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Eberhard Demm
Einleitung


Die Situation ist absurd: Deutsche Eltern bezahlen an amerikanischen Eliteuniversitäten hohe Studiengebühren, damit ihre Kinder dort von deutschen Spitzenkräften unterrichtet werden, die in Deutschland keine Stelle bekommen. Barbara Hahn, in Deutschland promoviert und habilitiert, hatte sich Anfang der neunziger Jahre vergeblich an über 30 (dreißig!) deutschen Universitäten beworben. Jetzt ist sie Professorin für deutsche Literatur in Princeton, das zur berühmten "Ivy League" gehört und wohl eine der besten Universitäten der Welt ist. "Wie gern wäre ich in Deutschland geblieben", schreibt sie in ihrem Beitrag.[Fn_1] Frau Hahn ist kein Einzelfall. Seit Jahrzehnten gehen jährlich Hunderte von deutschen Nachwuchswissenschaftlern ins Ausland, häufig deswegen, weil sie hier wegen undurchsichtiger Berufungsverfahren keine Stelle finden oder infolge traditioneller Abhängigkeiten ihr innovatives Lehr- und Forschungspotential nicht entfalten können. Dieses Phänomen wird in der deutschen Öffentlichkeit fast nur in Teilbereichen wahrgenommen, im Mittelpunkt stehen die Naturwissenschaften und das klassische Brain Drain-Ziel USA.[Fn_2] Dabei gibt es immer mehr deutsche "Bildungsflüchtlinge" auch aus den Kultur- und Wirtschaftswissenschaften, und viele von ihnen zieht es auch in die europäischen Länder.

Um mehr darüber zu erfahren, verschickte ich europaweit Fragebögen und organisierte schließlich gemeinsam mit meinem Kollegen Hartmut Soell (Heidelberg) sowie mit Frau Hahn als assoziierte "Convener" Mitte Oktober 2001 in Bonn eine Tagung über den deutschen Brain Drain, die unter der Schirmherrschaft von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn stand und von der Friedrich Ebert-Stiftung (Manuela Erhart) und der Französischen Botschaft in Berlin (Philippe Viallon) unterstützt wurde. Allen beteiligten Personen und Institutionen danke ich für Ihr Engagement. 20 deutsche Hochschullehrer aus 11 europäischen Ländern waren eingeladen, um über ihre Situation zu referieren und sich auch mit neueren Entwicklungen

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im deutschen Hochschulsystem vertraut zu machen. Ziel der Tagung war aber nicht, eine Klagemauer zu errichten. Die deutschen Migranten[Fn_3] sollten vielmehr auf Grund ihrer langjährigen Erfahrungen im europäischen Ausland Impulse und Denkanstöße für die deutsche Universitätsreform sowie für die weitere Harmonisierung der Ausbildung in der Europäischen Union geben.[Fn_4]

Im vorliegenden Band sind leider nicht alle Länder gleichmäßig berücksichtigt. Einige Teilnehmer sagten im letzten Augenblick ab, andere reichten ihre Referate nicht schriftlich ein. Aber auch die vorliegenden Beiträge sind ungleich gewichtet. Ursprünglich sollten unter Verwendung meiner Fragebögen die Situation der Migranten in den einzelnen Ländern ermittelt sowie ihre Anregungen zur Hochschulreform aufgenommen werden. Dies ließ sich nicht immer konsequent durchführen. Auch weitergehende statistische Erhebungen über deutsche Migranten scheiterten mancherorts, so in Italien, am "dichten Nebel", wie es Manfred Beller ausdrückte, nämlich an dem Mangel einschlägiger Daten. Zuweilen werden sie auch, um etwaige Diskriminierungen zu vermeiden, gar nicht erst ermittelt oder, wie in Spanien, aus Gründen des Datenschutzes geheim gehalten. Nur in Großbritannien gibt es sehr detaillierte statistische Untersuchungen über die Ausländer an britischen Universitäten, sie werden aber von der zuständigen Behörde nur gegen hohe Gebühren übermittelt, die unser Englandreferent, Till Geiger, erst nach langwierigen Verhandlungen mit dem zuständigen Forschungsrat seiner Universität bezahlen konnte. Ost- und Südosteuropa fielen zu meinem Leidwesen praktisch aus infolge der geringen deutschen Präsenz in diesen Ländern, die natürlich mit den extrem niedrigen Gehältern zusammenhängt. Von dort erschien nur ein einziger Referent zur Tagung, der dann sein Referat für den Band doch nicht zur Verfügung stellte.

In den vorliegenden länderspezifischen Beiträgen wird zunächst die universitäre Ausbildung im jeweiligen Land vorgestellt. Damit gibt dieser Band gleichzeitig eine erste Übersicht über die europäische Hochschullandschaft, die vielleicht für künftige Migranten nützlich sein könnte.[Fn_5] Dabei wird deutlich, dass in den letzten Jahren fast alle (west)europäischen Länder ihre Hochschulen zum Teil radikal reformiert haben,

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während Deutschland im Reformstau stecken blieb und daher im europäischen Vergleich zurückfiel. Frühe Warnungen von Migranten, die seit den siebziger Jahren auf Veränderungen drängten, wurden leider beharrlich ignoriert.[Fn_6] Erst Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn hat, z. T. wohl inspiriert durch ausländische Vorbilder,[Fn_7] mit großem Mut die längst überfällige Reform angepackt; allerdings musste ihre Novelle zum Hochschulrahmengesetz noch zu viele Rücksichten nehmen und wurde schließlich von zahlreichen Betroffenen angegriffen.[Fn_8]

Situation, Motivation und Karrieremuster der deutschen Migranten variieren nicht nur von Land zu Land, sondern auch im Land selbst, wobei der Zeitpunkt der Migration, das Alter, aber auch das jeweilige Fachgebiet eine Rolle spielen. Ich kann hier nur eine allgemeine Übersicht geben, teilweise auch unter Berücksichtigung der von mir ausgewerteten Fragebögen,[Fn_9] für alle Einzelheiten verweise ich auf die jeweiligen Beiträge. Hier wie sonst werden zur Vereinfachung die Personen- und Funktionsbezeichnungen in männlicher Form verwendet, stehen aber jeweils für die weibliche und männliche Form.

Warum gehen also deutsche Wissenschaftler ins Ausland? Zunächst einmal finden sie nach ihrer Promotion bzw. Habilitation trotz aller Bemühungen in Deutschland keine Stelle. Das hängt allerdings in zahlreichen Fächern insbesondere der Philosophischen Fakultät auch mit einem extremen Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage zusammen. So kommen z. Zt. auf eine freiwerdende Professur in neuerer Geschichte im Durchschnitt dreizehn habilitierte Kandidaten, und in der jüngsten Analyse dazu heißt es kritisch: "In unserem Fach besteht eine systematische Überproduktion an wissenschaftlichem Nachwuchs."[Fn_10] Trotzdem werden weiterhin Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs hochgezogen, die ohne Rücksicht auf einen übersättigten Markt Doktoren "auf Halde" produzieren. Aber auch wer sofort nach der Promotion eine Stelle erhält, findet sich damit auf einem "Schleudersitz" wieder, der ihn nach wenigen Jahren in die Erwerbslosigkeit stößt, denn sichere Mittelbaustellen gibt es in Deutschland fast nicht mehr. Sie werden durch prekäre auf wenige Jahre befristete Anstellungen oder durch die vielfältigen Fördermaßnahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ersetzt, die geradezu einen Mittelbau-Ersatz

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liefern.[Fn_11] Es gibt tatsächlich in Deutschland Wissenschaftler, die sich von der Promotion bis zur Rente von Projekt zu Projekt hangeln und so für die Forschung von Großordinarien zur Verfügung stehen. Im Ausland hingegen bekommt der junge Doktor eine feste Position oder zumindest die begründete Aussicht darauf. Insbesondere jüngere Migranten wandern schon während des Studiums oder spätestens zur Promotion ins Ausland ab und bleiben dann dort. Damit wird eine zunächst temporäre Migration permanent, und wertvolles Humankapital geht Deutschland verloren.[Fn_12] Auch private Gründe – wenn man im Ausland den Lebenspartner findet – spielen besonders in etwas "exotischeren" Ländern wie Spanien oder Portugal eine Rolle. Nicht wenige Migranten sind zunächst als DAAD-Lektoren ins Ausland gegangen und dann dort geblieben. Auch der Wunsch, internationale Erfahrungen zu sammeln, spielt eine Rolle, ferner das Angebot besserer Forschungsmöglichkeiten. Ein habilitierter deutscher Historiker aus England schreibt z.B.,

    "dass der englischsprachige Raum in der Geschichtswissenschaft zurzeit viel innovativer ist. Die Dominanz der alten Politikgeschichte und der auch schon ganz schön alten Sozialgeschichte lässt die Kulturgeschichte in Deutschland nicht so schnell vorankommen wie sie sollte."[Fn_13]

In manchen Fächern wird auch das "unerträglich geringe Niveau" der Forschung in Deutschland als Migrationsgrund angegeben. Die starke Abhängigkeit von den hierarchischen Strukturen ist ein besonderer Stein des Anstoßes. Einer jungen Doktorin erklärte ein deutscher Ordinarius wörtlich, "sie dürfe keine selbständige Lehre machen, weil sie sonst zu unabhängig würde." Ein anderer Migrant schreibt, er wollte nicht "Sattelknecht für Großordinarien" sein. In der Tat ist die Lektüre der Vorwörter mancher deutschen Bücher in dieser Hinsicht aufschlussreich. Da wird zuweilen bis zu zehn Personen für ihre, nicht immer genau präzisierte, Unterstützung gedankt. Nur wenige sind so ehrlich wie der Migrationsforscher Klaus J. Bade, der in seinem jüngsten Buch die ganz erhebliche Arbeitsleistung seiner Assistenten genau auflistet.[Fn_14] Im Ausland hingegen kann man ohne Gängelei durch Vorgesetzte frei

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lehren und forschen, neue Studienbereiche aufbauen und sich leichter mit internationalen Forschungseinrichtungen vernetzen. Ein weniger bekannter Grund für den Brain Drain sind die hohen Hürden, die deutsche Universitäten einer Weiterqualifikation entgegenstellen. Verschiedene Migranten waren gezwungen, im Ausland zu promovieren, weil entweder ihr ausländischer Studienabschluss oder ihr deutscher Fachhochschulabschluss nicht anerkannt wurden. Selbst eine medizinische Ausbildung berechtigte nicht ohne Nachholen des gesamten Grundstudiums zu einer Promotion zum Dr. rer. nat. Nicht zuletzt haben Frauen in zahlreichen Fachbereichen im Ausland viel bessere Berufungsmöglichkeiten (Hahn, Geiger).[Fn_15]

Welche Anregungen geben nun die Migranten für die deutsche Hochschulreform? Zunächst einmal wird auf die erstaunliche Provinzialisierung der deutschen Universität hingewiesen. Philippe Viallon, selbst kein deutscher Migrant, sondern französischer Hochschullehrer und Wissenschaftsreferent der Französischen Botschaft in Berlin, nennt die genauen Vergleichszahlen: in Frankreich lehren 256 Deutsche, umgekehrt in Deutschland aber nur 10 Franzosen. In der Bundesrepublik sind 5,5 % der Hochschullehrer Ausländer,[Fn_16] in Frankreich sind es 8,5 %, in Großbritannien 17 %, bei Neueinstellungen, etwa in Manchester, bis zu 50 %. Immerhin scheinen manche inzwischen guten Willens zu sein. So erklärte der Präsident der thüringischen Reformuniversität Erfurt, Wolfgang Bergsdorf, im Oktober 2001 auf einer Konferenz der "German Studies Association" in Washington, dass man dort 50 % der Professoren aus dem Ausland berufe.[Fn_17]

Eines der größten Probleme ist die prekäre Lage deutscher Jungakademiker nach Promotion und Habilitation, die als "Dr. habil. Hoffnungslos", wie "Die Zeit" einmal titelte, keine Stelle bekommen (Viallon). Albrecht Ritschl, der nach siebenjähriger

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Lehrtätigkeit in Spanien und der Schweiz gerade im letzten Jahr an die Berliner Humboldtuniversität berufen wurde, analysiert mit dem scharfen Skalpell des Wirtschaftshistorikers die Habilitation als ein rudimentäres Kuriosum, eine Art "zünftlerisches Steuerungsinstrument" der Professoren aus vergangenen Zeiten, die damit den Zugang zu den früher sehr lukrativen Hörergeldern kartellmässig beschränkten. In fast allen anderen Ländern ist heute eine gute Promotion die einzige Voraussetzung für eine Dauerstelle als "Lecturer" oder "Maître de Conférences", auch dann, wenn wie in Frankreich erst eine kumulative Habilitation den Zugang zur Professur ermöglicht. Alle befragten Kollegen, auch die Habilitierten, sind für eine ersatzlose Streichung der Habilitation und gegebenenfalls ihre Ersetzung durch weitere Publikationen, etwa ein "zweites Buch", das für Berufungen oder Beförderungen berücksichtigt werden soll. Wenn man eine Verstärkung des Brain Drain verhindern will, dürfe man sich nicht mit halben Maßnahmen begnügen, meint Ritschl. Er empfiehlt u. a. die Abschaffung des Lehrstuhlsystems und der kollektiven Leitung der Fakultäten, die ersatzlose Streichung der Habilitation und den Ausbau der Junior- zur Anwartsprofessur im Sinne des "tenure-tracks", also nach externer Evaluierung.

Dass in der deutschen Berufungspraxis sachfremde Kriterien wie die Protektion von Schülern eine große Rolle spielen, ist bekannt. Christhard Hoffmann hebt die hohe Transparenz bei Nominierungen in Skandinavien hervor, Till Geiger weist daraufhin, dass in England wegen der von externen Forschungsevaluierungen abhängigen Geldmittel deutsche Kandidaten mit guten Publikationen sogar Einheimischen vorgezogen würden. Dabei spielt das offizielle Ranking der Universitäten eine große Rolle. Ein habilitierter deutscher Historiker, der in England lehrt, erklärt den Unterschied zwischen englischer und deutscher Praxis so:

    "Besonders negativ finde ich, dass [in Deutschland] so viele Stellungen über Beziehungen besetzt werden. Die akademische Freiheit in Deutschland wird m.E. missbraucht fürs Zuschustern von Stellen. [...] Eine Assistentenstelle wird meist von einer Person vergeben, die dann einen Lieblingsstudenten wählt oder jemanden, der an etwas arbeitet, was den Professor interessiert. Auch Professuren sind oft schon im Voraus abgeklärt. Eine solche Praxis habe ich an der Lancaster University nie erlebt. Hier ist das Ranking der Universitäten in Großbritannien ein Vorteil: ich will wissenschaftlich gute Kollegen haben, weil nur dann Forschungsgelder ins Department fließen. Ich will auch gute Lehrer als Kollegen haben, damit auch die Arbeitslast bei der Lehre gerecht verteilt wird und damit die Universität ein gutes Ansehen behält oder steigert."

Nicht zuletzt aus diesem Grund sind deutsche Migranten eher an den Eliteuniversitäten vertreten.[Fn_18] Auch die Teilnahme von Ausländern sowie, wenn fachspezi-

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fisch möglich, sogar Nobelpreisträgern mit Vetorecht wird bei Berufungen vorgeschlagen, insbesondere für heruntergewirtschaftete Fachbereiche. Bemerkenswert ist, dass manche ausländische Universitäten in ihrem Bestreben, unbedingt den besten Mann zu berufen, sogar "Search Commissions" einrichten, deren Mitglieder auf internationale Kongresse fahren und dort gezielt potentielle Kandidaten ansprechen.

Die überlangen Studienzeiten sind in Deutschland ein ständiges Ärgernis. In den Niederlanden garantiert ein ausgeklügeltes System von finanziellen Sanktionen (Kombination von Studiengebühren und -gehalt) und intensiv begleiteten Studiengängen mit genau berechnetem Arbeitsaufwand – pro Jahr 42 Wochen zu 40 Stunden –, dass alle Studenten mit 22 Jahren fertig sind (vgl. die Beiträge von Fremdling und Kessler). Entsprechend stellt die niederländische Firma Philips auch prinzipiell nur Bewerber ein, die bei Abschluss des Studiums nicht älter als 25 Jahre sind. Deutsche Ingenieure oder Naturwissenschaftler mit ihren überlangen Schul- und Studienzeiten dürften da gar keine Chancen haben. Aber selbst Länder wie Spanien haben das Studium längst straff strukturiert und auf international anerkannte Evaluierungspunkte ("Credit points") und Abschlüsse (B.A. und M.A.) hin orientiert. Das im Dezember 2001 nach jahrelangen Beratungen endlich verabschiedete Hochschulrahmengesetz, das ca. 600 Verbesserungsvorschläge der verschiedensten Gremien berücksichtigt hat, wird verbleibende Missstände beseitigen und Spanien vielleicht an die Spitze der europäischen Wissenschaftsorganisation katapultieren (vgl. den Beitrag von Raders). Empfohlen wird den deutschen Universitäten eine stärkere Trennung von Normal- und Graduiertenstudium (Ritschl) sowie eine schärfere Selektion, insbesondere in einem straff strukturierten Grundstudium mit kontinuierlichen Prüfungen, deren Resultate den Studenten ggf. eine rechtzeitige Umorientierung erlauben. Dass es in dieser Hinsicht offenbar Handlungsbedarf gibt, geht aus der Äußerung eines deutschen Migranten hervor, der erst im Ausland mit Verwunderung feststellte, "dass nicht jeder Student mühelos sein Examen bestehen muss."

Während deutsche Professoren starr nach Dienstalter bezahlt werden und nur bei Berufungs- oder Bleibeverhandlungen zusätzliche Mittel beantragen können, werden in mehreren Ländern Forschung und Lehre regelmäßig durch externe Kommissionen evaluiert und die finanzielle Ausstattung leistungsbezogen bemessen (Geiger, Raders, Fremdling, Kessler, Ritschl). Ein großer Unterschied besteht auch darin, dass im Ausland in viel größerem Maße neue Studiengänge und Fachkombinationen angeboten werden, die auf die Bedürfnisse des Marktes Rücksicht nehmen und so die beruflichen Chancen ihrer Absolventen erheblich verbessern (Geiger, Allerkamp, Kessler).

Beim Vergleich mit dem Ausland werden aber auch die Vorteile deutlich, die das deutsche Ausbildungssystem noch immer auszeichnet: der aus der Humboldt-

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schen Tradition kommende Bildungsbegriff und die spezifische Konzeption des Seminars, in dem die Studenten frühzeitig Selbständigkeit und wissenschaftliche Arbeitstechniken lernen, sich in gemeinsamer Forschung mit den Dozenten Erkenntnisse erarbeiten und sie kritisch hinterfragen. Gerade in Ländern mit verschulten Lernuniversitäten napoleonischer Prägung wie Frankreich oder Spanien bemühen sich die Migranten, "die Studiengänge mit Elementen aus dem deutschen Seminarbetrieb anzureichern" (Allerkamp, vgl. Raders). Dabei wird der traditionelle lehrerdominierte Frontalunterricht mit anschließendem Auswendiglernen und Abfragen durch emanzipatorische Lehrmethoden, – autonome studentische Mitarbeit, Referate und kritische Diskussionen – aufgelockert, was aber wohl nicht immer gelingt.[Fn_19] Hilfreich ist dabei nicht selten die deutsche Referendarausbildung, in der pädagogische Reflexion und neuere didaktische Lehrtechniken wie Gruppenunterricht vermittelt werden. Diese Orientierung vieler Migranten an deutschen Lehrtraditionen ist um so bemerkenswerter, als das Humboldtsche Modell inzwischen von zahlreichen deutschen und ausländischen Kritikern als Mythos kritisiert und als Hemmschuh für eine Modernisierung der deutschen Universitäten angesehen wird.[Fn_20]

Hervorzuheben ist, dass die Situation der Migranten im europäischen Ausland keineswegs so brillant ist wie in den USA. In Skandinavien, Großbritannien, Frankreich und Spanien liegen die Gehälter erheblich niedriger als in Deutschland, in Frankreich und Spanien werden noch immer Ausländer z. T. schlechter als Einheimische bezahlt (vgl. die Beiträge von Allerkamp, Raders, Hoffmann und Geiger). Auch die Büroausstattung lässt zu wünschen übrig, es gibt "bestenfalls Büro und Computer" (Hoffmann), manchmal müssen sich mehrere Dozenten ein Büro teilen, Sekretärinnen sind Mangelware (Allerkamp, Heimer, Raders, Hoffmann). Der Zugang zu Forschungsgeldern ist in den jeweiligen Ländern, aber auch in den einzelnen Universitäten und Fachbereichen sehr unterschiedlich. Vor allem ist es schwierig, Geld für deutschlandbezogene Forschung zu erhalten, und bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft können Migranten keine selbständigen Anträge stellen, sondern müssen sich an einen Ordinarius in Deutschland wenden, der sozusagen als "Strohforscher" fungiert. Wenn sie niemand finden, der sich für ihr Projekt interessiert, haben sie eben Pech gehabt (und die Bundesrepublik vielleicht auch).[Fn_21] Gravierender sind finanzielle Benachteiligungen, die bei der Pensionierung und, jedenfalls bei einer

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Rückkehr nach Deutschland, bei der Krankenversicherung auftreten können (Westheide, Allerkamp).

Die Schweiz ist insofern "Sonderfall", da schon seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig Deutsche berufen wurden und das Universitätssystem noch heute ganz wie in Deutschland organisiert ist (von Ungern-Sternberg).

Brain Drain darf nicht grundsätzlich als ein Verlust an Humankapital, als ein negatives Phänomen abgewertet werden, wie das offenbar der Tenor einer für Oktober 2002 in Sofia geplanten Konferenz ist.[Fn_22] "Erfahrungen im Ausland sind unabdingbar," schreibt ein in Großbritannien tätiger deutscher Mediziner, "um die Internationalisierung und Netzwerkstruktur von Forschungsleistungen begreifen und mitgestalten zu können." Außerdem entsteht durch die Akkulturation in einer anderen Gesellschaft ein "innovatorisches Potential" (Hoffmann), das bei einer Rückkehr des Migranten in sein Heimatland zu einem "Brain Gain" führen könnte.[Fn_23] Voraussetzung ist natürlich, dass eine solche Rückkehr möglich ist und die Auslandserfahrung auch bei Berufungen ins Gewicht fällt, vielleicht sogar obligatorisch wird. Die Realität ist bisher leider ganz anders. Ein deutscher Archäologe aus Großbritannien, der sich seit 10 Jahren in Deutschland bewirbt, berichtet:

    "Bei Bewerbungen in Deutschland stellte ich fest, dass meine Auslandserfahrung eher negativ zu Buche schlägt (mir fehlen die Kontakte und einflussreichen Gönner, und ich arbeite mit in Deutschland verpönten "englischen Methoden") und dass deutsche Berufungskommissionen eher für das Unterkommen der Protégés einflussreicher deutscher Professoren sorgen."

Da nützen auch die verschiedenen Förderwege der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Rückkehrer wenig, über die Beate Scholz informiert, zumal sie überwiegend Nachwuchskräfte betreffen. Ältere deutsche Migranten, die aus ihrer langen Auslandserfahrung heraus langfristige Erneuerungsprozesse an deutschen Universitäten in Gang setzen könnten, dürften schon an dem schwerfälligen deutschen Beamtenrecht scheitern, von anderen Berufungshemmnissen ganz zu schweigen.[Fn_24] Immerhin besteht für sie die Möglichkeit, im Rahmen des DAAD-Gastdozentenprogramms für ein bis zwei Jahre in Deutschland zu lehren.

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Auf der Tagung referierten nicht nur Migranten, sondern auch Vertreter einschlägiger Institutionen: Dirk Schüller vom Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt unter dem Titel "Schluss mit dem Brain Drain?" die in der 5. Novelle zum Hochschulrahmengesetz vorgesehene Juniorprofessur vor, die deutschen Nachwuchswissenschaftlern sofort nach der Promotion das Recht zu selbständiger Forschung und Lehre gibt. Christian Tauch und Guy Haug von der Hochschulrektorenkonferenz geben einen Überblick über die Ansätze zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes in Europa, der mit den Beschlüssen der europäischen Bildungsminister in Bologna und Prag über die Einführung eines verbindlichen zweistufigen Studiums mit international anerkannten Abschlüssen erste Konturen zeigt.

In der hier als Anhang abgedruckten Schlussresolution vom 13. Oktober 2001 begrüßten die Teilnehmer einstimmig die von Bundesministerin Edelgard Bulmahn eingeleiteten Reformen in der 5. Novelle zum Hochschulrahmengesetz, insbesondere die leistungsabhängige Bezahlung der Hochschullehrer sowie die Schaffung der Juniorprofessur, plädierten aber auch für weitere Schritte, um die deutschen Universitäten zu verbessern und stärker zu internationalisieren:

  • Straffung der Studienzeiten durch kontinuierliche Prüfungen nach einem Kreditpunktesystem,
  • Zweiteilung des Studiums in ein Regel- und ein Aufbaustudium,
  • Errichtung von kombinierten Teilzeitprofessuren an einer deutschen und einer ausländischen Universität,
  • Ausweitung der Forschungsförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft auf die deutschlandbezogene Forschung im Ausland;[Fn_25]
  • Erhöhung des Anteils ausländischer Hochschullehrer von derzeit knapp 5 % auf 20 %.

Nur so könnten, das war die einhellige Meinung, die deutschen Universitäten den Vorsprung anderer europäischer Länder wieder aufholen, und Feststellungen wie die von Rainer Fremdling, "Das niederländische System ist in fast jeder Hinsicht dem deutschen überlegen,"[Fn_26] würden dann der Vergangenheit angehören. Allerdings sind die Erwartungen an die HRG-Novelle schließlich doch etwas enttäuscht worden, und im Nachwort zum vorliegenden Band zieht Albrecht Ritschl ein etwas bitteres Fazit unter dem Titel "Die verpatzte Reform".



    [Fußnoten]

    1. - Zitat etwas umgestellt, s. unten S. 19; vgl. Anne Overlack, Barbara Hahn – oder: Wie man keine deutsche Professorin wird, in: Neue Zürcher Zeitung, 1.7.1999, S. 59.

    2. - Vgl. z.B. Silke Wettach, Flucht ins Ausland. Der deutschen Forschung geht der akademische Nachwuchs aus, in: Wirtschaftswoche, 31.8.2000, S. 26-31; Christine Brinck, Deutschland als Auswanderungsland. Die Bildungspolitik kann den Exodus der Akademiker nicht bremsen, in: Die Welt, 15.2.2001; Bulmahn gibt 170 Millionen für ausländische Spitzenforscher aus. Auch Rückwerbung Ausgewanderter angestrebt, in: Die Welt, 28.2.2001; Andreas Stuck, Mythos USA – Die Bedeutung des Arguments Amerika im hochschulpolitischen Diskurs der Bundesrepublik, in: Erhard Stölting und Uwe Schimank (Hg.), Die Krise der Universitäten. Leviathan, Sonderheft 20, Wiesbaden 2001, S. 118-136; Konrad Jarausch, Amerika – Alptraum oder Vorbild? Transatlantische Bemerkungen zum Problem der Universitätsreform, Mailing-Liste H-Soz-U-Kult, 6.9.2002.

    3. - Es wurden nur Lehrkräfte mit Dauerstellung berücksichtigt, also keine Lektoren oder Gastdozenten.

    4. - Das Medienecho war recht mäßig; außer meinem eigenen Bericht unter dem etwas missverständlichen Titel "Dr. Hoffnungslos: Was Hochschullehrer Schönes im Ausland erwartet", in: Die Welt, 22.10.2001, ist mir nur bekannt geworden: Isabell Lisberg-Haag, "Hier gehöre ich dazu." Deutsche Wissenschaftler im europäischen Ausland, in: Postskript-Magazin für DAAD-Alumni 2, 2001, S. 17 f.; ob ein Fernsehinterview des Westdeutschen Rundfunks mit Till Geiger gesendet wurde, konnte nicht ermittelt werden.

    5. - Für einen speziellen Vergleich zwischen deutschem und ausländischen Ausbildungssystemen verweise ich auf die interessante Studie von Jürgen Schimank und Markus Winnes, die Untersuchungen aus einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten Projekt "Employment and Working Conditions of Academic Staff in Europe" auswertet: Jenseits von Humboldt? Muster und Entwicklungspfade des Verhältnisses von Forschung und Lehre in den verschiedenen europäischen Hochschulsystemen, in: Stölting/Schimank (wie Anm. 2), S. 295-325.

    6. - So hat sich der Historiker Hartmut Pogge von Strandmann (Universität Oxford) in Zeitungsartikeln sowie zuletzt noch 1992 auf der Deutschen Rektorenkonferenz darum bemüht, eine Reformdiskussion anzuregen, leider ohne jeden Erfolg. (Schriftliche Mitteilung Pogge von Strandmanns an Verf. vom 18.5.2000.)

    7. - Vgl. die Übereinstimmungen, die Margit Raders zwischen dem spanischen Reformmodell und Überlegungen von Frau Bulmahn festgestellt hat, unten S. 129.

    8. - Vgl. z.B. die auf der Webseite von H-Soz-U-Kult zusammengesellten Proteste deutscher Hochschulangehöriger, www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/Hrg/HRG_Index.html

    9. - Wegen der geringen Zahl – ca. 30 – wäre eine direkte Auswertung nicht repräsentativ, ich möchte aber einzelne aussagekräftige Hinweise und Zitate hier berücksichtigen.

    10. - Sylvia Paletschek, Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses im Fach Geschichte. Kurzfassung der Ergebnisse einer Erhebung, Mailing-Liste H-Soz-U-Kult, 24.9.2002.

    11. - "Ersatz" ist bekanntlich eine deutsche Erfindung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, das Wort wurde seitdem in verschiedene europäische Sprachen aufgenommen.

    12. - Vgl. Petrus Han, Soziologie der Migration, Stuttgart 2000, S. 91 ff.

    13. - Dazu ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung: Die Fritz Thyssen-Stiftung, die im Gegensatz zur DFG auch im Ausland fördert und die mich früher bei konventionelleren Projekten finanziell unterstützt hatte, konnte sich leider nicht zur Förderung meines kulturgeschichtlichen Forschungsprojekts über "Akkulturation und Kulturkonflikt in den deutsch-osmanischen Beziehungen" entschließen. Auch das einschlägige Referat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung lehnte meinen Antrag ab.

    14. - Er schreibt: "Der dritte Teil des Buches beruht wesentlich auf Arbeitsergebnissen von Jochen Oltmer, dem ich auch darüber hinaus danke für Anregungen und Kritik sowie für die redaktionelle Überarbeitung des Manuskripts und für die Anfertigung des Registers. Bei einigen der letzten Kapitel hat mir Andreas Demuth hilfreich zugearbeitet." Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 15 f. In Amerika, aber wohl auch mehr und mehr in Deutschland, würden jüngere Kollegen, die so stark an einem Buch beteiligt sind, im Titel selbstverständlich als gleichberechtigte Autoren genannt.

    15. - Vgl. Ann Taylor Allen, Der lange Weg zur Gleichstellung – Frauen im deutschen und amerikanischen Hochschulwesen, in: Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien u. a. 1999, S. 218-233, mit folgenden Vergleichszahlen: 1994 waren in Deutschland 7,5 % aller Professoren Frauen, 1995 waren in den USA 16 % der Full Professors und 30 % der Associate Professors Frauen, ebd., S. 222 und 226.

    16. - Nach einer Länderumfrage des Sekretariats der deutschen Kultusministerkonferenz von Mai 2001 sind von insgesamt 18 946 Hochschullehrern (C2-C4) an den deutschen Universitäten 1 041 Ausländer, d. h. 5,5 %. Die allgemein im Bildungsbereich führenden Bundesländer Baden-Württemberg (7,43 %) und Bayern (6,93 %) sowie das Saarland (7,09 %) liegen darüber, Schlusslicht ist Bremen (1,69 %). Bei Fachhochschulen ist der Ausländeranteil im Bundesdurchschnitt mit 1,83 % noch niedriger, bei Kunst- und Musikhochschulen mit 18,3 % weit höher, nach: Internationales Marketing für den Bildungs- und Forschungsstandort Deutschland, Stand der Internationalisierung der Berufungspolitik, Tabellen, KMK Bonn, Referat III A3, frdl. Mitteilung vom 14.8.2001.

    17. - Konferenznotizen des Verf. Im Verzeichnis der Professoren auf der Webseite der Universität Erfurt sucht man allerdings diese 50 % Ausländer zur Zeit noch vergebens.

    18. - Ein Amerikaner erklärte mir das einmal so: "First-rate people hire first-rate people, second-rate people hire third-rate people." Früher war das wohl auch nicht besser, vgl. die Äußerung Alfred Webers: "Das Kooptationsprinzip verhindert, daß eine Fakultät sich positiv regeneriert, weil sie über ihr Niveau nicht hinauskann," zit. nach Harry Pross, Memoiren eines Inländers 1923-1993, München 1993, S. 157.

    19. - Ein Kolloquium über "Lernen und Lehren in Frankreich und Deutschland", veranstaltet am 15.-17.9.2002 vom Deutsch-Französischen Historikerkomitee in Pont-à-Mousson, befasste sich mit den unterschiedlichen Unterrichtstraditionen in beiden Ländern, die Beiträge werden von Michel Fabréguet und Stefan Fisch herausgegeben.

    20. - Vgl. die verschiedenen Aufsätze in Ash, Mythos Humboldt (wie Anm. 15).

    21. - Der Vorschlag der auf dem Kolloquium versammelten Migranten, die DFG-Förderung wenigstens auf deutschlandbezogene Projekte im Ausland auszuweiten, ist inzwischen leider vom Bundesministerium für Bildung und Forschung abgelehnt worden, Schreiben Herrn Lömkers an Verf. vom 2.9.2002.

    22. - Attracting Young Scientists – Strategies against Brain Drain, Oct. 18th-20th 2002 [Vorprogramm].

    23. - Vgl. G. Pascal Zachary, Die neuen Weltbürger. Einwanderungsgesellschaften gehört die Zukunft, München 2000. Der amerikanische Soziologe Robert E. Park hat schon 1928, in seinem berühmten Aufsatz "Human Migration and the Marginal Man", darauf hingewiesen, dass Fortschritte in der Geschichte überhaupt nur durch Migrationsbewegungen und damit verbundene Mischungen von Völkern und Kulturen ermöglicht wurden, vgl. Han (wie Anm. 12), S. 18.

    24. - Man vergleiche dies mit Spanien, wo die Regierung vor einigen Jahren erfahrene spanische Wissenschaftler im Ausland kontaktierte und sie fragte, unter welchen Bedingungen sie bereit wären, zurückzukehren.

    25. - Inzwischen abgelehnt, s. Anm. 20.

    26. - Rainer Fremdling, unten S. 78; vgl. allerdings die kritischen Bemerkungen im Beitrag von Henning Westheide, unten S. 87 ff.



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