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Der keltische Tiger: reiche Wirtschaft, arme Iren

Die irische success story verdient nähere Beachtung. Ließen sich nämlich seine Erfolgsbedingungen verallgemeinern, so hätten die neuen, noch ärmeren Kandidaten aus Mittel- und Osteuropa ein Modell, an dem sie sich orientieren könnten.

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Irlands abhängiges Wachstum

Irlands Wachstum lag zwar über Jahrzehnte über dem EU-Durchschnitt, doch nicht in auffälligem Umfang. Erst in den 90er Jahren nahm das Wachstum kräftig zu und lag um mehrere Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt. In diesem Zeitraum übertraf die Wachstumsdifferenz mit 4,6% deutlich die in der Literatur [Vgl. Robert J. Barro und Xavier Sala-I-Martin „Convergence across States and Regions" Brookings Papers on Economic Activity 1: 1991, S. 107-182.] häufig als Standardwert für Konvergenzprozesse erfassten 2%.

Tabelle 3:Wachstumsraten Irlands und der EU im Vergleich

Jahr

Irland

EU

Differenz

1971-1980

4,7

3,0

1,7

1981-1990

3,6

2,4

1,2

1991-2000

6,6

2,0

4,6

1991

1,9

1,7

0,2

1992

3,3

1,2

2,1

1993

2,6

-0,4

3

1994

5,8

2,8

3

1995

9,5

2,4

7,1

1996

7,7

1,6

6,1

1997

10,7

2,5

8,2

1998

8,9

2,7

6,2

1999

8,3

2,3

6

2000

7,5

3,4

4,1

2001

6,2

3,1

3,1

Quelle: EU Kommission „Europäische Wirtschaft„ Bd.70, 2000

Was hat diesen plötzlichen Wachstumsschub bewirkt? Nur zwei der üblichen fünf Verdächtigen, von denen die ersten drei angebotsseitig wirken, die beiden letzten nachfrageseitig, erweisen sich im irischen Fall als tatsächlich wirkungsmächtig:

  1. Mehr Einsatz von Kapital: Die irische Sparquote war – im Gegensatz zu asiatischen Ländern - nicht besonders hoch (bis 1995 unter 20%). Der Staatshaushalt wies meist Defizite auf. Aber von außen flossen Kapitalströme (also Ersparnis) nach Irland, vor allem in Form von Direktinvestitionen und EU-Hilfen. Mit etwa 1500 ECU/Kopf Nettoauslandsinvestitionen zwischen 1987 und 1996 liegt Irland hinter Belgien/Luxemburg an zweiter Stelle in der EU, allerdings mit dem höchsten Anteil (4,2%) am Bruttoinlandsprodukt. [Vgl. EU Kommission „Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union„, Brüssel 1999, S. 221] Die Leistungsbilanz war in den 70er und 80er Jahren stark negativ, teilweise bis zu über 10% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das Wachstum der Bruttoanlageinvestitionen spiegelte aber diese externe Ersparnis nur zeitweise wider, meist schwankte es stark. Die Investitionsquote (ebenfalls meist unter 20%) lag in Irland oft unter dem EU-Durchschnitt. [Vgl. Denis O’Hearn „Inside the Celtic Tiger. The Irish Economy and the Asian Model" London/Sterling 1998, S. 84 f.] Ersparnis und Exportüberschüsse stiegen allerdings in den 90er Jahren mit dem Wachstum an.

  2. Mehr Einsatz von Arbeit: Die Bevölkerung wuchs nur langsam und die Zahl der Erwerbstätigen sank in den 80er Jahren sogar, als etwa 200.000 Iren netto auswanderten. [Vgl. . Paul Sweeney „The Celtic Tiger. Ireland’s Continuing Economic Miracle" Dublin 1999, S.37] So stieg die Zahl der Beschäftigten von 1,05 Millionen 1961 bis 1981 nur auf 1,1 Millionen und erst bis 2000 auf 1,5 Millionen. Bis Mitte der 90er Jahre blieb die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Eine Zuwanderung fand außer in den 70er Jahren erst wieder während des Booms der 90er Jahre statt. Also kann erst ab Mitte der 90er Jahre von einem beschäftigungsgetragenen Wachstum gesprochen werden.

  3. Höhere Produktivität des Faktoreinsatzes: Wenn weder besonders hoher Kapital- noch Arbeitseinsatz angebotsseitig verantwortlich sind, bleibt nur die Produktivität. In der Tat ist die Produktivität in Irland stark angestiegen und relativ hoch. Die Stundenproduktivität lag 8% über dem OECD-Durchschnitt und die Produktivität pro Beschäftigten dank längerer Arbeitszeit um 13% über dem OECD-Durchschnitt (Der Wert für die EU liegt bei 103 bzw. nur 98) [Bart van Ark und Robert H. Mc Guckin „International comparisons of labor productivity and per capita income„ Monthly Labor Review July 1999, S. 36] . Auch eine EU-Studie von 1996 sieht im Produktivitätszuwachs den Schlüssel zum irischen Wachstum. [European Commission „The Economic and Financial Situation in Ireland: Ireland in the Transition to EMU" special issue of European Economy 1996 (zitiert bei O’Hearn, S.85).] Das Produktivitätswachstum lag in Irland mit 3-4% deutlich höher als in der EU (unter 2%). [Vgl. Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU (CES) „Opinion of the Economic and Social Committee on The EU Economy 1999: Review" 369/2000, Appendix „Ireland: An Example of Economic Policy Success"]

  4. höhere Binnennachfrage: Die Binnennachfrage kann das Wachstum auch kaum erklären. Der Staatshaushalt wies zwar in den 70er und 80er Jahren Defizite auf, versuchte aber ab Ende der 80er Jahre erfolgreich, seinen Haushalt zu konsolidieren und die Verschuldung abzubauen. Das Wachstum des privaten Konsums blieb im Durchschnitt immer hinter dem BIP-Wachstum zurück.

  5. höhere Auslandsnachfrage: In der Tat ist der Exportsektor der Hauptträger des Wachstums gewesen. Mit durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten von 8,5% in den 80er und 13,5% in den 90er Jahren übertraf er das BIP-Wachstum erheblich.

Fassen wir zusammen: Irland erhielt zwar wichtige Kapitalzuflüsse in Form von EU-Transfers und Direktinvestitionen, doch ausschlaggebend waren die Produktivitätszuwächse, die ihrerseits eine hohe Wettbewerbsfähigkeit der Exporte garantierten. Der Zustrom von weiteren Arbeitskräften (sogar wieder Immigration!) und höhere Ersparnis sind das Ergebnis und nicht die Voraussetzung des Booms. Die entscheidenden Produktivitätszuwächse resultieren sicher von den modernen Anlagen und Produktionsverfahren der ausländischen Tochterunternehmen und den guten sonstigen Voraussetzungen wie Infrastruktur und Bildung, aber gerade im wichtigen Sektor der multinationalen Unternehmen erzählen diese Erklärungsansätze nur die halbe Wahrheit.

Die andere Hälfte enthüllt sich bei genauerer Betrachtung der Produktivitätsentwicklung. Produktivität ist Wertschöpfung geteilt durch Faktoreinsatz. Was in Irland auffällt, ist der hohe Anteil der Wertschöpfung multinationaler Unternehmen an der gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung (=BIP). Er stieg von 15% im Jahr 1990 auf 23,8% 1995. Diese Wertschöpfung ist nicht unabhängig von ihrer Verteilung zu verstehen: Die Profite machen den Löwenanteil (etwa 60%) aus. Die Profitraten ausländischer, vor allem amerikanischer Tochterunternehmen sind ungewöhnlich hoch (Computer: 35%, Pharmazeutika: 50%; Getränke: 70%). Sie liegen höher als die Raten entsprechender amerikanischer Unternehmen anderswo oder irischer Unternehmen. Neben den niedrigen Löhnen, niedrigen Steuern und den staatlichen Investitionsbeihilfen ist transfer pricing eine Hauptursache dieses Phänomens. Dabei werden die hohen Profite nur teilweise in Irland erwirtschaftet, sondern die in Irland tätigen multinationalen Unternehmen lassen auch anderswo entstandene Gewinne in der irischen Steueroase anfallen. Bekannt wurde eine CocaCola-Essenzfabrik in Drogheda, deren „Superarbeiter„ zwei Millionen Pfund Profit pro Kopf erwirtschafteten. [Vgl. Paul Sweeney, a.a.O., S.51]

Etwa seit 1995 beschleunigt sich dieses System tendenziell selbst: Irland erhebt geringe Steuern auf Profite und Unternehmen insgesamt. Ausländische Unternehmen siedeln sich an und konzentrieren buchhalterisch ihre Wertschöpfung in Irland. Davon profitiert nicht zuletzt der irische Fiskus, der trotz niedriger Raten dank der wachsenden Basis steigende Einnahmen erzielt, die es ihm erlauben, die Steuersätze weiter zu senken, was wiederum Investoren anzieht (z.B. Finanzdienstleistungen in die Dubliner dock lands). Die Haushaltsüberschüsse werden aber auch für sonstige notwendige Verbesserungen der Investitionsbedingungen verwandt, z.B. Bildung, Infrastruktur. So entsteht ein irischer Tugendkreis – allerdings auch auf Kosten anderer Länder mit höheren Steuersätzen.

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Schattenseiten einer unnachahmlichen Karriere

Irlands spektakulärer Aufholprozess in den 90er Jahren hat dazu geführt, dass es heute zu den reichsten EU-Ländern zählt. Sein Prokopfeinkommen (2001: 117) hat den EU-Durchschnitt (100) bei weitem überschritten und liegt heute in der Spitzengruppe der EU. Nach EU-Angaben übertreffen nur noch Luxemburg (194), Dänemark (141) und Schweden (127) die grüne Insel, die Jahrzehnte zu den Armenhäusern Europas zählte und nun sogar Großbritannien und Deutschland überholt hat. [Alle Angaben Eurostat/EU-Kommission „Europäische Wirtschaft„ Nr.70, 2000, S. 186f.] Im Gegensatz zu den Mittelmeerländern entspricht (und entsprach auch schon in Zeiten sehr viel stärkerer Armut) die Kaufkraft in Irland ziemlich dem EU-Durchschnitt.

Sein Modell eines abhängigen Wachstums hat jedoch weitere Merkwürdigkeiten produziert. Unterscheidet man vom irischen BIP das Bruttosozialprodukt (BSP), also das BIP abzüglich der in Irland erzielten Faktoreinkommen von Ausländern (vor allem Profite der ausländischen Investoren) und zuzüglich irischer Einkommen im Ausland, so liegt dieses um etwa ein Fünftel (!) unter dem BIP. Gemessen am BSP liegen die Wachstumsraten ebenfalls niedriger, aber immer noch hoch genug, um eine – wenn auch langsamere – Konvergenz mit der EU zu erreichen.

Tabelle 4: Wachstum des BIP und BSP in Irland im Vergleich

Irland

Einheit

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1990

1985

1980

1970

1960

BSP

Mrd. Euro

75,6

68,3

61,4

57,0

48,8

43,6

31,8

22,1

13,3

3,9

1,7

BIP

Mrd. Euro

94,8

84,9

75,9

69,3

57,0

50,3

37,2

27,2

15,1

4,1

1,8

BSP/BIP

%

79,8

80,5

80,9

82,3

85,6

86,6

85,6

81,3

88,2

94,4

95,3

Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen

Damit zählt Irland im BSP-Vergleich schon wieder zu den ärmeren Ländern in Europa, wie man in der folgenden Tabelle 5 sehen kann. Es hat zwar – gemessen im BIP/Kopf - die meisten EU-Mitgliedstaaten überholt, ohne dass die irischen Staatsbürger mit ihrem BSP/Kopf den EU-Durchschnitt eingeholt haben. Denn Irland zahlt einen hohen Teil seines Volkseinkommens an Ausländer. Diesem Einkommenstransfer entspricht realwirtschaftlich ein Exportüberschuss.

Tabelle 5: Vergleich des BSP der EU-Mitgliedstaaten 2000

Mitgliedstaat

BSP/Kopf

Portugal

10896

Griechenland

11997

Spanien

14212

Italien

19550

Irland

19901

EU –15

21278

UK

21600

Frankreich

23145

Niederlande

23273

Finnland

23282

Schweden

23597

Belgien

24032

Deutschland

24617

Österreich

25881

Dänemark

30594

Luxemburg

47410

Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen

All dies spiegelt sich auch in der Einkommensverteilung wider. Der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten zwanzig Jahren von 77% auf 58% gesunken, obwohl in den 90er Jahren die Anzahl der Beschäftigten kräftig wuchs. Die Armutsentwicklung war zumindest bis 1994 eher bedenklich. Zwar sank der Prozentsatz derer, die weniger als 40% des Durchschnittseinkommens verdienen, leicht von 8% (1973) auf 7% (1994), aber der Anteil derer, die weniger als 60% verdienen, stieg von 25% auf 34%. In der Struktur der Armut stellten die Arbeitslosen mit 33% den größten Teil der armen Haushalte. Der gewaltige Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 1993, von damals 15,3% auf heute 4,3%, dürfte allerdings auch diese Armut verringert oder zumindest ihre Zusammensetzung verändert haben. Aber selbst 1997 lebten noch ein Fünftel der Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens und die wichtigsten Armutsbekämpfungsorganisationen sahen noch erheblichen Handlungsbedarf. [Vgl. ders., a.a.O., S.170-180.] Auch im Vergleich zu anderen OECD-Ländern weist Irland eine besonders hohe Einkommensstreuung auf, die von 1987 bis 1994 noch zugenommen hat. [Vgl. Tim Callan und Brian Nolan „Income Inequality in Ireland in the 1980s and 1990s" in Frank Barry (ed.) „Understanding Ireland’s Economic Growth" Basingstoke/London 1999, S.176.] Schließlich haben auch die regionalen Disparitäten innerhalb Irlands zugenommen. [Vgl. Europäische Kommission „Einheit Europas, Solidarität der Völker, Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt – Statistischer Anhang„ Brüssel 2001, Tabelle A2, wonach die Standardabweichung des BIP/Kopf in KKS von 13,9 (1993) auf 17,3 (1998) anstieg.]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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