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Hartmut Pogge von Strandmann
Großbritannien als ein Beispiel für deutsche Universitätsreformen


Seit dem Zweiten Weltkrieg unterliegt das britische Universitätssystem, wie die meisten anderen im westlichen Europa, einem dauernden Wandlungs- und Expansionsprozess, der aber nicht linear verläuft. Im Fall von Großbritannien mag diese Tatsache überraschen, denn in Deutschland gilt das Inselreich oft als ein Hort von Traditionen, die bis heute wirksam geblieben sind. Diese Sichtweise kann dann dazu führen, das Vereinigte Königreich als eine Art Kuriositätenkabinett zu betrachten, zu dem Modernisierungsschübe eigentlich nicht recht passen. Zwar ist es eine Binsenweisheit, dass die meisten Traditionen erfunden sind, aber die Betonung britischer Sonderheiten entspricht mehr den romantisierenden Vorstellungen eifriger Kommentatoren als der historisch-politischen Analyse von Institutionen und gesellschaftlichen Entwicklungen im europäischen Vergleich. Reformbereitschaft und daraus folgende Veränderungen charakterisieren Großbritannien stärker als das Festhalten an politischen und gesellschaftlichen Gewohnheiten. Das trifft zum Beispiel auch auf die Entwicklung der Universitäten zu, auf die nun näher eingegangen werden soll.

Das gegenwärtige politische Leben Englands wird z. Zt. durch weitere Demokratisierungsbemühungen gekennzeichnet, welche die zweite Kammer des Parlaments, d. h. das House of Lords, sowie die Dezentralisierung in Schottland und Wales betreffen. Auch bei anderen Einrichtungen ist die Entwicklung zu weiterer Demokratisierung zu beobachten. Ein Beispiel dafür sind die britischen Universitäten. Dabei geht es an den Hochschulen weniger um die inneruniversitären Entscheidungsmechanismen, wie das in Deutschland Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre der Fall war, als vielmehr um das Verhältnis der Gesellschaft zur Universität. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die britischen im Gegensatz zu den kontinentalen Universitäten nie Staatsorgane waren, sondern autonome Körperschaften, die aber durchschnittlich zu 80 % aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Aber diese Zahlen sagen wenig über das Verhältnis von Gesellschaft zu Universität aus. An Hand der Entwicklung von Studentenzahlen wird deutlich, wie sich die Einstellung in der Gesellschaft zur einstmals sozial exklusiven und elitären Hochschulerziehung geändert hat. Erlebten zunächst die amerikanischen und deutschen Universitäten eine explosive Zunahme der Studentenzahlen, so zog sich diese Entwicklung in Großbritannien über einen längeren Zeitraum hin, die bis heute nicht ihren Abschluss gefunden hat.

Der Grund für das langsamere Tempo liegt im Zulassungsverfahren begründet. Im Unterschied zu Deutschland sucht jede Universität ihre eigenen Studenten aus.

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Jedes Fach hat seine eigenen Zulassungskriterien und Zulassungsquoten. Die Studenten können sich im ersten Durchgang in der Regel bei fünf Universitäten bewerben. Die Zulassung erfolgt nach Einreichung eines für alle Universitäten gültigen Bewerbungsformulars (UCAS-FORM), auf dem das Gutachten der Schule und ein Bewerbungsschreiben der Kandidaten zu finden ist. Bei einer Reihe von Universitäten wird danach ein Interview, bei einigen anderen ein zusätzlicher Test durchgeführt, und einige wenige Universitäten verlangen noch zusätzlich die Einreichung von schriftlichen Arbeiten, die im letzten Schuljahr entstanden sind. Sollten die Leistungsbedingungen bei keiner der fünf genannten Universitäten erreicht werden, dann werden diese Studenten durch ein Clearing-Verfahren geschleust, mit dem sie einen Studienplatz gewinnen können. Die Vorteile eines universitätsorientierten Zulassungssystems liegen in der stärkeren Identifizierung der Studenten mit der Universität, in dem Wettbewerb zwischen den Universitäten und Fachbereichen und in der Qualitätssteigerung bei den Studienplatzbewerbern. Der Wettbewerb unter den Universitäten beruht nicht nur auf den Zulassungsbedingungen, sondern trägt auch den verschiedenen Kurskombinationen Rechnung. Aus diesem Grund bieten auch die traditionellen Universitäten Kurse an, die sie vor 25 Jahren noch nicht in ihr Repertoire aufgenommen hatten. Je populärer eine Universität unter den Bewerbern ist, desto höhere Zulassungsansprüche können gestellt werden. So lohnt es sich z.B. kaum, wenn sich jemand in "Oxbridge" mit einem abituriellen Notendurchschnitt von 2,0 bewirbt. In Oxford muss man z. B. für die meisten Studienfächer 2 "As" und ein "B" in den "A-Levels" vorweisen, um eine Chance zu haben. Die Nachteile sind bei einem solchen Verfahren der größere Zeit- und Kostenaufwand, der vielleicht dadurch gerechtfertigt ist, dass die Studiendauer bis zum ersten Abschlussexamen nur drei oder vier Jahre beträgt.

Das Zulassungsverfahren und die Zulassungsverwaltung sind einem starken Druck ausgesetzt, da die ständig wachsenden Studentenzahlen z. Zt. das prägende Element der Universitätslandschaft bilden. Gegenüber den sechziger bis neunziger Jahren hat sich die Lage grundlegend gewandelt, und von der Regierung wird gegenwärtig angestrebt, bis zu 50 % eines Jahrgangs an den Universitäten studieren zu lassen. Einige Zahlen verdeutlichen die bisherige Entwicklung. Zwischen 1900 und 1938 wuchs die Studentenzahl von etwas über 20 000 auf 50 000, und der Anteil der Frauen von 16 % auf 23 %. Nach dem Krieg beschleunigte sich das Wachstum, um 1962 etwas über 200 000 zu erreichen. Davon fielen 118 000 auf die Universitäten, 55 000 auf die Pädagogischen Hochschulen und 43 000 auf die sogenannten "Technical Colleges". Eine geplante raschere Zunahme erfolgte nach dem "Robbins Report" von 1962, um den wachsenden Bedarf an graduierten Hochschulabsolventen in Wirtschaft, Verwaltung und Lehrberuf zu decken. Nach Robbins sollte jeder qualifizierte Schüler Zugang zu einer Hochschule haben. Jedoch blieb es den Universitäten überlassen, ihre eigenen Qualifizierungsbedingungen festzulegen und die Studenten,

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wie schon vorher, selber auszuwählen. Die von Robbins geplante Verdoppelung der Studentenzahlen – bis 1980 sollte sich die Studentenzahl auf 558 000 erhöhen – sollte jedoch nicht zu einer Qualitätsminderung an den Universitäten führen. Deshalb wurden neue Universitäten gegründet, um das bisher relativ günstige Verhältnis von Lehrenden und Studierenden – 1:9 – zu erhalten. Es wurden neue Planstellen geschaffen, Universitätsgebäude errichtet und Studentenheime gebaut. Zwar vermied diese gesteuerte Expansion die Bildung von Hochschulfabriken, aber finanzielle Schwierigkeiten setzten dieser wohltemperierten Entwicklung einige Jahre später ein Ende, als das Ziel der Vermehrung auf 558 000 Studenten um 34 000 am Ausgang der siebziger Jahre unterschritten wurde. In den achtziger Jahren wurde unter Premierministerin Margaret Thatcher der Aufwand für die Universitäten als zu hoch empfunden und entscheidend gekürzt. Nun verschlechterte sich auch das Zahlenverhältnis von Lehrenden zu Lernenden von 1:9 auf 1:11 und schließlich auf 1:13. Allerdings gelang es den "Technical Colleges", den sogenannten "Pollies", ihre Attraktivität zu steigern und mit ihren berufsorientierten Kursen mehr Studenten anzuziehen. Trotz der Sparmaßnahmen und trotz der Kürzung der Studiendauer in einigen wenigen Studiengängen stieg die Studentenzahl der Universitäten in den zehn Jahren zwischen 1980 und 1990 auf 650 000 an. Zwar war die finanzielle Ausstattung der Universitäten nicht mehr so günstig wie noch in den sechziger Jahren, aber die Universitäten hatten ein Interesse daran, mehr Studenten zuzulassen, da die Kopfzahl die Bemessungsgrundlage für die staatlichen Zuschüsse bildete. Teil der staatlichen Zuschüsse beruht auf den Studiengebühren, die bei britischen Studenten von den Herkunftsgemeinden gezahlt werden. Wenn auch 650 000 Studenten auf die Universitäten gingen, so war der Sektor "Higher Education" insgesamt fast doppelt so groß. Zählte man die Studenten an den "Pollies" und der Open University – einer Art Fernuniversität – sowie die Teilzeitstudenten hinzu, so kam man 1990 auf etwa 1,2 Millionen Studierende, während es in Westdeutschland zu der Zeit insgesamt 1,5 Millionen Studenten gab.

An dieser Stelle ist zu bemerken, dass die Autonomie der britischen Universitäten noch erheblich größer ist als in Deutschland. Stellenbesetzungen werden nur von den Universitäten vorgenommen. Das Kultusministerium hat kein Mitspracherecht. Es gibt keine Berufungslisten, die beim Ministerium eingereicht werden müssen, es gibt auch kaum irgendwelche Berufungs- oder Bleibeverhandlungen. Die Gehaltsskalen sind veröffentlicht und gelten mit wenigen Ausnahmen in ganz Großbritannien. Die einzelnen Universitäten haben bisher nur einen gewissen Spielraum, um Gehälter aufzustocken. Die staatlichen Zuschüsse, die für die meisten Universitäten die Haupteinnahmequelle bildet, werden jährlich nach bestimmten Kriterien ausgehandelt. Wenn auch eine Abhängigkeit von staatlichen Geldern festzustellen ist, so ist der Etat einer Universität doch ein selbständiger Akt. Im Etat der Universität Oxford – die "Colleges" werden hier nicht mitgerechnet – stammen 40 % der Einnah-

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men aus Drittmitteln oder privaten Spenden. Es gibt auch keine Mitsprache des Staates bei irgendwelchen Prüfungen, so dass es auch kein Staatsexamen gibt. Um aber Vergleichsmaßstäbe zu haben, werden bei Abschlussexamen auswärtige und manchmal auch ausländische Prüfer hinzugezogen. Prüfungsarbeiten sind anonym, und in der Regel soll ein Lehrender nicht seine eigenen Studenten prüfen. Die Universitäten sind also in der Lage, auch ohne Mitwirkung des Staates faire und gerechte Examen zu organisieren. Jedoch ist der hohe Grad der Universitätsautonomie gefährdet. Über die finanzielle Seite versucht die Regierung gegen den Widerstand der Universitäten größeren Einfluss auf die Planungen der Universitäten zu gewinnen. Teilweise ist das auch gelungen, aber Stellenbesetzungen, Curricula und Prüfungen sind davon nicht betroffen.

Der Druck seitens der Gesellschaft, die Studentenzahlen weiter zu erhöhen, hielt in Großbritannien weiter an. Im Jahr 1995 studierten zum ersten Mal mehr Frauen als Männer. Die Geistes- und Sozialwissenschaften nahmen wie in Deutschland zahlenmäßig schneller zu als die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Trotz des Andrangs zu den Einrichtungen der "Higher Education" konnten die von Oxford und Cambridge inspirierten Leistungsvorstellungen bis in die neunziger Jahre gehalten werden. Zur gleichen Zeit veränderten sich die Kriterien für die Zuteilung der öffentlichen Gelder an die Universitäten. Von der Regierung überprüfte Forschungsleistungen an Hand von Veröffentlichungen wurden zur Bemessungsgrundlage erhoben. Da aber auch die Zahlung von Fremd- und Drittmitteln von Forschungsleistungen abhängig war, fühlten sich die "Polytechnic Colleges" in doppelter Hinsicht benachteiligt, denn sie waren mehr ausbildungs- als forschungsorientiert. Ihre Kampagne, auch gleichberechtigte Universitäten zu werden, trug schließlich Früchte, als 1992 die Umwandlung der alten "Polytechnic Colleges" in die Neuen Universitäten erfolgte. Damit trennte sich England von dem bisher vorherrschenden binaren System. Als Gegenleistung erhöhten die ehemaligen "Pollies" drastisch die Zulassungen von neuen Studenten. Infolgedessen trat bei diesen neuen Universitäten ein allmählicher Leistungswandel ein, obwohl man versucht hatte, die früheren Leistungskriterien zu erhalten.

Nach diesem Umwandlungsprozess zeigen die letzten Zahlen von 1996/97, dass in England rund 1 Million Studenten an den Universitäten immatrikuliert waren, dagegen erreichte der gesamte Sektor der "Higher Education" eine Zahl von über 2,3 Millionen. Während es in Deutschland ein Jahr später an den Universitäten 1,2 Millionen Studenten gab, wies der gesamte Hochschulsektor nur 1,8 Millionen auf, d. h. 500 000 weniger als der britische. Nun muss man noch berücksichtigen, dass in England – mit Ausnahme von Medizin und Architektur – das Studium bis zum ersten Hochschulabschlussexamen drei oder vier Jahre beträgt, während in Deutschland die durchschnittliche Studiendauer fast die doppelte Zahl erreicht. Das bedeutet, dass es in Deutschland auf Grund der längeren Studienzeiten an den Universitäten mehr ein-

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geschriebene Studierende geben muss als in England. Wenn man sich also in Deutschland zu dringend notwendigen kürzeren Studienzeiten entschließen sollte, dann würde die Zahl der Studenten drastisch fallen. Somit sagen die Vergleichszahlen nur etwas über das Wachstum aus, das in Großbritannien weitere Kreise der Bevölkerung erfasst hat als in Deutschland. Hinzu kommt, dass es in Großbritannien mehr Frauen an den Universitäten gibt als in Deutschland. Was jedoch interessant wäre, ist ein Zahlenvergleich von Hochschulabsolventen mit Examen, den ich aber bisher noch nicht gefunden habe. Man müsste diese Zahl dann mit Immatrikulationszahlen vergleichen, um über sogenannte Studentenverluste einen Überblick zu bekommen. Es gibt jedoch noch einen anderen Zahlenvergleich. In England sollen z. Zt. etwa 35 % eines Jahrgangs studieren. Die USA erreichen etwa die doppelte Quote. Nimmt man die amerikanischen Zahlen als Maßstab, dann zeigt sich, was für ein Expansionspotential in England und Deutschland noch vorhanden ist. Premierminister Blair hat den englischen Universitäten empfohlen, dem amerikanischen Modell nachzueifern. Ihm war wahrscheinlich nicht klar, dass sich dann die englischen Finanzierungsmethoden ändern müssten, um ein solches Ziel zu erreichen. Vor allen Dingen müsste sich der Anteil der Eigenfinanzierung der Studenten gewaltig erhöhen, und ob das erstrebenswert ist, kann zumindest bezweifelt werden.

Die von Blair als wünschenswert angesehene Expansion bringt aber noch ein anderes Problem mit sich, nämlich die Erhaltung der Leistungsstandards. Ohne massive Vermehrung des Lehrpersonals werden sich die Leistungen, wie in Deutschland zu sehen ist, kaum halten lassen. Aber anders als in Deutschland gibt es in England Spitzenuniversitäten, die ein starkes Interesse an der Erhaltung von Leistungsniveaus haben. Zusammen mit einigen wenigen anderen Institutionen beherrschen die beiden alten Universitäten von Oxford und Cambridge die Leistungsvorstellungen im akademischen Leben. Ihnen wird allerdings noch immer der Vorwurf gemacht, Eliteuniversitäten zu sein. Da aber der Zugang bei entsprechendem Leistungsnachweis allen Bewerbern offen steht, trifft der Elitevorwurf eigentlich mehr auf die spätere Anstellung nach Abschluss des Studiums zu. So haben etwa 40 % der Unterhausabgeordneten in Oxford oder Cambridge studiert. Bei den Managerposten im Geschäftsleben der Londoner City, bei den höheren Beamtenstellen im Londoner "Civil Service", bei den Richterämtern sowie bei den Bischöfen der Anglikanischen Kirche überwiegt noch der Anteil von Oxbridge-Absolventen. Allerdings werden alle diese Stellen ausgeschrieben, und ihre Besetzung findet in einem Wettbewerb statt. Bei zunehmender Qualität bei einer größeren Zahl der Studenten bahnt sich hier allmählich ein Wandel an.

Wenn von Journalisten und Regierungsmitgliedern der Vorwurf erhoben wird, dass es sich bei den beiden alten Universitäten um elitäre Einrichtungen handelt, dann ist damit das Zulassungsverfahren und manchmal auch das Studium selbst gemeint. Zwar ist es richtig, dass unter den Oxbridge-Studenten der Anteil der Schüler

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von privaten "Public Schools" unverhältnismäßig hoch ist, aber die Tendenz ist fallend. Betrug dieser Anteil nach dem Zweiten Weltkrieg fast noch 80 %, so ist er mittlerweile auf 40 % gesunken. Da nur 8 % eines Schülerjahrgangs Privatschulen besuchen, ist natürlich die Diskrepanz nicht zu übersehen. Allerdings hat man in Oxford in den letzten Jahren sehr viel unternommen, um einen weiteren Kreis von qualifizierten Abgängern aus staatlichen Schulen zu gewinnen. Mit privaten Spenden laufen das "Oxford Access Scheme" und das "Target Schools Scheme", mit denen Informationsveranstaltungen an staatlichen Schulen organisiert werden, die über die Studienbedingungen in Oxford aufklären. Außerdem werden in den Sommerferien Seminarwochen in Oxford veranstaltet, die von einer großen Zahl von Schülern aus unterprivilegierten städtischen Bezirken besucht werden. Hinzu kommt, dass Gruppen von Lehrern nach Oxford eingeladen werden und dass Professoren in den Schulen Vorträge halten, um irgendwelche Vorurteile gegen Oxford auszuräumen. Diese Anstrengungen von Seiten Oxfords werden in der Öffentlichkeit durchaus anerkannt, aber vielen Kritikern geht die stetige Erhöhung des Anteils staatlicher Schulabgänger noch zu langsam vor sich. Neben Oxford und Cambridge gibt es aber noch andere Universitäten, wie z.B. Bristol, Durham, Exeter und Bath, die einen unverhältnismäßig hohen Anteil von Studenten aus den "Public Schools" aufweisen, der oft noch höher ist als der von Oxford. Auch diese Universitäten unternehmen einiges, um für eine größere Zahl von staatlichen Schulabgängern attraktiv zu werden. Trotzdem wird Oxford als Spitzenuniversität gern als Zielscheibe in der Öffentlichkeit benutzt, obwohl die Fakten auf ganz andere Zusammenhänge hinweisen. Man muss sich nämlich klarmachen, dass wenn die mittleren Einkommensschichten wieder in zunehmendem Maß ihre Kinder auf die Privatschulen ("Public Schools") schicken, dann ist es unausweichlich, dass ihr Anteil an den Studentenzahlen ziemlich hoch sein wird und zwar an den Universitäten mit besseren Leistungsstandards höher als an den Durchschnittsuniversitäten.

Der Vorwurf eines elitären Lehrsystems ist wohl doch abwegig. Das Rückgrat der Lehrveranstaltungen bildet neben Vorlesungen, Seminaren und "Classes" das "Tutorial System", das bedeutet Kleingruppenunterricht. Diese Tutorien, an denen Gruppen von zwei, drei, vier, fünf oder auch mehr Studenten teilnehmen, finden wöchentlich statt und dauern in der Regel 90 Minuten. Auch die anderen britischen Universitäten praktizieren ein ähnlich strukturiertes Lehrangebot, allerdings mit dem Unterschied, dass die Tutorien nicht mehr wöchentlich stattfinden. In den Tutorien werden in Oxford die für einen Kurs wöchentlich zu schreibenden Kurzreferate – in Geschichte z. B. in einer Länge von 4 bis 8 Schreibmaschinenseiten – in den verschiedensten Formen vorgetragen und diskutiert. Fast alle Lehrenden halten diese Tutorien ab, gleichgültig ob es sich um Professoren oder gerade eingestellte junge "Lecturers" handelt. Z. Zt. beträgt die durchschnittliche Lehrbelastung mit Tutorien 12 Stunden pro Woche. Vorlesungen, Seminare und "Classes" kommen noch hinzu,

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aber es ist geplant, die wöchentliche Belastung mit Tutorien in Oxford zu reduzieren, um mehr Zeit für Forschungen zu finden. Die vor vielen Jahren noch stattfindenden Einzeltutorien gibt es heutzutage eigentlich nicht mehr. In den Naturwissenschaften gibt es außer den Tutorien noch die Laborgruppen, die bei den experimentierenden Disziplinen immer wichtiger geworden sind und gegenwärtig mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Tutorien. Ein großer Vorteil der Tutorien besteht im persönlichen Kontakt mit den Lehrenden. Ein Massenbetrieb wie in Deutschland ist ausgeschlossen. Das trifft auch weitgehend auf die anderen britischen Universitäten zu.

In den Geisteswissenschaften beträgt die Studienlänge drei Jahre. Nur in den Sprach- und Literaturwissenschaften – wenn es sich nicht um Englisch handelt – kommt meistens noch ein viertes Jahr hinzu, in dem sich der betreffende Student im Ausland aufhält. Am Ende dieser Studienzeit steht ein allgemeines Abschlussexamen, der B.A., der nicht mit einer Zwischenprüfung zu vergleichen ist. In Geschichte, das im Gegensatz zu Deutschland an den meisten britischen Universitäten zu den großen Fakultäten zählt – d. h. etwa 12 % aller immatrikulierten "Undergraduates" studieren dieses Fach –, müssen in Oxford in den drei Jahren zwischen 70 und 85 Referate abgegeben und durchgesprochen werden, d. h. zwischen 8 und 12 in einem Trimester. Für das B.A.-Examen müssen 6 oder 7 Klausuren geschrieben und eine Hausarbeit eingereicht werden. Diese Einzelheiten variieren von Fakultät zu Fakultät. In den Naturwissenschaften sind in den letzten 12 Jahren in der Regel vierjährige Studienzeiten eingerichtet worden, was aber den Arbeitsaufwand pro Trimester nicht mindert. Außer dem Abschlussexamen werden Prüfungen am Ende des ersten Studienjahres und in einzelnen Fällen auch nach dem zweiten Jahr abgehalten. Dass in den meisten britischen Universitäten der Arbeitsaufwand der Studenten größer ist als in Deutschland, ist bekannt und wird von den vielen tausend deutschen Studenten, die in England studieren, bestätigt. Durch das intensivere Studium ist es jedoch möglich, vergleichsweise die Studienzeit relativ kurz zu halten. Die in Deutschland gelegentlich geäußerte abwertende Kritik an der Verschulung geht am Kern vorbei, da die Studenten über eine große Auswahl unter den Kurskombinationen verfügen. Hinzu kommt, dass die Studenten durch das in verschiedener Intensität ausgeübte "Tutorial System" besser motiviert sind als die deutschen Studenten in den ersten Semestern. Dass die britische Universität trotz großer finanzieller Schwierigkeiten in der Regel eine Arbeitsuniversität mit klar strukturierten Leistungs- und Zielvorgaben ist, muss als bessere Vorbereitung auf das spätere Berufsleben angesehen werden als die überlangen Studienzeiten in Deutschland. Der Luxus, den man sich in Deutschland mit einem wenig durchrationalisierten System leistet, ist nicht gerechtfertigt, da weder in der Wissenschaft noch in der Wirtschaft vergleichsweise höhere Leistungen erbracht werden. Eine Verkürzung der Studienzeiten in den Geisteswissenschaften müsste durchführbar sein, vor allen Dingen dann, wenn man sich von der Vorstellung löst, dass jeder Student darauf vorbereitet werden muss, eine Doktorarbeit zu

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schreiben. Sicherlich promovieren mehr Studenten in Deutschland als in Großbritannien, aber an den britischen Universitäten legt man größeren Wert darauf, den Studenten einen Überblick über das Fach und seine Komplexität zu verschaffen. Die Ausbildung zur Forschung erfolgt dann im Graduiertenstudium, in das sich allerdings nur eine geringe Zahl einschreibt.

Die Promotionszeit selber ist mit Ausnahme von Jura und Medizin auch in England kürzer als in Deutschland. Und hier macht sich unnötige staatliche Einflussnahme aus London geltend. Wer Nutznießer staatlicher Promotionsstipendien ist, muss sich praktisch verpflichten, die Promotionszeit nicht über 3½ oder im äußersten Fall vier Jahre auszudehnen. Dass das machbar ist, hängt größtenteils mit der intensiveren Betreuung zusammen, die an britischen Universitäten üblich ist. Da der "Supervisor" oder Betreuer die Rolle des Beraters übernimmt, d. h. nie der Gutachter ist, gibt es auch keine Interessenkonflikte oder "geistige Korruption". Die Dissertation wird von anderen internen und externen Experten geprüft, die in Oxford sogar aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich oder Amerika eingeladen werden können. Um sich internationalen Standards anzupassen, müsste auch in Deutschland die Rolle des "Doktorvaters" von der Rolle des Prüfers oder Gutachters getrennt werden. Hinzu kommt, dass es in England auch kein Rigorosum gibt, sondern nur die Doktorarbeit geprüft wird. Es wäre an deutschen Universitäten zu überlegen, ob es wirklich noch sinnvoll ist, neben dem Magister- und Staatsexamen sowie dem an einigen Universitäten bereits eingeführten B.A. noch ein Rigorosum alter Art durchzuführen, wenn das Wesentliche einer Promotion in der Dissertation besteht. Außer dem originären Forschungsbeitrag, den eine Dissertation liefern muss, gilt die Promotion in England überwiegend als Einstiegskarte in die wissenschaftliche Laufbahn. Eine Habilitation gibt es nicht, was aber nicht bedeutet, dass kein Druck zur Beibringung von weiteren Forschungsleistungen ausgeübt wird. Das hängt damit zusammen, dass staatliche Forschungsevaluierungen zur finanziellen Bemessungsgrundlage geworden sind. Je größer die Forschungsleistung, desto höhere staatliche Zuschüsse sollten gezahlt werden. Jedoch erwies sich das britische Kultusministerium außer Stande, diese Verpflichtung einzuhalten, da die u. a. auch international besetzten Evaluierungsgremien in diesem Jahr zu vielen Abteilungen und Fakultäten nach vorgeschriebenen Kriterien die höchste Note – 5* – verliehen haben.

An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass in England ein Studium nicht auf einen bestimmten Beruf, mit Ausnahme von Medizin und Architektur, zugeschnitten ist. So gehen die meisten Geschichtsstudenten von meinem College zu Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen, d. h. zur City. Oder sie wählen eine juristische Ausbildung, werden Wirtschaftsprüfer oder Journalisten. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz geht in den Schuldienst oder bewirbt sich um eine Beamtenlaufbahn im "Civil Service" in London. Auch ist zu beobachten, dass ein relativ hoher Prozentsatz von Anglisten Software-Spezialisten geworden sind, ohne Elektrotechnik oder

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Mathematik studiert zu haben. Die allgemeine geistige Ausbildung an den Universitäten schafft ein hohes Maß an Flexibilität in der Berufswahl und im späteren Berufsleben. Dies kann in der sich laufend verändernden Berufswelt heutzutage nur von Vorteil sein. Außerdem werden die "Undergraduates" kaum für Forschung – in den Naturwissenschaften ändert sich das meistens im letzten Studienjahr – ausgebildet. Da nur ein kleiner Teil von Studenten die Universitätslaufbahn anstrebt, was bei den relativ niedrigen Gehältern auch kein Wunder ist, scheint die Vermittlung allgemeiner systematisch-wissenschaftlicher Kenntnisse mehr angebracht zu sein als die propädeutische Vorbereitung für die Promotion. Bemerkenswert ist noch, dass das Interesse der Arbeitgeber an Arbeitsplatzbewerbern mit abgeschlossenem Hochschulstudium gestiegen ist. Waren es 1986 nur 10 % aller Arbeitsplätze, die ein Abgangszeugnis der Universitäten erforderten, so ist diese Zahl im letzten Jahr auf 17 % gestiegen. Zur gleichen Zeit ist der Anteil derjenigen, die überhaupt keine Qualifikationen benötigten, im gleichen Zeitraum von 38 % auf 27 % gesunken. Die Nachfrage nach akademisch qualifizierten und allgemein qualifizierten Arbeitskräften ist gestiegen und steigt weiterhin. Dass 81 % der Arbeitskräfte 2001 am Arbeitsplatz eine wichtige neue Schulung erhielten, deutet darauf hin, dass keine enge Bindung zwischen Berufswahl und vorherigem Studium besteht. Die Arbeitgeber sind also mehr an allgemeiner geistiger Ausbildung und Schulung interessiert als an Berufsvorbereitung im Studium, denn Flexibilität und Arbeitsplatzwechsel charakterisieren den britischen Arbeitsmarkt in stärkerem Maß, als das vielleicht in Deutschland der Fall ist.

Wie immer sich auch die englischen Universitäten weiterentwickeln werden – bisher lassen sich drei Faktoren identifizieren, welche Größe, Gestalt und Qualität einer englischen Universität bestimmen werden:

1. Der weiterhin anhaltende Zulassungsdruck, der auch gerade von den Wählern ausgeht, die einen Studienplatz für ihre Kinder beanspruchen. Solange ein Hochschulstudium mit höheren Einkommenserwartungen verbunden ist, wird dieser Druck anhalten, auch wenn er nicht von allen sozialen Schichten gleichmäßig ausgeht. Das bedeutet, dass der weitere Demokratisierungsprozess zu höheren Studentenzahlen führen wird.

2. Diesem Druck steht auf der Gegenseite der steigende Bedarf an geistig vorgebildeten und qualifizierten Arbeitskräften gegenüber. Ich habe hier den Ausdruck "vorgebildet" benutzt, um darauf hinzuweisen, dass das englische Studium, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein berufsbestimmtes Studium ist. Über Vor- und Nachteile dieses Systems kann man diskutieren, aber eins ist sicher, nämlich dass auf diese Weise eine größere Flexibilität in der Berufsentwicklung gesichert ist. Das zeichnet ja auch einen großen Teil der amerikanischen Hochschulabsolventen gerade auch im Vergleich zu Deutschland aus.

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3. In der Öffentlichkeit wird eine Debatte über die Qualität des Studiums geführt, d. h. eine Debatte über Anforderungen und Erwartungen, über Ziele und Leistungen. Dabei wird nicht alles in Frage gestellt. Es gibt eine Reihe von Strukturelementen, die sich bewährt haben und die sicherlich nicht mehr so ohne weiteres geändert werden. Aus diesen Elementen ergeben sich m. E. eine Reihe von praktischen Reformvorschlägen, die für Deutschland relevant sind.

Einmal geht es um die Einführung von befristeten Studiengängen, die in der Regel nicht mehr als vier Jahre dauern dürften. Am Ende dieser vier Jahre müssten dann die Universitäten eine einheitliche Prüfung für alle diejenigen Studenten durchführen, die ein vierjähriges Studium abgeschlossen haben. Dazu müssten auswärtige Prüfer hinzugezogen und ein ganzes System entwickelt werden, das Maßstäbe vereinheitlicht und überschaubarer macht. In einigen Disziplinen wird so etwas schon z. T. durchgeführt, aber eine Vereinheitlichung wäre durchaus angebracht. Regelstudienzeiten sind ein Meilenstein auf diesem Weg, aber eigentlich noch nicht genug. Das Lehrangebot mit obligatorischen und optionalen Kursen müsste für Studenten überschaubar sein, und das Lehrangebot müsste auf die Fortschritte der Studenten zugeschnitten sein. Auch müssten die Leistungskriterien für jeden Kurs einheitlich an jeder Universität festgelegt werden. Dasselbe gilt auch für Anfangs-, Zwischen- und Schlussexamen. Ob man das Schwergewicht mehr auf Examen legt oder auf "Continuous Assessment" ist hier nicht zu entscheiden. Wichtig ist m. E. die Verkürzung der Studienzeiten bei gleichzeitiger Intensivierung des Studiums.

Zum andern geht es um eine Reform des Lehrkörpers und der bestehenden Hierarchien. Das erste Reformkriterium sollte die Einstellung jüngerer und befähigter Wissenschaftler sein. In England ist es nicht selten, vor allen Dingen in den Naturwissenschaften, dass Lehrkräfte als "Lecturers" schon in jungen Jahren (zwischen 24 und 27) eingestellt werden und zwar mit gleicher Lehrbelastung und gleicher Prüfungs- und Promotionsberechtigung wie ihre älteren Kollegen. Um die Innovationskraft jüngerer Kollegen nutzbar machen zu können, müssen sie gleichberechtigt – auch bei der Beantragung von Forschungsmitteln – und unabhängig handeln können. Das muss zu einer Reduzierung des Assistentenwesens führen, was aber nicht unbedingt nachteilig ist. Das bestehende Übergewicht von C3- und C4-Professoren fördert die Universitäten nur selten. Wie man diese jüngeren Kollegen am Anfang ihre Karriere betitelt, ist sekundär. Es gibt schon allein in der angelsächsischen Welt genügend Vorbilder dafür. Ein weiterer Gedanke, der hier erwähnt werden soll, betrifft die Verbesserung des Verhältnisses zu den Studenten. Zwar gibt es auch in Deutschland gute Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, aber wie die hohen Aussteigerzahlen beweisen, fehlt es oft an intensiver Beratung, Anweisung und Betreuung. Um die Voraussetzungen für ein besseres Verhältnis zu schaffen, muss die Teilnehmerzahl bei Seminaren, Übungen und Tutorengruppen drastisch reduziert werden. An vielen Universitäten in England sind die Arbeitsgruppen nicht größer als

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5 bis 6 oder bei neuen finanziellen Kürzungen 10 oder 12. Bei Vorlesungen ist die Teilnehmerzahl nicht so bedeutend, aber es ist die Frage, ob Vorlesungen die beste und effizienteste Lehrveranstaltung sind.

Und schließlich geht es um die Reform der Promotion, auf die bereits eingegangen worden ist, und die Abschaffung des Habilitationsverfahrens, das es weder in den Vereinigten Staaten noch in Großbritannien gibt.

Wenn sich die deutschen Universitäten weiterhin gegen die Einführung von grundlegenden Reformen dieser Art wehren, besteht die Gefahr, dass sie den Anschluss an international geforderte Leistungen in der Lehre verlieren. Außerdem kommt hinzu, dass eine wachsende Zahl von deutschen Wissenschaftlern ins Ausland geht, um dort zu forschen und zu lehren. Nur selten ist es ihnen möglich, ihre ausländischen Erfahrungen in Deutschland in die Praxis umzusetzen, da die Abneigung gegen Rückkehrwillige aus verschiedenen Gründen immer sehr stark ist.

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