zwar geschafft, das internationale Image seines Landes nach dem 11. September deutlich zu verbessern, muss sich aber weiterhin Zweifel an seiner Vertrauenswürdigkeit gefallen lassen, solange es ihm nicht gelingt, einerseits den Jihadi-Sumpf trockenzulegen und andererseits für Transparenz hinsichtlich des ISI zu sorgen. An der Erreichung des letzteren wird in Pakistan sehr gezweifelt.

Am Samstag, dem 12. Januar, hielt Musharraf im nationalen Fernsehen seine mit Spannung erwartete Rede an die Nation, in der er das Verbot weiterer fünf islamistischer Bewegungen ankündigte und klar die pakistanische Stellung zur Kaschmir-Frage bestätigte. Der ISI wurde aufgefordert, die nun folgenden Aktionen zu unterstützen und der Polizei Hilfestellung zu leisten. Große Überraschungen bot die Rede nicht, sie wurde aber in Pakistan gut aufgenommen, da sie klare Positionen unterstrich - es waren die richtigen Worte zur rechten Zeit. In den Tagen darauf folgte die Verhaftung von mehr als 2000 weiteren Personen. Die Koranschulen werden noch stärker kontrolliert, und den Mullahs wurde verboten, während der Gebete in den Moscheen politische Reden zu halten; sie sollen sich strikt auf die Rezitation der heiligen Schriften beschränken. Fernziel ist es, die Koranschulen in das nationale Bildungssystem zu integrieren und dort einen umfassenden Lehrplan einzuführen. Die notwendigen Mittel dafür sind allerdings nirgendwo zu sehen.

Zu den anhaltenden Spannungen mit Indien sagte Musharraf, sein Land sei uneingeschränkt und jederzeit verteidigungsbereit. Die Kaschmir-Frage bleibt damit weiterhin ungelöst, und Pakistan möchte sie im Gegensatz zu Indien international behandelt sehen. Musharraf fährt fort, Indien seine Hand anzubieten und immer wieder Gespräche einzufordern - wie zuletzt am Kashmir Day.

Indien indessen will weiterhin mehr Taten von Pakistan gegen den Terrorismus sehen und hält den Druck aufrecht. Die Öffentlichkeit in Pakistan diskutiert seitdem noch stärker die Frage, wie denn eigentlich Terrorismus zu definieren sei, und es herrscht die Meinung vor, dass auch Indien sich in Kaschmir des Terrorismus schuldig macht. Außerdem besteht der Verdacht, dass indische Geheimdienste für Störmanöver in Pakistan verantwortlich sind.

Die interne Lage in Pakistan bleibt angespannt. Immer wieder melden sich Jihadis aus dem Untergrund, und selbst in der Hauptstadt Islamabad kommt es zu Anschlägen auf Fahrzeuge ausländischer Einrichtungen. Die sich derzeit eher verschärfende Situation in Afghanistan, die nur schwer zu kontrollierende pakistanisch-afghanische Grenze und die Situation der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan werden das Land weiter in Atem halten. Derweil stehen in diesem Jahr nationale Wahlen und die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie an. Angesichts des Kampfes Pakistans an so vielen Grenzen wird es zu einer von Musharraf, seinen Generälen und dem von ihm geschaffenen National Reconstruction Bureau kontrollierten Guarded Democracy kommen. Nicht so schlecht, wie wohl die Mehrheit in Pakistan meint, denn das Land muss Stabilität demonstrieren, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, und weiter daran arbeiten, internationale Reputation und Glaubwürdigkeit zu gewinnen und zu erhalten - was man den Parteien nicht unbedingt zutraut.

Show down ohne Exit Option

Zwei Nachrichten über die jüngste indisch-pakistanische Konfrontation haben die Aufmerksamkeit der globalisierten Öffentlichkeit erregt, nämlich der Superlativ, entlang der indisch-pakistanischen Grenze fände die größte Truppenkonzentration seit 1971 statt, und der alarmierende Hinweis, dass beide Seiten über Atomwaffen verfügten. Für Indien bestätigte sich damit die schon mit den Nukleartests gemachte Erfahrung, dass es drastischer Aktionen bedarf, um international ernst genommen zu werden. Ob der Truppenaufmarsch tatsächlich auf diesen psychologischen Effekt abzielte, steht freilich dahin - militärisch macht er jedenfalls wenig Sinn. Abgesehen von der Zerstörung längst geräumter Terroristen-Camps gibt es keine operativen Ziele, und für weiterreichende Absichten - etwa die seit kurzem in der indischen Presse ventilierte Idee von einer Eroberung des pakistanischen Teils von Kaschmir - fehlen von der Luftunterstützung bis zur Logistik alle Voraussetzungen. Problematischer ist, dass Indien nach dem Aufbau seiner militärischen Drohkulisse offenbar über keine Exit-Strategie verfügt und deshalb ersatzweise die politische Rhetorik verschärft. So trägt die Äußerung von Premierminister Vajpayee, Indien werde die Line of Control niemals als Kompromiss akzeptieren, wenig zu einer Deeskalation - um die sich mittlerweile besonders die USA bemühen - bei.

Die Kosten-Nutzen-Rechnung des militärisch sinnlosen und politisch fruchtlosen show downs ist verheerend. Beide Seiten investieren Milliardensummen, die dringend für Zukunftsprojekte benötigt werden, in eine unbewältigte Vergangenheit. Mehr als der autoritär regierte Feudalstaat Pakistan muss sich allerdings das demokratische Indien sein Verharren in einer den Mustern des Kalten Krieges folgenden Politik vorwerfen lassen. Der zugrunde liegende Irrtum, eine Politik der Stärke führe zur Schwächung des Gegners und folglich zum eigenen Vorteil, scheint der indischen Politik die Erkenntnis zu versagen, dass von einem geschwächten Pakistan Gefahren ausgehen, während nur ein selbstbewusst starkes über Verhandlungsmasse verfügt.

Es gibt aber auch Politiker in Indien und Intellektuelle allemal, die in den Kategorien von Win-win-Strategien denken, ohne die Konflikte in einer globalisierten Welt nicht mehr lösbar sind.

Der frühere Foreign Secretary J.N. Dixit verpackt diese Einsicht in ein Scenario, nach dem der indisch-pakistanische Konflikt längst durch massive amerikanische Einflussnahme hinter den Kulissen internationalisiert sei. Immerhin verfügen die USA mit ihrer - für die in Afghanistan verfolgten Zwecke überdimensionierten - militärischen Präsenz in der Region über die Mittel, sowohl das pakistanische als auch das indische Nuklearwaffenpotential mit konventionellen Präzisionswaffen auszuschalten. Andererseits fällt auf, dass gegen allen Anschein einer bedrohlichen Lage bisher weder der UN-Sicherheitsrat noch andere internationale Gremien Krisensitzungen veranstaltet haben. Die großen Mächte werden allerdings gewiss dafür sorgen, dass ihre seit längerem auf Zentralasien gerichteten wirtschaftlichen und strategischen Interessen nicht von einem aus dem Ruder laufenden Dauerkonflikt um ein vergleichsweise unbedeutendes Hochgebirgstal beschädigt werden.

Nachdem beide Kontrahenten sich offenbar aus ihrer politischen Zwangslage nicht mehr eigenständig befreien können, dürfte letztlich auch der indische Widerstand gegen eine von außen aufgezwungene Vermittlung begrenzt sein.

Dass eine solche neben den USA auch von Russland und China unbeschadet deren früheren Klientelverhältnissen unterstützt werden wird, darf im Blick auf die veränderte Weltlage als sicher gelten. Welche Rolle die Europäer dabei spielen können, hängt freilich davon ab, ob sie sich außenpolitisch künftig auch jenseits der Osterweiterung der EU engagieren wollen.

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