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Nikolaus Werz
Erosion des Staates: Venezuela


Mit regelmäßigen Wahlen, einem Mehrparteiensystem und seinem Ölreichtum avancierte Venezuela in den 70er Jahren zunächst weitgehend unbemerkt von der interessierten Öffentlichkeit zur stabilsten Demokratie im damals von Militärdiktaturen beherrschten Lateinamerika. Noch 1988 erinnerten die Regierung und die Parteien in Festveranstaltungen an das 30-jährige Bestehen der Demokratie. Venezuela sei ein Beispiel für Lateinamerika und die freie Welt - so lautete der Tenor auch im Wahlkampf. Es waren die siebenten freien Wahlen zum Präsidentenamt und Kongreß seit dem Niedergang der Diktatur 1958. Im Unterschied zu anderen südamerikanischen Staaten schien das Land die sog. "Autobahn nach Süden" vermeiden zu können.

Es war eine vordergründige Harmonie, auch wenn die meisten Venezolaner sowie viele der in- und ausländischen Beobachter daran festhielten. Ende Februar 1989, wenige Wochen nach den "Krönungsfeierlichkeiten" anläßlich der zweiten Amtseinführung von Präsident Carlos Andrés Pérez, verabschiedete der als Dritte-Welt-Führer gefeierte Politiker ein wirtschaftliches Schockprogramm, das im Volksmund schnell den Namen "el paquetazo" erhielt. Doch nicht nur das: Am 27. Februar, nach drastischen Preiserhöhungen der Busunternehmer und Ladenbesitzer, kam es zu einem Aufstand der Armen in Caracas und anderen Städten. Der Volkszorn entlud sich in Plünderungen und im Abfackeln von Bussen; die Regierung mußte den Ausnahmezustand verhängen und Militär aus den Provinzen einfliegen lassen. Schätzungen über die Zahl der Erschossenen schwankten zwischen 146 und fast 1.000 Toten. Seitdem ist Venezuela nicht mehr zur Ruhe gekommen.

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Chronik einer angekündigten Krise

Im Unterschied zu anderen Gesellschaften, um die es bei diesem Workshop geht, ist die Legitimität des Staates als territoriale Organisationseinheit in Venezuela unbestritten. Ebenso fehlen ethnische Konflikte oder unlösbare Grenzstreitigkeiten, auch wenn hin und wieder offene Grenzfragen mit Kolumbien und früher mit Guyana hochgespielt werden. Paradoxerweise resultieren die Schwierigkeiten des Staates aus seiner vermeintlichen Stärke - dem schwarzen Gold - den scheinbar unerschöpflichen Ölvorräten. Dem venezolanischen Staat und den wechselnden Regierungen kam seit Beginn der massiven Ölförderung in den 20er Jahren eine wachsende Bedeutung zu: Sie fand ihren Niederschlag zum einen in der Programmatik aller Parteien und Interessengruppen, zum anderen in dem steigenden staatlichen Anteil an der Gesamtwirtschaft, der seinen Höhepunkt in den Nationalisierungen der Öl- und Eisenerzvorkommen 1975/76 erreichte. "Das Erdöl aussäen", diese bereits 1936 ausgegebene Maxime wurde zum Leitsatz aller politischen Bewegungen und gewann einen hohen Stellenwert im Bewußtsein der Venezolaner. Historiker haben das Petroleum gar als den wichtigsten Akteur in der Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert bezeichnet.

Mit der Öl-Bonanza entstand eine Art Rentenideologie. "Es ist genug für alle da", so läßt sich die gängige Einstellung besonders der 70er Jahre beschreiben. Das zähflüssige Exportprodukt macht den Löwenanteil der Staatseinnahmen aus. Es ermöglichte einen populistischen Etatismus, der die Weiterleitung eines kleineren Teils der Öleinnahmen an die arme Bevölkerung zuließ. In der nach wie vor gültigen Verfassung von 1961 deklarierte sich das Land zum Sozialstaat, der jedoch vor allem als populistischer Verteilungsstaat auftrat und nicht zum stabilen demokratischen Rechtsstaat wurde. Die Petro-Dollars ermöglichten in Venezuela eine Fortführung des Populismus bis weit in die 80er Jahre, als dieser in den anderen lateinamerikanischen Gesellschaften bereits an seine Grenzen gestoßen war. Die hohen Mitgliederzahlen der beiden staatstragenden Parteien AD und COPEI, die jeweils eine knappe Mio. Parteiaktivisten angaben, ließen sich u.a. aus den ausgeprägten Patronagefunktionen erklären. Jeder vierte Venezolaner war Ende der 70er Jahre in irgendeiner Weise beim Staat beschäftigt.

Ein zweiter und nicht weniger wichtiger Faktor war der Konsens innerhalb der ökonomischen und politischen Elite des Landes. Die Parteiführer begründeten die ausgleichende Form des Regierens in dem "Pakt von Punto Fijo" (1958), der in Nachbarstaaten in den 70er Jahren als Vorbild für den angestrebten politischen Konsens empfunden wurde. Nach dem Ende der castristischen Guerilla, die ab 1968 unter der ersten Präsidentschaft von Rafael Caldera pazifiziert wurde, verstanden sich die beiden großen und bald auch die kleineren Parteien allerdings zu gut. Soziale und politische Reformen wurden zwar immer wieder angekündigt, aber nicht wirklich umgesetzt.

An warnenden Stimmen hatte es nie gefehlt: An erster Stelle seien die Kulturkritiker genannt. Sie verwiesen frühzeitig auf die destabilisierenden und kulturzerstörenden Effekte des rasanten Modernisierungsprozesses, der das Land in ein tropisches Texas zu verwandeln drohe. Solche Vorstellungen erreichten ein großes Publikum, als eine Fernsehnovelle mit dem Titel "Der Tag, an dem das Petroleum aufhörte" wochenlang die TV-verliebte Nation fesselte. Zur zweiten Gruppe gehören einzelne Journalisten, Politiker und Essayisten. Sie verwiesen auf die umsichgreifende Korruption, das unproduktive Versanden von Geldern in gigantomanische Entwicklungsprojekten und die Privatisierung staatlicher Gelder. Zur dritten Gruppe gehören die Sozialwissenschaftler, die bis zum Ausgang der 70er Jahre der formalen Demokratie nur geringe Überlebenschancen einräumten. Der langjährige Direktor des CENDES, José Augustín Silva Michelena, nannte gar eine Jahreszahl, an der der Zusammenbruch des Systems erfolgen würde. Angesichts des ostentativ zur Schau gestellten Reichtums eines kleineren Teils der Venezolaner und der relativen Armut von ca. 40 % der Bevölkerung erschien es evident, daß es irgendwann zu einer Explosion kommen müsse. Nachdem aber die Opposition in den 80er Jahren nachließ und die angekündigte Krise ausblieb, begannen die Linksintellektuellen nolens volens ihren Frieden mit der politischen Demokratie zu schließen. So gab es 1989 niemanden, der den Ausbruch von sozialen Unruhen vorhergesagt hätte und selbst im Februar 1992 glaubten das gewählte Staatsoberhaupt und der Verteidigungsminister erst dann an einen Putschversuch, als die Schützenpanzer bereits in den Präsidentenpalast einzudringen versuchten.

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Der Versuch einer demokratischen Staatsreform

Einzelne klarsichtige Analytiker hatten erkannt, daß das Problem Venezuelas im Unterschied zu anderen Staaten nicht in seiner Armut, sondern in seinem Reichtum bzw. dem Umgang damit liegt. Die schlecht funktionierende Verwaltung, die Neigung zur Leichtlebigkeit (facilismo) und das gänzlich unpatriotische Verhalten der Ober- und Mittelschicht, die die staatlichen Gelder unverhohlen in Miami oder der Schweiz anlegten, wurden von ihnen als eigentliche Herausforderungen benannt. Eine Gegenstrategie war jedoch deshalb so schwierig, weil fast alle daran beteiligt waren. Die Zahl der Schriften über die Ursachen und die Erscheinungsformen der Krise schienen sich geradezu umgekehrt proportional zu den Fähigkeiten zu verhalten, Gegenmaßnahmen umzusetzen.

Erst mit dem Nullwachstum und dem Absinken der Öleinnahmen in den 80er Jahren entfielen die Voraussetzungen für das bisherige Entwicklungsmodell mit einem enormen staatlichen Anteil. Nun begann der Ruf nach einer Entstaatlichung der Wirtschaft und nach Einschränkung der parteipolitischen Patronage zu erschallen. Mit Verzögerung zu dem im gesamten Lateinamerika erkennbaren Trend begann auch Venezuela die Vorstellung von einer "Umwandlung des Rentenkapitalismus in einen normalen Industriekapitalismus" (Boeckh 1988) Boden zu gewinnen. Die Zauberworte des erwünschten Wandels hießen nun: Modernisierung, Effizienz und Demokratisierung. Sie tauchten mit Abschwächungen in allen Wahlprogrammen des Jahres 1988 auf und hatten ihren institutionellen Ausdruck bereits in der 1984 gegründeten "Kommission zur Staatsreform" (COPRE) gefunden. Der Abbau des Präsidentialismus, die Dezentralisierung und eine Wahlrechtsreform sollten zu mehr Wettbewerb und Partizipation führen.

Nach 1989 wurden solche Vorstellungen verstärkt umgesetzt. Die Direktwahl der Bürgermeister, die es bei einem eingeschränkten Wahlrecht bereits im 19. Jahrhundert gegeben hatte, wurde wieder eingeführt, die Gouverneure vom Volk gewählt und die lokale Verwaltung aufgewertet.

Ausgerechnet der Präsident des Öl-Booms, der bereits erwähnte CAP, machte zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 1989 den Versuch, ein neoliberales Wirtschaftsmodell durchzusetzen. Die mangelnde Planung und die dilletantische Umsetzung seines Vorhabens führten zum Aufruhr. Nur wenige Wochen nachdem er mit 53 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden war, kam es zu einem unorganisierten und spontanen Volksaufstand. Damit begann sich abzuzeichnen, daß die Parteien das politische Geschehen nur noch in begrenztem Maße steuern konnten und andere Akteure den Protest artikulieren würden.

Das Wirtschaftskonzept der zweiten Amtszeit von CAP (1989-1993) zielte auf Privatisierung und Marktöffnung. Es fand viel Beifall bei ausländischen Investoren und konnte anfangs hohe Wachstumsraten vorweisen. Allerdings verschlechterte sich die Situation der meisten Venezolaner und die Tatsache, daß auch die herkömmlichen Linksparteien keine Alternativen aufzeigen konnten, rief - für viele überraschend - die Militärs auf den Plan. Am 4. Februar 1992 erfolgte ein erster Putschversuch nationalistisch-antiimperialistisch auftretender Offiziere, die sich unter ihrem Anführer Hugo Chavez auf den Befreiungshelden Bolívar beriefen. Im November 1992 kam es zu einem zweiten Staatsstreichversuch; seitdem sind die Gerüchte über einen dritten, definitiven Putsch nicht abgebrochen.

Die Putschisten besaßen und besitzen eine gewisse Popularität bei den Armen und einigen Intellektuellen. Zivil-militärische Allianzen zur Veränderung der gesellschaftlichen Zustände sind damit 20 Jahre nach den nasseristischen Versuchen in Lateinamerika zumindest in Venezuela wieder aufgetreten.

Wie kam es zu dieser Schwäche der Parteien?

a) Die etablierten Parteien, zu denen auch die Linkspartei MAS zählt, haben, was ihre Reformankündigungen anbelangt, viel Kredit verspielt. Dies hat nicht nur mit persönlichen Verfehlungen zu tun, sondern auch mit dem neuen liberalen Wirtschaftskurs. Die Privatisierung von Staatsunternehmen und das Nachlassen populistischer Politiken begrenzt die gängige Ämterbesetzung mit Parteimitgliedern. Gleichzeitig macht die weitere Zunahme des informellen Sektors die politische Repräsentation auf nationaler Ebene schwieriger. Während in den Munizipien neue und zum Teil auch basisdemokratische Kräfte eine gute Politik betreiben, fällt es schwer, die vielfältigen Initiativen auf gesamtnationaler Ebene zu bündeln. Die Staatsreform und die Dezentralisierung haben in Venezuela also zunächst destabilisierende Wirkungen hervorgerufen. Aufgrund der engen Verbindung zwischen dem Staat und den etablierten Parteien führt eine Krise der großen Patronageparteien auch zu einer Erosion des Staates.

b) Die Korruption, lange Zeit als Kavaliersdelikt betrachtet, ist zum Ausgang der 80er Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern zum Thema geworden. Das Versagen der traditionellen Parteien in diesem Bereich erhöht die Chancen für Führergestalten, die den zunehmend parteipolitisch ungebundenen und politikverdrossenen Wähler direkt bzw. über die Medien ansprechen.

c) Angesichts des Versagens der hergebrachten politischen Organisationen ist - nicht nur in Venezuela - ein neuer Personalismus aufgekommen. Da der Rechtsstaat trotz wirtschaftlicher Modernisierung und demokratischer Wahlen nicht funktioniert, vertraut ein Teil der Bevölkerung unabhängigen und neuen Gesichtern, die eine schnelle Lösung aller Übel versprechen. Davon profitierten zunächst die Putschisten und bei den Wahlen von Ende 1993 der Ex-Präsident Caldera, der persönlich als integer gilt und den Wunsch nach einer untadeligen Führergestalt zu erfüllen scheint. Bezeichnenderweise trat der Parteigründer nicht als Kandidat "seiner" COPEI an, sondern als unabhängiger Spitzenmann eines heterogenen Wahlbündnisses.

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Was wollen die Venezolaner?

In der Vergangenheit galten die Venezolaner als "unheilbare Optimisten". Angesichts der in den meisten Familien biographisch erfahrbaren sozialen Verbesserungen blickten sie vergleichsweise zuversichtlich in die Zukunft. Umso größer muß die Enttäuschung gewesen sein, als 1989 mit dem Volksaufruhr in Caracas und anderen Städten des Landes schlagartig deutlich wurde, daß "das Fest vorüber war", wie ein Buchtitel aus den 80er Jahren lautete. Eine gewisse Sympathie für die Putschisten und für eine durchgreifende Regierungsführung bedeutet allerdings nicht, daß es sich um Anti-Demokraten handelt. Ein Vergleich der politischen Einstellungen aus den Jahren 1973 und 1993 belegt, daß zwar die Wahlbeteiligung in alarmierender Weise von 97 % auf 60 % sank und das Interesse an der Politik 1993 nur noch bei 32 % lag, gleichzeitig ist jedoch die Unterstützungsbereitschaft für einen erfolgreichen Staatsstreich gesunken. Zwar ist das Mißtrauen in die Institutionen und Parteien enorm, gleichzeitig bezeichnen sich aber 18 % als überzeugte Demokraten und 41 % immerhin als Demokraten. Die Mehrheit der Venezolaner ist also nach wie vor für die Demokratie, allerdings wünscht sie eine starke politische Führung (Welsch/Carrasquero 1995).

Der amtierende Präsident Caldera scheint dieses Bedürfnis nach einem "demokratischen Cäsar" recht gut zu personifizieren. Bei einer Befragung im März 1995 äußerten nur 17 % der Interwievten Vertrauen in die Parteien, von 73 % wurde die Korruption als größtes Hindernis für eine wirtschaftliche Erholung genannt (LARR, Andean Group Report, 13.04.95). Damit decken sich die Umfrageergebnisse mit den Reden Calderas, der die Korruption und ethisches Fehlverhalten für die Krise verantwortlich macht.

Es ist deshalb nicht verkehrt, seinen Wahlsieg als Rückkehr des Populismus zu bezeichnen, wobei die Erwartungshaltung auf schnelle soziale Verbesserungen - im Unterschied zur Amtszeit seines Vorgängers - gesunken ist. Dies mag eine Erklärung dafür sein, warum seine Amtsführung trotz einer widersprüchlichen und teilweise anti-marktwirtschaftlichen Politik bislang ohne größere Widerstände verlaufen ist.

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Die Grenzen politischer Prognosen in Venezuela und anderswo

Es gehört zu den sympathischen Eigenschaften der Organisatoren dieser Veranstaltung, daß sie die schwierigsten Beispiele bei der Früherkennung von Konflikten elegant ausgeklammert haben - nämlich Osteuropa. Auch dort haben die meisten Kollegen nicht vorhergesagt, sondern erst nachhergesagt. Dennoch seien - nicht nur in exkulpatorischer Absicht - einige Faktoren genannt, die die Prognose beim Ausbruch der Gewalt in Venezuela 1989 erschwerten:

a) Die Sozialwissenschaftler hatten in Venezuela und anderen Regionen der Dritten Welt den Begriff der Krise so häufig verwendet und damit ausgeweitet, daß er am Ende ohne Aussagekraft war.

b) Der Karikaturist Zapata hat Venezuela aufgrund des hohen Staatsanteils einmal scherzhaft den RGW-Ländern zugeordnet. Diese Gemeinsamkeit galt auch für die geringe Qualität der Statistiken vor allem unter der Regierung von Präsident Lusinchi (1984-1989). Der sympathisch lächelnde Kinderarzt hatte durchweg positive Daten der Wirtschaftsentwicklung und bei den politischen Einstellungen ausstreuen lassen. Erst am Ende seiner Legislaturperiode ließ er das Ausmaß der Krise durchblicken.

c) Bei einigen Sozialwissenschaftlern scheinen verspätet eingesetzte Lernprozesse einen klaren Blick verhindert zu haben. Mit anderen Worten: Nachdem man Jahre lang die Instabilität des politischen Systems überschätzt hatte, setzte in den 80er Jahren der umgekehrte Prozeß ein. Die Stabilität der Vergangenheit wurde in die Zukunft projiziert.

In einer vor kurzem vom Wilson-Center veröffentlichten Studie über Venezuela wird unverblümt die Frage gestellt, wie sich die Clinton-Administration im Falle eines Staatsstreiches zu verhalten habe (Goodman u.a. 1995). Während das Land in den 70er und 80er Jahren gerade den nordamerikanischen Politologen als das Modell einer gelungenen Demokratie in Lateinamerika galt, wird nun die Frage gestellt, was sich am venezolanischen Beispiel eines schlecht verlaufenen wirtschaftlichen Anpassungsprozesses lernen lasse. Zehn Feststellungen sind möglich:

1. Der Staat und das politische System wiesen stets Schwächen auf, auch wenn es sich nicht um eine reine "Schönwetterdemokratie" handelte. In der Vergangenheit erwies sich ein Anstieg des Ölpreises immer wieder als probates Mittel, um kurzfristig mit populistischen Maßnahmen überfällige Reformen zu verschieben.

2. Im Lateinamerika der 90er Jahre ist demokratische Herrschaft auch von Ehrlichkeit und der Transparenz politischer Regierungsführung abhängig. Sie werden von der Bevölkerungsmehrheit höher bewertet als die Durchführung politischer Reformen, deren Ergebnisse erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbar werden. Die Amtsenthebung von Präsident Fernando Collor in Brasilien und CAP in Venezuela sind Beispiele dafür.

3. Prozesse wirtschaftlicher Anpassung und politischer Modernisierung müssen der Bevölkerung vermittelt und sozial abgestützt werden. Als weiteres negatives Beispiel kann hier Mexiko aufgeführt werden; die Amtsführung von Menem in Argentinien kann als gelungene Präsentation gelten, auch wenn die sozialen Ergebnisse lange nicht so positiv sind.

4. Populismus und Etatismus werden zu Hindernissen für die Reformfähigkeit sog. "partidos populares" werden. Gleichzeitig führt die Abkehr vom Populismus zu Konflikten und Gegenbewegungen, was die gängige Feststellung belegen kann, daß nicht die Ärmsten rebellieren, sondern diejenigen, die Einbußen am eigenen Leib erfahren.

5. Den Medien kommt nicht nur in Lateinamerika eine wachsende Rolle im politischen Prozeß und beim Bestand der Demokratie zu. Sie können zur Demontage eines Präsidenten beitragen, unklar ist jedoch ihre Rolle und Verantwortung beim Erhalt von demokratischer Stabilität.

6. Das Militär hat als potentieller und realer politischer Akteur noch nicht ausgespielt. Wie der venezolanische Fall zeigt, kann jüngeren Offiziersgruppen eine Art Stellvertreter-Politik erneut eine Rolle zukommen, auch zivil-militärische Allianzen und Strategien gehören nicht der Vergangenheit an.

7. Ein ausgeprägter und langjähriger Konsens der politischen Eliten kann die Stabilität der Demokratie untergraben, wenn er zu politischer Immobilität führt. Der "Systempakt von Punto Fijo" galt als Stabilitätsreserve der venezolanischen Demokratie und entwickelte sich so zum unhinterfragten Gründungsmythos. Dabei wurden die neuen sozialen Bewegungen der 80er Jahre (grupos de vecinos etc.) und marktwirtschaftlich orientierte Kräfte nicht in ausreichendem Maße in die politische Allianz integriert.

8. Seit 1989 hat die Tendenz zu politischer Anomie zugenommen. Parteien und Gewerkschaften dienen kaum zur Willensbildung und Machtkontrolle. Politischer Protest artikuliert sich unkoordiniert in Aufstandsverhalten und/oder in einer rapiden Zunahme der Kriminalität. Ähnliche Tendenzen zeigten sich in einigen Provinzstädten Argentiniens, Brasiliens und bei den Plünderungen nach der nordamerikanischen Invasion in Panama-Stadt - aber auch, unter anderen Vorzeichen, in Los Angeles 1992. Der Vergleich Venezuelas mit anderen Ländern hinkt aber insofern, als die Unruhen in dem Ölland nach langer politischer Stabilität aufkamen, während sie in Südamerika im Zuge des Re-Demokratisierungsprozesses erfolgten.

9. In manifesten Krisensituationen wächst die Tendenz zu einem Rückfall in traditionelle Muster. Neben dem Wunsch nach starker und vermeintlich bewährter politischer Führung - wie das hohe Alter der beiden letzten gewählten Staatsoberhäupter belegt - von seiten der Bevölkerung ist dies die Versuchung der Präsidenten, zu autoritären Maßnahmen zu greifen (Zensur von "Por estas calles" (1992), Beispiel "Plan Avila"(1995)).

10. Ein gesundes Mißtrauen gegenüber politischer Herrschaft von seiten der Sozialwissenschaftler und politischen Beobachter ist angebracht. Die herausragende Rolle, die venezolanische Politiker in internationalen Parteiverbänden und der Dritte-Welt-Politik insgesamt spielten, mag einer der Gründe dafür gewesen sein, daß die Amtsführung der Präsidenten Lusinchi und CAP von der internationalen Presse selten hinterfragt wurde. Dies gilt auch für die in den 80er Jahren aufgetretenen Menschenrechtsverletzungen in Venezuela. Eine kaltblütige Analyse des "Schaufensters der Demokratie" in Lateinamerika, hätte Fehlprognosen vermeiden können. Ganz ausschließen lassen sie sich indessen nie.

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Literaturverzeichnis

Boeckh, Andreas (1988): Die Schuldenkrise und die Krise des bürokratischen Entwicklungsstaates in Venezuela, in: PVS 29(1988)4, S. 636-655

Editorial (1994): Sequimos sin plan, in: SIC, nr. 569, S. 386-387

Goodman, Louis W. u.a. (1995): Lessons of the Venezuelan Experience, Washington

Welsch, Friedrich/ Carrasquero, Jose Vicente (1995): Democratic De-Consolidation in Venezuela? Performance and Normative Legitimacy, erscheint in: International Social Science Journal (146)

Welsch, Friedrich/Werz, Nikolaus (1990): Venezuela. Wahlen und Politik zum Ausgang der 80er Jahre, Freiburg

Dies. (1994): Venezuela: Die Wahlen vom Dezember 1993 und der Beginn der zweiten Amtszeit Caldera, in:Lateinamerika. Analysen - Daten - Dokumentation (25/26), S. 155-165

Werz, Nikolaus (1983): Parteien, Staat und Entwicklung in Venezuela, München

Ders. (1989): Die "Lateinamerikanisierung" Venezuelas, in: Jahrbuch Dritte Welt 1990. Daten - Übersichten - Analysen, München, S.240-275


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