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Interessen und Hindernisse bei der EU-Osterweiterung : die Rolle des "acquis communautaire" / Michael Dauderstädt - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 11 S. = 40 KB, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 98) - ISBN 3-89892-049-6
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002


INHALT





Dieses Papier entstand aus einem Vortrag für das 15. Weltwirtschaftsseminar des Zentrums für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität Leipzig in Leipzig, am 22. und 23. November 2001.
Die endgültige Fassung erscheint in der Reihe
„Transformation. Leipziger Beiträge zu Wirtschaft und Gesellschaft„ Nr.12.

ISBN: 3-89892-049-6

Kontakt:
Referat Internationale Politikanalyse in der Abteilung Internationaler Dialog
Friedrich-Ebert-Stiftung, D-53170 Bonn
Fax: 0228/883-625
e-mail: daudersm@fes.de





Interessen und Hindernisse bei der EU-Osterweiterung
Die Rolle des „acquis communautaire„


Die Forderung der Europäischen Union (EU) an die Beitrittskandidaten, den gemeinschaftlichen Rechtsbestand, den acquis communautaire, zu übernehmen, stellt sicher ein Beitrittshemmnis dar. Ohne diese Forderung wären die Beitrittsvorbereitungen rascher abgeschlossen, die Beitrittsverhandlungen allerdings nicht unbedingt einfacher, da dann die jetzt durch den acquis definierten Regelungssachverhalte anders bestimmt werden müssten. Der Beitritt erfordert allerdings in jedem Fall einen Ausgleich der Interessen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Beitrittsländern andererseits. [Anm._1: Vgl. Barbara Lippert (Hrsg.) „Osterweiterung der Europäischen Union – die doppelte Reifeprüfung„ Bonn 2000, darin auch zwei Beiträge des Autors.]

Diese Interessenlagen gehen allerdings weit über den acquis hinaus. Die EU hat schon frühzeitig auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen 1993 eine Liste von Kriterien verabschiedet, die die Kandidaten erfüllen müssen, um ihr beitreten zu können. Diese Liste umfasst neben der Übernahme des acquis zusätzliche weitreichende Forderungen wie die nach Demokratie, Rechtsstaat, Respektierung der Menschenrechte, Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit und die Nicht-Beeinträchtigung des Integrationsprozesses. Die Kopenhagener Liste wurde zwei Jahre später in Madrid noch um die Forderung nach ausreichender Verwaltungs- und Justizkapazität der Beitrittsländer zur Umsetzung des acquis erweitert. Diese Forderungen gehen in einigen Punkten über die in den Verträgen vorgesehenen Bedingungen an die derzeitigen Mitgliedstaaten hinaus, sowohl im Buchstaben wie in der Interpretation. Die EU prüft die Einhaltung der Bedingungen bzw. die Annäherung der Kandidaten an deren Erfüllung im Rahmen ihrer jährlichen Fortschrittsberichte.

So hat die EU etwa den Beitrittsprozess der Slowakei jahrelang gestoppt, da sie die Regierung Meciar undemokratischer Praktiken bezichtigte. In der Tat entsprachen eine Reihe der Maßnahmen und Aktivitäten dieser Regierung nicht westlichen Vorstellungen, aber sie verletzten kaum in klarer und nachweisbarer Form die Buchstaben internationaler Vereinbarungen. Dies gilt insbesondere für seine Politik gegenüber der ungarischen Minderheit. Die Minderheitenpolitik stellt generell einen wichtigen Teil der kritischen Forderungen der EU dar, obwohl sie traditionell in der EU kaum eine Rolle spielt. Die durchaus vorhandenen Konflikte innerhalb der EU (z.B. Nordirland, Basken, Korsen) waren kaum Gegenstand von diplomatischen Initiativen seitens anderer Mitgliedstaaten oder gar der Gemeinschaft selbst. Es ist auch kaum vorstellbar, dass die betroffenen Mitgliedstaaten eine derartige Einmischung geduldet hätten, wie das Beispiel der gescheiterten Anti-Haider-Politik gegenüber Österreich zeigt. Andere Beispiele für derartige Messungen mit zweierlei Maß lassen sich finden: Gegenüber Rumänien kritisierte die EU über Jahre die Zustände in den Waisenhäusern. Auch die Kritik einiger Mitgliedstaaten an grenznahen Atomkraftwerken (z.B. Temelin in der Tschechischen Republik) ist nicht durch EU-Recht gedeckt, sondern entspringt der – eventuell berechtigten – Sorge um die Sicherheit. Das Referendum in Österreich im Januar 2002 hat dazu interessante demokratie- und integrationspolitische Fragen aufgeworfen, indem es die österreichische Zustimmung zum Beitritt Tschechiens an die Abschaltung des Kraftwerks bindet. Ein weiteres kritisches Problem ist der Beitritt Zyperns, von dem Griechenland droht, seine Zustimmung zu jeder Erweiterung abhängig zu machen. Hier sind u.U. Kandidaten betroffen, die so gut wie keinen Einfluss auf die Erfüllung der Bedingungen, also eine akzeptable Einigung zwischen den beiden Teilentitäten der Insel, haben.

Insofern stellt die Übernahme des acquis nur eines von mehreren möglichen Beitrittshemmnissen dar – und eventuell nicht einmal das wichtigste. Trotzdem bleibt die Übernahme des acquis für beide Seiten ein zentrales Element des Beitrittsprozesses. Im folgenden sei die jeweilige Interessenlage der Altmitglieder und Kandidaten bezüglich des acquis etwas genauer untersucht.


Die Sicht der heutigen EU-Mitglieder2

[Anm._2: Die folgenden Ausführungen sind eine erweiterte Fassung eines früheren Aufsatzes „Dem Doppelt-Blind-Versuch gehen die Augen auf„ im ifo-Schnelldienst 31/2000 53.Jg., S.3-6.]

Der acquis selbst ist das Produkt eines jahrzehntelangen Interessenausgleichs unter den heutigen Mitgliedstaaten, nicht zuletzt auch das Produkt früherer Erweiterungen und des dabei erzielten Ausgleichs der Interessen alter und neuer Mitgliedstaaten. Die wichtigsten Gemeinschaftspolitiken repräsentieren derartige Kompromisse. Die Gemeinsame Agrarpolitik und die Zollunion für Industriegüter stellten einen Ausgleich französischer Agrarinteressen und deutscher Industrieinteressen dar, der den wirtschaftlichen Kern der Gemeinschaftsgründung bildete. Mit den Erweiterungen der Gemeinschaft gewannen Regional- und Strukturpolitik an Bedeutung, um die wachsenden Einkommens- und Strukturunterschiede auszugleichen. Für die heutigen Mitgliedstaaten stellt die Wahrung dieser Teile des acquis eine wichtige Voraussetzung der Erweiterung dar.

Dabei gefährdet die Ausdehnung bestehender Politiken auf die Neumitglieder auch die alten Kompromisse, da sie potentiell Belastungen und Umverteilungen in empfindlichem Ausmaß impliziert. So ist die Ausdehnung der Agrarpolitik auf Länder mit großen Agrarsektoren und niedrigem Einkommen eine kostspielige, wenn auch finanzierbare Angelegenheit. Ebenso wird eine Ausdehnung der Regionalpolitik in ihrer gegenwärtigen Form nicht nur den EU-Haushalt belasten, sondern eine erhebliche Umverteilung der Mittel zwischen den ärmeren Altmitgliedern und den noch ärmeren Beitrittsländern mit sich bringen. [Anm._3: Vgl. Barbara Lippert „Eine neue Agenda 2007 für die erweiterte EU„, Politikinformation Osteuropa 97, FES Bonn 2001.]
Die Altmitglieder, die sich in Berlin bei der Verabschiedung der Agenda 2000 auf dem EU-Gipfel von Berlin 1999 nicht auf eine tiefer greifende Reform der Agrar- und Strukturpolitik einigen konnten, verschoben diesen Reformbedarf in die Beitrittsverhandlungen bzw. vorgelagerte Verhandlungen, deren Ergebnis aber die Kandidaten akzeptieren müssten..

Auch hier ist es nicht unwahrscheinlich, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. In der Struktur- und Regionalpolitik beabsichtigt die EU, für die Neumitglieder eine Obergrenze von 4% des Volkseinkommens des Empfängerlandes festzulegen. Dagegen haben andere ärmere Mitgliedstaaten phasenweise höhere Prozentsätze erhalten, obwohl sie relativ reicher waren als die derzeitigen Kandidaten. Ähnlich versucht man in der Agrarpolitik, die Direktzahlungen für Bauern der Neumitglieder zu vermeiden – mit der naheliegenden Begründung, dass sie ja nicht für Senkungen in der Preisstützung entschädigt werden müssten, von der sie vorher nie profitiert haben. Es bleibt abzuwarten, auf welchen Kompromiss sich EU und Kandidaten hier einigen. Naturgemäß löst aber jede Reform der Struktur- und Agrarpolitik auch einen Konflikt unter den Altmitgliedern aus, die als Nettozahler oder Empfänger unterschiedlich betroffen sind. Die dabei auftretenden Koalitionen und Mehrheiten hängen nicht zuletzt von der Ausgestaltung der Reform ab, etwa der Schwelle bei der Regionalförderung (Prozentsatz des EU-Durchschnittseinkommens, der unterschritten sein muss, um Transferansprüche haben zu können) oder der Form der Förderung (Übergang vom Regional zum Nationalprinzip, wobei die Förderung armer Regionen in reichen Ländern den reichen Ländern allein ohne EU-Transfers überlassen bleibt). Der acquis bzw. seine konkrete Ausgestaltung ist also vom Beitrittsprozess nicht zu trennen.

Differenzierter ist der Rechtsbestand, der den Binnenmarkt und die vier Grundfreiheiten (Freizügigkeit, von Gütern, Dienstleistungen, Personen und Kapital) regelt, zu beurteilen. Hier fallen die Verteilungswirkungen unter den heutigen Mitgliedern und zwischen den Alt- und Neumitgliedern (letztlich auch unter den Neumitgliedern) komplexer aus. Die Marktintegration nützt bzw. schadet unterschiedlichen sozialen Gruppen (Arbeit und Kapital), Wirtschaftssektoren und Regionen in unterschiedlichem Ausmaß. Im wesentlichen werden Deutschland und - in geringerem Umfang - Österreich und Italien vom verstärkten Wirtschaftsaustausch profitieren. Gleichzeitig werden jedoch in diesen Ländern die von der Konkurrenz negativ betroffenen Gruppen auch am stärksten belastet (z.B. gering qualifizierte Arbeitskräfte in Bausektor, in der Gastronomie und in der Landwirtschaft, vor allem in grenznahen Regionen). Investoren, Exporteure und Importeure sind an der verbesserten Rechtssicherheit und dem Risikoabbau, aber auch am Abbau von Wettbewerbsverzerrungen interessiert, den die Übernahme des EU-Rechts in den Beitrittsländern mit sich bringt.

Die folgende Tabelle 1 gibt tabellarisch einige wichtige Vor- und Nachteile der Erweiterung aufgrund der zu erwartenden Wirkungen in den Mitgliedstaaten bzw. auf die EU als supranationale Organisation wieder.

Tabelle 1: Voraussichtliche Vor- und Nachteile der Erweiterung für die EU und ihre Mitgliedstaaten

Wirkungsfelder

Vorteile

Nachteile

Handelsliberalisierung

Entwicklung und Sicherung von Exportmärkten

Importkonkurrenz

Freier Kapitalverkehr

Sicherung von Investitionsstandorten

Arbeitsplatzverlagerung

Wirtschaftliche Integration insgesamt

Höhere Gesamtwettbewerbsfähigkeit

Produktionsverlagerung

Freizügigkeit

Billige Arbeitskräfte

Soziale Folgen der Migration

Transferzahlungen, Strukturfonds, Regionalfonds

Zusätzliche Exporte dank höherer Nachfrage in MOE (z.B. Beratung, Zulieferung)

Budgetkosten (Transferzahlungen);
niedrigere Transfers an bisherige Empfänger

EU als supranationaler Akteur

Mehr internationales Gewicht

Höhere Diversität der Interessen Kompliziertere Entscheidungsverfahren;
Geringere Handlungsfähigkeit



Vor- und Nachteile betreffen naturgemäß meist unterschiedliche soziale Gruppen bzw. Mitgliedstaaten. Die entsprechenden Interessenkonflikte und Verteilungsprobleme sind sowohl national als auch innerhalb der EU zu lösen. Ohne die Analyse der Interessen auf der Seite der Altmitglieder weiter zu vertiefen, wird klar, dass die Rolle des acquis zwiespältig ist. Seine Übernahme durch die Beitrittsländer ist einerseits unverzichtbar für die Altmitglieder und die EU als supranationale Organisation, andererseits belastet er auch in einzelnen Punkten die Mitgliedstaaten, weswegen sie in von ihnen als problematisch wahrgenommenen Bereichen auch ihrerseits Ausnahmeregelungen abstreben, so etwa Deutschland und Österreich bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit.


Die Sicht der Beitrittsländer

Die Transformationsländer haben sich frühzeitig während des Systemwechsels auf den EU-Beitritt fixiert. Vor allem für die antikommunistischen Oppositionseliten schien eine EU-Mitgliedschaft die beste internationale Absicherung ihrer Zieltriade von Demokratie, Marktwirtschaft und Rückkehr nach Europa zu bieten. Aber auch Meinungsumfragen in der Bevölkerung wiesen bis 1996 generell hohe Zustimmungsraten von über 80% aus, wobei die Vorstellungen zur EU meist vage oder falsch waren. Mit dem Fortschritt der Beitrittsvorbereitung sank die öffentliche Zustimmung und das Bewusstsein künftiger Probleme nahm zu. Viele mit dem Beitritt angestrebte Ziele sind erreicht, während die Übernahme des acquis auch mit erheblichen Kosten verbunden ist.

Manche Ziele, die vor zehn Jahren wichtig waren, erscheinen heute weitgehend schon erreicht:

  • Die äußere Sicherheit ist kaum bedroht und zumindest die NATO-Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn können sich von einer EU-Mitgliedschaft keinen besseren Schutz erwarten.

  • Die Demokratie ist in den meisten Ländern – trotz der massiven sozialen Krise – erstaunlich stabil. Sie ist auch eher eine Bedingung des EU-Beitritts (Kopenhagener Kriterien) als seine Folge. In mancher Hinsicht schränkt ein EU-Beitritt auch die Demokratie ein oder setzt sie neuen Risiken aus. Viele Entscheidungen, die jetzt nationaler demokratischer Kontrolle unterliegen, werden nach dem Beitritt in Brüssel gefällt, das ein notorisches „Demokratiedefizit„ aufweist. Der Beitritt mag auch die politischen Kräfte polarisieren und eine Koalition von Beitrittsgegnern unterschiedlicher Couleur (Transformationsverlierer, anti-westliche und autoritäre Kräfte, Nationalisten, Marktskeptiker) provozieren.

  • Auch der Übergang zur Marktwirtschaft ist dank Liberalisierung und Privatisierung weitgehend abgeschlossen. Sie zählt ebenfalls zu den in Kopenhagen genannten Voraussetzungen und wäre kein Ergebnis des Beitritts. In der Ordnungspolitik geht es bei der Übernahme des acquis communautaire jetzt eher um eine bestimmte Ausformung der Marktwirtschaft in Gestalt einer quantitativ und qualitativ überwältigenden Regelungsdichte.

  • Die wirtschaftliche Integration ist schon weit fortgeschritten. Im Außenhandel der Kandidaten liegen die Anteile der EU mit über 60% auf dem Niveau, das Größe und Nähe der beteiligten Volkswirtschaften erwarten lassen. Die „Rückkehr nach Europa„ ist in der Wirtschaft schon erreicht.

Diese gewaltige Transformationsleistung der Länder Mittel- und Osteuropas hat aber ihr wichtigstes Ziel, einen höheren Wohlstand für die Bevölkerung dieser Staaten, bisher weitgehend verfehlt. Denn sowohl bei der Abkehr von der Planwirtschaft als auch beim EU-Beitritt ging es den Menschen vor allem um mehr Wohlstand, um eine Annäherung ihres Lebensstandards an den Westeuropas. Schon die Erfahrungen mit dem Übergang zur Marktwirtschaft und der außenwirtschaftlichen Öffnung waren für die Länder eher traumatisch: Tiefe Einbrüche bei Wachstum und Beschäftigung, mehr Armut und Ungleichheit sowie ein Platz in der internationalen Arbeitsteilung, der nun durch niedrige Löhne und billige lokale Ressourcen definiert ist (nicht wie vor 1989 als Anbieter mittlerer Technologie und hoch qualifizierter Arbeit im Ostblock). Entsprechend schlecht ist die Meinung vieler Menschen in Mittel- und Osteuropa von der Marktwirtschaft generell – was sie oft nicht hindert, trotzdem für einen EU-Beitritt zu sein.

Die Änderung der Regeln und Eigentumsverhältnisse im Zuge der Transformation hat somit nur teilweise die erwünschten Resultate gebracht. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind dabei beträchtlich. Polen und Slowenien sind die beiden einzigen Länder, die 1998 das Volkseinkommen von 1989 überschritten hatten. Ungarn ist – dank früher Reformen und massiver ausländischer Direktinvestitionen - das einzige Land, dessen Exportstruktur einen deutlichen Wandel zu höherwertigen Produkten (vor allem des Maschinenbaus) begonnen hat.

Das spezifische Problem der Beitrittsländer Mittel- und Osteuropas ist ihre relative Unterentwicklung im Vergleich zu Westeuropa. Sie brauchen eine lange Phase überdurchschnittlichen, aufholenden Wachstums. Vor allem im Interesse der politischen Stabilität wäre es außerdem wünschenswert, wenn die Verarmung und wachsende Ungleichheit gebremst und möglichst rückgängig gemacht werden. „Wohlstand für alle„ ist die beste Garantie für Demokratie, Frieden und Stabilität in Mittel- und Osteuropa und sollte daher auch das Ziel der EU sein. Aber sind der Beitritt und die rasche Übernahme des acquis der beste Weg dazu bzw. wie ist der Beitrittsprozess zu gestalten, damit er diesen seinen Hauptzweck erfüllt?

Die erste postkommunistische „Osterweiterung„ um die damalige DDR führte – allerdings unter Sonderbedingungen wie einer überbewerteten Währung - zu einem fast totalen Wirtschaftskollaps und dauerhafter Transferabhängigkeit. Diese spezielle Form der „holländischen Krankheit„ droht auch Mittel- und Osteuropa nach dem Beitritt (siehe die Warnung „Aufwertung„ in der folgenden Tabelle 2). Grundsätzlich scheinen Regionen innerhalb von Ländern größere Probleme mit Aufholprozessen zu haben, wie auch der Fall des süditalienischen mezzogiorno belegt. Und mit der Währungsunion geraten die EU-Mitgliedstaaten immer mehr in die Rolle von Regionen innerhalb des integrierten europäischen Wirtschaftsraums. [Anm._4: Vgl. Michael Dauderstädt und Lothar Witte (Hg.) „Cohesive Growth in the Enlarging Euroland„ FES Bonn 2000 und Michael Dauderstädt „Euro und Erweiterung: Globalisierung perfekt, Demokratie defekt?„ FES Bonn 2002]

Die Einkommensangleichung zwischen Ländern sah in der Vergangenheit etwas besser, aber keineswegs überzeugend aus. Die Wachstumsentwicklung anderer armer Länder, die der EU beigetreten sind, zeigt kein eindeutiges Muster: Portugal, das zum 1986 beitrat, ist eine relative Erfolgsstory, Griechenland (Beitritt 1980) ein abschreckendes Beispiel. Irland (Beitritt 1972) ist erst seit etwa zehn Jahren das Wirtschaftswunderland der EU mit ca. 5% Wachstum, aber erheblichen Verteilungsproblemen. Misst man das irische Wachstum nicht wie üblich am Bruttoinlandsprodukt, sondern am Bruttosozialprodukt [Anm._5: Dabei wird das in Irland produzierte Einkommen von Ausländern, vor allem ausländische Investoren, abgezogen, und das Einkommen von Iren im Ausland hinzugezählt. ], so ist es weiter eines der ärmeren Länder der EU. Niemand weiß, ob das Bild ohne EU-Beitritt besser oder schlechter ausgesehen hätte.

Offensichtlich entscheidet die jeweilige nationale Politik darüber, wie sich das Neumitglied entwickelt. Die Mitgliedschaft in der EU als solche ist keine Erfolgsgarantie für Wachstum. Im internationalen Vergleich zeichnet sich die EU eher durch überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit als durch besonders rasches Wachstum aus. Auch der Abbau der Einkommensdisparitäten zwischen reichen und armen Regionen der EU hält sich in engen Grenzen. In einer Währungsunion ist dieser Ausgleich nur noch über eine „Inflationierung„ der Einkommen (Balassa-Samuelson-Effekt) [Anm._6: Danach haben arme Länder eine höhere Inflationsrate, da im Zuge der Entwicklung die Produktivität bei der Herstellung der handelbaren Güter wächst, dort die Löhne steigen, damit auch in den übrigen Sektoren, wo der Kostendruck mangels Produktivitätsanstieg aber zu Preissteigerungen führt.] in den aufholenden Regionen/Ländern möglich, die die EU wirtschaftspolitisch zu tolerieren hätte, was sie ungern tut. Aus der Sicht mancher Beobachter wäre eine einseitige Übernahme des Euro ohne Mitgliedschaft in der Währungsunion mit ihrer stabilitätspolitischen Zwangsjacke vorzuziehen. [Anm._7: So etwa der Vorschlag von Andrzej Bratkowsli and Jacek Rostowski („Unilateral adoption of the euro by EU applicant countries : the macroeconomic aspects") in: Lucjan T. Orlowski (ed.) „Transition and Growth in Post-Communist Countries. The Ten-year Experience" Cheltenham/Northampton 2001.]
Insgesamt hängt die Entwicklung der Beitrittsländer davon ab, wie sie die Vorteile der EU-Mitgliedschaft nutzen, ohne ihren Risiken und Nebenwirkungen zu erliegen. Besonderes Augenmerk ist dabei den politischen Gefahren von Umverteilungseffekten zu schenken, die ausländischen Kräften zugeschrieben werden.

Tabelle 2:
Voraussichtliche Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft für die Beitrittsländer



Wirkungsfelder

Vorteile

Nachteile

Transfer-zahlungen
der EU

Zusätzliche Haushaltseinnahmen
Höhere Importkapazität

Aufwertung, Belastung der nationalen Haushalte durch Kofinanzierung; hohe
Kosten bei der Übernahme des acquis
(z.B. Umwelt, Schengen)

Freier Kapitalverkehr

Mehr Direktinvestitionen;
Steigerung der Produktivität durch Modernisierung des Anlagestocks, der Infrastruktur, Ausbildung etc. mit Hilfe der EU und der Direktinvestitionen

Aufwertung, Konkurrenz für einheimische Anbieter


Mehr Portfolioinvestitionen
Höhere Importkapazität

Aufwertung, „Ausverkauf„ der heimischen Vermögen, Anstieg der Vermögenspreise;
Umverteilung zugunsten der Vermögensbesitzer

Handels-liberalisierung

Gesicherter Marktzugang zur EU

Konkurrenz für einheimische Anbieter; Übernahme der Binnenmarktregeln belastet MOE-Unternehmen und begünstigt Anbieter aus der alt-EU;
Preisanstieg bei handelbaren Gütern (Lebensmittel!), daher Druck auf Realeinkommen; Gefährdung der auf niedrigen Löhnen beruhenden Wettbewerbsfähigkeit

Freizügigkeit

Arbeitsplätze im EU-Ausland; Deviseneinnahmen durch Gastarbeiterüberweisungen

Verlust qualifizierter Arnbeitskräfte (brain drain)

Schengen, Regionalentwicklung

Aufschwung in den an die EU grenzenden Regionen

Abschottung gegen Osten; Probleme in den Grenzregionen; Verschärfung regionaler Disparitäten

Wirtschaftspolitik

Geringeres Risiko von Verschuldungs-, Zahlungsbilanz- und Finanzkrisen (wie in Ungarn und Tschechien 1995/6); Zwang zu solider Geld- und Fiskalpolitik

Verlust von geld-, fiskal-, handels- und strukturpolitischen Steuerungsmöglichkeiten; Stabilitätsbias der Geldpolitik

Im Falle Estlands Entliberalisierung der Handels- und Agrarpolitik

EU als supranationaler Akteur

Einfluss auf die Gestaltung der EU-Politiken

Souveränitätsverluste; vor allem für kleine Staaten relativ geringer Einfluss trotz institutioneller Reform der EU

Vergleicht man die Vor- und Nachteile des EU-Beitritts analog zu den Mitgliedstaaten (Tabelle 1) so ergibt sich ein ähnlich differenziertes Bild, wie Tabelle 2 zeigt. Demnach lassen sich in den Beitrittsgesellschaften Umverteilungseffekte und daher auch Verteilungskonflikte erwarten. Während Vermögensbesitzer und EU-nahe Grenzregionen auf Gewinne hoffen dürfen, werden Arbeitnehmer und östliche Landesteile eher mit Verlusten rechnen müssen. Bei Meinungsumfragen in Mittel- und Osteuropa sehen 65% der befragten Ostmitteleuropäer die privaten Unternehmen unter den Gewinnern, während nur 33% Vorteile für die ärmeren Bevölkerungsgruppen erwarten. Diese Verteilungswirkungen verstärken Differenzierungsprozesse, die schon seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Gang sind. Einer wachsenden Zahl von Armen steht eine neue Gruppe von Reichen gegenüber, die ihr Vermögen oft im Zuge undurchsichtiger Privatisierungsprozesse erlangt haben. Politische Korrekturen der Einkommensverteilung durch staatliche Umverteilung, Sozialleistungen oder das Steuersystem stoßen an die engen Grenzen schon überlasteter Sicherungssysteme und defizitärer, unter Konsolidierungsdruck stehender Staatshaushalte.

Angesichts der komplexen Anpassungsprobleme, die auf die Kandidatenländer zukommen kann es nicht überraschen, dass sie in den Beitrittsverhandlungen ihrerseits eine Reihe von Übergangsregelungen gefordert haben. Es ist im Gegenteil verblüffend, wie wenig derartige Forderungen erhoben wurden. Dies lässt sich wohl am besten dadurch erklären, dass die Kandidaten der Strategie folgen, erst beizutreten und dann ihre Interessen durchzusetzen. Trotzdem ergibt sich eine längere Liste, wenn man die Forderungen aller Beitrittsländer zusammenfasst. Gliedert man diese Forderungen nach den für die Verhandlungen in 29 Kapitel gegliederten Politikfeldern des acquis, so ergibt sich folgendes Bild [Anm.: 8 Vgl. Alan Mayhew „Enlargement of the European Union: An Analysis of the Negotiations with the Central and Eastern European Candidate Countries" Sussex European Institute Working Paper No. 39, Sussex 2000, Tabelle 2, S.21.]:

  • Keine Forderungen bei Wissenschaft und Forschung, Erziehung und Ausbildung, Klein- und Mittelbetriebe, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Statistik und Finanzkontrolle;

  • Geringe Forderungen bei Kultur und Audiovisueller Kommunikation, Industriepolitik, Fischerei (bestehende Abkommen, Beihilfen, Artenschutz), Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 109k), Justiz und Inneres (Schengen), Strukturpolitik und Personenfreizügigkeit (Kosten der Krankenversorgung, Anerkennung von Abschlüssen);

  • Übergangsperioden bei Telekommunikation (öffentliche Telefonnetze, Kabelfernsehen etc.), Unternehmensrecht (Patente), freier Güterverkehr (Medikamente), Verbraucherschutz (nationale Regelungen bei der Produkthaftung strenger), Außenwirtschaftsbeziehungen (bestehende Freihandelszonen und Zollunionen, bilateraler Marktschutz), Landwirtschaft (eine Fülle von Regeln und Standards), Zollunion (Beibehaltung niedrigerer Zölle gegenüber Nachbarn), Wettbewerbspolitik (Beihilfen), Sozialpolitik (Sicherheit am Arbeitsplatz, Teergehalt in Zigaretten), Energie (u.a. Lagerbestände an Rohöl), Transport (Zugang für EU-Fluglinien, Liberalisierung des Straßengütertransports, LKW-Gewicht, Liberalisierung der Wasserwege, Fahrtenschreiber, Cabotage etc.), Kapitalverkehr (Verkauf von Grund und Boden, Pensionsfonds, etc.), Umwelt (städtische Abwasser, Trinkwasserdirektive, Verpackung, Grundwasserschutz, etc.), freier Dienstleistungsverkehr (Eigenkapitalanforderungen, Investorenschutz, Bankenregulierung, Einlegerschutz), Besteuerung ( Mehrwertsteuersätze, Besteuerung von Stammunternehmen und Töchtern, Abgaben auf Alkohol und Tabak, etc.).

Die meisten Forderungen deuten auf Befürchtungen bezüglich hoher Kosten und/oder Wettbewerbsnachteile hin. In Einzelfällen geht es um kulturelle Sorgen. Nicht zuletzt ist die Übernahme des acquis auch ein rechtliches, gesetzgeberisches und verwaltungsmäßiges Problem. Nicht nur die von den Regeln betroffenen Akteure (Bürger, Unternehmen und Haushalte der Beitrittsländer), die in der EU stärker reguliert sind als in den Zeiten der Planwirtschaft, sondern auch die mit dem Erlass dieser Regeln befassten Verwaltungen haben erhebliche Kosten zu tragen. Es sind Zehntausende von Seiten EU-Recht zu übersetzen, wobei auf Homogenität der Begrifflichkeit zu achten ist, also die Übersetzung jeder Verordnung mehrfach quer zu prüfen ist, ob die Übersetzung eines bestimmten Begriffs, der in mehreren Verordnungen vorkommt, auch jeweils übereinstimmt. Dann müssen diese neuen Regeln mit dem vorhandenen nationalen Bestand verglichen, Änderungsbedarf identifiziert, die Änderungen zwischen den zuständigen Ministerien, bei Gesetzen auch zwischen Exekutive und Parlament, abgestimmt werden. Nicht zuletzt sind dann die Richter und die kontrollierenden Teile der Verwaltung zu schulen, damit sie das neue Recht korrekt anwenden. All diese Vorbereitungen unterliegen obendrein der sorgfältigen Beobachtung durch die EU, die seit dem Madrider Gipfel gerade diesen Umsetzungsproblemen große Aufmerksamkeit schenkt und die entsprechenden Mängel und Fortschritte in ihren jährlichen Berichten vermerkt.


Ausblick

Als wirkliches Beitrittshemmnis würde sich der acquis herausstellen, wenn an der Frage seiner Übernahme der Beitritt scheitern würde. Die oben herausgearbeiteten Interessenkonflikte bieten einigen Anlass für eine solche Befürchtung, da durchaus beachtliche Verlierergruppen einer Erweiterung auf Seiten der Altmitglieder bzw. eines Beitritts auf Seiten der Kandidaten existieren. Ob und wie stark sich diese Gruppen politisch durchsetzen, hängt einmal von nationalen und europäischen Kompensations- und Ausgleichspolitiken ab. Zum anderen haben unterschiedliche Gruppen eine unterschiedliche Durchsetzungsfähigkeit in den nationalen politischen Systemen bzw. auf die EU-Politik insgesamt – sei es direkt durch Einfluss auf EU-Organe (Parlament, Kommission) oder indirekt über die nationale Regierung (und damit auf den Rat). Schließlich ist das Gewicht und die Kompromissbereitschaft (d.h. Zahlungsbereitschaft im Rahmen von Kompensationsstrategien) der Integrationsgewinner dagegen zu setzen.

Auf Seiten der Altmitglieder ist eine Ablehnung des Beitritts eher unwahrscheinlich. Die negativ betroffenen Mitgliedstaaten werden voraussichtlich durch Übergangsregelungen entschädigt, wie sich etwa in der Tatsache andeutet, dass man im Dezember 2000 auf dem Gipfel in Nizza dem spanischen Bestehen auf der Einstimmigkeit in der Regionalpolitik bis 2007 nachgegeben hat. Aber die Ablehnung des Vertrags von Nizza durch Irland lässt ahnen, dass letztlich keine absolute Sicherheit besteht. Allerdings dürfte es in kaum einem Altmitglied eine Volksabstimmung über die Erweiterung geben, wie sie bisher nur einmal in Frankreich 1972 vor der ersten EU-Erweiterung stattfand. Auf die möglichen Vorbehalte Österreichs und Griechenlands wurde oben schon verwiesen.

Anders sieht es in den Kandidatenländern aus. In vielen Ländern sind Volksabstimmungen vorgesehen. Bei Meinungsumfragen schwanken die Zustimmungsraten, die in der Regel seit 1996 deutlich gesunken sind. Es gibt zwar nur wenige politische Parteien, die sich klar gegen einen EU-Beitritt aussprechen, aber sie sind vorhanden und haben gelegentlich (z.B. in Polen 2001) überraschende Erfolge erzielt. Bis jetzt sind die meisten der dabei artikulierten Interessen eher diffus (Angst vor Überfremdung etc.). Sollten sie sich stärker in Form konkreter Kompensations- und Übergangsregelungen äußern, die die nationale und EU-Politik vor konkrete Entscheidungen stellen, so müssen die Erweiterungsbefürworter mehr politische Phantasie entfalten als sie das bisher mit dem einfachen Insistieren auf dem acquis getan haben.

Dann ist wahrscheinlich mehr Differenzierung in der erweiterten Union einerseits und stärkere Ausgleichspolitiken auf EU-Ebene andererseits angesagt. Es ist ohnehin angesichts der oben geschilderten Interessenkonstellationen naheliegend anzunehmen, dass ein solcher Trend sich – wenn er es nicht im Zuge des Beitrittsprozesses tut – sich nach der Erweiterung unter dem Druck der dann erheblich einflussreicheren Neumitglieder durchsetzen wird. Aus deren Sicht mag das Schlucken der bitteren Pille des acquis der Preis sein, um endlich im Club zu sein und damit die Standards mit zu bestimmen. Die eingangs geschilderte doppelte Messlatte der EU für Mitglieder und Kandidaten (z.B. in der Minderheitenpolitik) dürfte als Lektion an den Kandidaten nicht spurlos vorübergegangen sein.

Anmerkungen

1 Vgl. Barbara Lippert (Hrsg.) „Osterweiterung der Europäischen Union – die doppelte Reifeprüfung„ Bonn 2000, darin auch zwei Beiträge des Autors.

2 Die folgenden Ausführungen sind eine erweiterte Fassung eines früheren Aufsatzes „Dem Doppelt-Blind-Versuch gehen die Augen auf„ im ifo-Schnelldienst 31/2000 53.Jg., S.3-6.

3 Vgl. Barbara Lippert „Eine neue Agenda 2007 für die erweiterte EU„, Politikinformation Osteuropa 97, FES Bonn 2001.

4 Vgl. Michael Dauderstädt und Lothar Witte (Hg.) „Cohesive Growth in the Enlarging Euroland„ FES Bonn 2000 und Michael Dauderstädt „Euro und Erweiterung: Globalisierung perfekt, Demokratie defekt?„ FES Bonn 2002

5 Dabei wird das in Irland produzierte Einkommen von Ausländern, vor allem ausländische Investoren, abgezogen, und das Einkommen von Iren im Ausland hinzugezählt.

6 Danach haben arme Länder eine höhere Inflationsrate, da im Zuge der Entwicklung die Produktivität bei der Herstellung der handelbaren Güter wächst, dort die Löhne steigen, damit auch in den übrigen Sektoren, wo der Kostendruck mangels Produktivitätsanstieg aber zu Preissteigerungen führt.

7 So etwa der Vorschlag von Andrzej Bratkowsli and Jacek Rostowski („Unilateral adoption of the euro by EU applicant countries : the macroeconomic aspects") in: Lucjan T. Orlowski (ed.) „Transition and Growth in Post-Communist Countries. The Ten-year Experience" Cheltenham/Northampton 2001.

8 Vgl. Alan Mayhew „Enlargement of the European Union: An Analysis of the Negotiations with the Central and Eastern European Candidate Countries" Sussex European Institute Working Paper No. 39, Sussex 2000, Tabelle 2, S.21.


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