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Teildokument zu: Die EU und ihre armen Nachbarn

Euro-zentrische Währungskooperation

Angesichts der relativ weit ausgereizten Möglichkeiten der Handelspolitik könnte die EU versuchen, ihren armen Nachbarn eine verstärkte währungspolitische Kooperation anzubieten. Für einen solchen Ansatz spricht auch, daß seit den 80er Jahren die internationalen Kapitalströme die Handelsströme weit übertreffen (z.B. für Deutschland von 1985: 59% auf 1995: 350%). Diese Aufgabe wäre um so sinnvoller bei einer europäischen Institution angesiedelt, je weiter die Währungsunion in der EU fortschreitet. Bei Einhaltung des Zeitplans von Maastricht wäre ab 1999 der Euro die offensichtliche Ankerwährung für die Nachbarländer, da er neben der schon starken Rolle der DM auch noch weitere im Handel und Kapitalverkehr der Nachbarn mit der EU wichtige Währungen ablöst. Der Wechselkurs der Nachbarwährungen gegenüber dem Euro wäre die zentrale Orientierungsmarke für die Währungspolitik dieser Länder.

Ziel einer währungspolitischen Kooperation müßte es sein, die Nachbarn angemessen mit Kapital zu versorgen und die Wechselkursentwicklung vor spekulativen Schocks zu schützen, ohne allerdings notwendige Anpassungen bei Veränderungen der "fundamentals" zu verhindern. Angemessene Kapitalversorgung kann dabei nicht heißen, daß jede Spar- und Devisenlücke ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Verwendung des Kapitals gedeckt wird. Aber ein tragfähiger Wachstumsprozeß sollte möglichst nicht an Kapitalmangel scheitern. Kapitalmangel äußert sich darin, daß die Zinshöhe über den Renditeerwartungen der potentiellen Investoren liegt, weswegen Investitionen unterbleiben.

In armen Nachbarländern äußert sich die mangelnde Investitionsneigung zu hause oft in Kapitalflucht. Im Fall Rußland rechnet man mit 30 Milliarden USD. Auch für Nordafrika schätzen Experten hohe Abflüsse auf Konten in "sicheren" Ländern. Die EU könnte - evtl. in Zusammenarbeit mit Behörden der Nachbarländer - versuchen, Fluchtgelder zu identifizieren und anschließend entweder zu repatriieren oder mit besonderen Auflagen (Steuern, Zinsen) zu belegen. Der wahrscheinliche Effekt wäre allerdings, daß dieses Kapital an andere Finanzplätze flieht. Die bessere Alternative ist die Verbesserung der Investitionsbedingungen im Herkunftsland, um geflohenes Kapital zurückzulocken.

Es hat wenig Sinn, daß ausländische öffentliche Institutionen Kapital zur Verfügung stellen, wenn die Inländer mit ihrer besseren Marktkenntnis es nicht tun. Die wichtigere Aufgabe wäre es, Bedingungen für positive Reaktionen seitens der Investoren und Finanzmärkte zu schaffen, also Vertrauen, vernünftige Bewertung der Risiken, Transparenz, Regulierung der Akteure und Märkte (Börsen, Geschäftsbanken etc.). Dabei ist die EU auf die Kooperation seitens der Nachbarländer angewiesen. Denn das Vertrauen der Märkte hängt wesentlich von der staatlichen Wirtschaftspolitik in den Nachbarländern ab. Aber wie das Gütesigel des IWF, so könnte auch ein - ebenso solide begründetes - Urteil seitens der EU oder der mit der währungspolitischen Kooperation betrauten Einrichtung die Märkte beruhigen.

Eine Währungskooperation könnte folgende Elemente (in der Reihenfolge zunehmender Ansprüche an die Integrationsbereitschaft) umfassen:

  • Frühzeitige und umfassende Veröffentlichung von relevanten Daten und Statistiken in guter und international vergleichbarer Qualität, sowie von Prognosen mittels nachvollziehbarer Methoden (Modellierungen etc.);
  • gegenseitige Information und Konsultation über die Einschätzung und Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung und die daraufhin erwogenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zwischen Regierungen, Zentralbanken und anderen wichtigen Trägern;
  • Abstimmung der wichtigsten Regulierungen der nationalen Finanzmärkte und für internationale Transaktionen, wobei die Steuerungsvorbehalte der Nachbarländer zu respektieren sind;
  • Angleichung der institutionellen Struktur des Finanzsektors (zweistufiges Bankensystem, Unabhängigkeit der Zentralbank, Bankenaufsicht, Einlagensicherung etc.);
  • Abstimmung von konkreten Maßnahmen und Koordinierung von Politiken (z.B. gemeinsame Erklärungen, etwa zur Wechselkurshöhe, Zentralbankinterventionen auf den Devisenmärkten, Zinspolitik, Liquiditätshilfen, Fiskalpolitik, Lohnpolitik, etc.);
  • Bindung ("pegging") der nationalen Währung an den Euro oder zunächst an den ECU;
  • Ankoppelung der Geldpolitik an die EU, im Extremfall durch ein "currency board"-System, wie es z.B. Estland gewählt hat und weitere Staaten erwägen;
  • Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds, der IWF-ähnlich im Nachbarschaftsraum tätig wird.

Je stärker sich Nachbarländer verpflichten, ihre Wirtschaftspolitik den oben genannten Integrationsanforderungen zu unterwerfen, desto weiter können die Interventionsverpflichtungen der Europäischen Zentralbank bzw. anderer Einrichtungen der währungspolitischen Kooperation reichen. Von dem Zusammenwirken rechtzeitiger und umfassender Information, gemeinsamer Bewertung durch die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten, der Ankündigung und Durchsetzung entsprechender Maßnahmen im nationalen und bei Bedarf auch im internationalen Rahmen kann man sich eine Stabilisierung der Erwartungen der Marktteilnehmer erwarten, die tatsächliche Interventionen weitgehend überflüssig macht. In der Tat wäre der Interventionsfall eher als ein Scheitern der Kooperation zu betrachten, da sich die Politik mit Aussicht auf Erfolg wohl nur manchmal gegen die Märkte durchsetzen könnte.

Kapitalhilfe im klassischen Sinne wäre im Kontext einer solchen währungspolitischen Kooperation eher mit Zurückhaltung und Skepsis zu betrachten. Sie erhöht die Verschuldung der Kreditnehmer und kann zur Überbewertung der Währung und damit zu einer Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit sowie zur inflationären Aufblähung der Geldmenge im kapitalimportierenden Land führen. Besonders problematisch ist die am weitesten verbreitete Form der Kapital-"Hilfe", die Exportkredite bzw. deren staatliche Versicherung. Sie erhöhen direkt die Importe des Peripherielandes und tragen unter entsprechenden Umständen dazu bei, das Leistungsbilanzdefizit zu vergrößern. Den armen Nachbarn wäre mehr geholfen, wenn die EU Importe aus ihren Nachbarländern durch Vergabe günstiger Kredite an ihre eigenen Importeure finanzieren würde.

Daß eine solche Politik Erstaunen und Widerspruch hervorruft, deutet darauf hin, daß die Wachstumsstrategien von Zentrum und Peripherie nicht konfliktfrei sind. Wenn beide Regionen auf exportgeführtes Wachstum setzen, müssen sie entweder über offene Drittmärkte verfügen (wie es die USA für Ostasien, d.h. Japan und seine ärmeren Nachbarn, waren) oder das Zentrum muß Abstriche an seinen kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen zugunsten langfristiger und übergreifender Ziele machen (wie es die USA gegenüber Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg taten). Die kluge Hegemonialmacht nimmt im Interesse beschleunigter Entwicklung auch eine zunehmende Penetration durch Importe aus der Peripherie hin, da dies indirekt auch ihre eigenen Export- und Wachstumschancen erhöht und - langfristig wichtiger - die Nachbarn stabilisiert.

Auch bei offenen Märkten und gesicherter Nachfrage brauchen die Nachbarn Hilfe

Ein durch die oben erwogenen Politikoptionen charakterisiertes Umfeld (wie es auch Fontela vorgeschlagen hat) bietet den armen Nachbarn Möglichkeiten und Anreize für nachholende Entwicklung:

  • Die Exporteure können mit relativ sicheren, offenen Märkten rechnen.
  • Die Finanzierung von Investitionen scheitert kaum noch an geldpolitischen Schranken.
  • Eine leichte Unterbewertung sichert die preisliche Wettbewerbsfähigkeit.

Auch die Kombination dieser Vorteile garantiert aber keinen Erfolg, wenn es an einem weltmarkttauglichen Angebot fehlt. Trabis lassen sich - außer an einige Liebhaber - zu keinem realistischen Preis auf dem Weltmarkt verkaufen. Die Kooperationsbereitschaft der Reichen ist kein Ersatz für die fehlende Produktivität der Armen. Verteidiger der gegenwärtigen, oft doch protektionistischen Brüsseler Handelspolitik weisen gern darauf hin, daß selbst in sensiblen Bereichen die präferierten armen Länder ihre Quoten mangels Angebotsfähigkeit nicht ausschöpfen.

Niedrige Kosten aufgrund niedriger Löhne und einer schwachen Währung können zwar Investoren anziehen, aber sie allein bilden keine nachhaltige Grundlage für Wachstum. In Mittel- und Osteuropa mehren sich jetzt schon Anzeichen für einen Rückgang der Investitionen und gelegentliche Rückverlagerung an alte Hochlohnstandorte. Die Investoren sind enttäuscht über das politisch-administrative Umfeld, die Ausbildung und Haltung der Arbeitskräfte, die geringe Vernetzung in der lokalen und regionalen Wirtschaft, deren schwaches Angebot an Vorleistungen und/oder weiter Bedingungen im Gastland, die die Produktivitätsentwicklung verschleppen.

Eine reale Aufwertung der Peripheriewährung durch höhere Inflation als im Zentrum bei relativ konstantem nominalen Wechselkurs begleitet häufig diese Probleme und verschärft sie. Hintergrund einer solchen Entwicklung ist oft ein Lohnanstieg, der nicht durch Abwertung kompensiert werden kann, da die Verbrauchsgüter der Arbeiter (Lohngüter) einen hohen Importanteil aufweisen, der sich bei Abwertung verteuert und somit Lohnerhöhungen erfordert. In Ländern mit starken Nahrungsmittelimporten (Nordafrika) schränkt das die Möglichkeiten einer Unterbewertungsstrategie ein. Notwendig wäre ein Ausbau und Produktivitätssteigerung in der Lohngüterindustrie als ein Element einer langfristigen Standortqualifizierung.

Hier wäre eine strategische Aufgabe für die technische Zusammenarbeit. Sie hat im Umfeld dieser Problematik schon vielfältige Projektlinien entwickelt, z.B. Förderung der Klein- und Mittelindustrie, angepaßte Technologie, berufliche Bildung, Exportförderung, Entwicklungsbanken etc.. Meyer-Stamer schlägt vor, diese eher unverbundenen Ansätze in ein Konzept der Standortförderung einzubinden, die auf neueren Einsichten in die Bestimmungsgründe internationaler Wettbewerbsfähigkeit (Porter, Eßer u.a.) beruht.

In diesem Sinne müßte die technische Zusammenarbeit auf die systemische Wettbewerbsfähigkeit abstellen, die sowohl das weitere politisch-soziale Umfeld der Unternehmen berücksichtigt, als auch auf die Förderung von bestimmten Industriezweigen, Cluster und Wertschöpfungsketten abzielt. Diese Unternehmensnetze greifen häufig über Landesgrenzen hinaus. Export-orientierte Entwicklung in der Peripherie ist auf die Stärkung solcher internationaler Produktionsverbünde angewiesen, da sie die Grundlage für einen immer mehr zunehmenden Anteil des internationalen Handels ausmachen.

Ein weiterer Ansatzpunkt für Hilfe seitens der EU ergibt sich aus den handelspolitischen Überlegungen, insbesondere im Fall einer Erweiterung des Europäischen Wirtschaftsraums oder gar des Binnenmarkts. Dabei benötigen die Nachbarländer Unterstützung bei der Anpassung ihrer Regulierungsinstanzen. Denn eine gegenseitige Anerkennung von Produktstandards ist nur vorstellbar, wenn die Vorschriften und die sie überwachenden Einrichtungen sich dem EU-Niveau weitgehend angenähert haben.

Das Zusammenwirken günstiger außenwirtschaftlicher Bedingungen und effizienter Hilfe eröffnet den armen Nachbarländern günstige Aussichten für ein aufholendes, exportgestütztes Wachstum. Dabei bleibt aber zentral, daß Politik und Gesellschaft dieser Länder das ihre dazu beitragen, um diesen Prozeß nicht zu stören, sondern viel mehr zu fördern. Wie oben schon bemerkt wurde, ist leider in den meisten Ländern nicht anzunehmen, daß die derzeit regierenden Eliten von ihrem bisherigen Verhalten der Rentenaneignung und Patronage abgehen, um statt dessen Wettbewerb, Innovation, Modernisierung, Standortqualität und eine gerechte Verteilung der Wachstumsergebnisse zu unterstützen.

Von außen ist es sehr schwer, eine Verhaltensänderung der Regierung bzw. der sie tragenden Eliten zu bewirken. Die Diplomatie ist strukturell darauf angelegt, sich nicht in die inneren Angelegenheiten einzumischen und nur im Fall direkter Interessenkonflikte um einen Ausgleich zu bemühen, der in der Regel von beiden Seiten ein Einlenken erfordert. Allerdings bieten viele internationale Abkommen inzwischen zusätzliche Möglichkeiten, auch nationale Politiken kritisch anzusprechen, etwa im Rahmen des in den Assoziationsabkommen vorgesehenen Dialogs, im Zuge von Kreditverhandlungen (IWF, Weltbank etc.) oder - etwa bei Menschenrechtsfragen - im Rahmen der OSZE oder des Europarates.

Die internationale Gemeinschaft und insbesondere die EU haben diese Eingriffsmöglichkeiten mit bescheidenem Erfolg genutzt. Viele der bisher durchgeführten Reformen, Liberalisierungsschritte und rhetorischen Selbstverpflichtungen der Regierungen sind darauf zurückzuführen. Der entsprechende Druck kann und sollte beibehalten werden, um die bisherigen Fortschritte zu sichern und weitere zu ermöglichen. Daneben kann gesellschaftspolitische Kooperation über verschiedene Ansätze versuchen, die sozialen Bedingungen einer Modernisierungspolitik zu verbessern:

  • Parteien/Politik: Stärkung der reform-orientierten, demokratischen Kräfte, in der Regel wohl in der Opposition, aber auch innerhalb der Eliten, und Schwächung der fundamentalistischen und nationalistischen Kräfte
  • Gesellschaft: internationale Einbindung von Menschenrechts- und Umweltinitiativen sowie anderen Nichtregierungsorganisationen zur innergesellschaftlichen Kontrolle außenpolitischer Verpflichtungen;
  • Gewerkschaften: Übergang zur produktivitäts-orientierten Lohnpolitik zur Absicherung der leichten Unterbewertung
  • Armenhilfe: Zugang der Marginalisierten zum Arbeitsmarkt durch Qualifizierung und/oder Subventionierung ihrer Lebenshaltung - mit dem Gesamteffekt einer Senkung ihrer Lohnansprüche unter ihre Grenzproduktivität.

Diese Initiativen tragen auch dazu bei, ein weiteres Problem zu entschärfen, das die Beziehungen zwischen den reichen Zentren und ihren armen Nachbarn zunehmend belastet hat: die Migration.

Zwiespältige Migration

Migrationsprozesse können nach zwei Ursachen oder Auswanderungsmotiven unterschieden werden:

  • Politische Migration/Flucht: Viele Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie dort aus politischen oder ethnischen Gründen verfolgt werden. Im Extremfall fliehen sie vor Krieg und drohender Ausrottung.
  • Ökonomische Migration: In diesem Fall versuchen die Auswanderer einer schlechten wirtschaftlichen Lage im Heimatland zu entkommen, da sie sich im Gastland bessere Einkommenschancen erwarten. In den 50er und 60er Jahren haben die reichen Kernländer Europas aktiv Gastarbeiter eingeworben. Seit den 70er Jahren besteht eine weitgehende Zuzugssperre (Ausnahme: Aussiedler), die aber vor allem durch den weiter zugelassenen Nachzug von Familienangehörigen unterlaufen wird.

In beiden Fällen liegt die einzig dauerhafte Lösung zur Beschränkung der Migration in einer Verbesserung der Lebensbedingungen im Entsenderland. Demokratisierung und Frieden verhindern oder entschärfen politischen Migrationsdruck. Wachstum mit entsprechenden Chancen für Einkommen und Beschäftigung lindert den wirtschaftlichen Druck.

Es ist bezeichnend, daß in der erfolgreichsten Peripherieregion, in Südostasien, Migration ins Zentrum eine relativ geringe Rolle spielt. Japan hat kaum Gastarbeiter aufgenommen, was ihm als Insel leicht fiel. Allerdings gab es eine Migration zwischen den armen Ländern, vor allem aus den Philippinen und Indonesien, sowie Auswanderung in die USA (vor allem Koreaner). Mexikaner und Bürger anderer zentralamerikanischer und karibischer Staaten sind dagegen in großem Umfang in die USA ausgewandert oder geflohen. Die Angst vor Immigration spielte eine wesentliche Rolle bei den Verhandlungen zur NAFTA.

Weder NAFTA noch die Assoziationsabkommen der EU schaffen integrierte Arbeitsmärkte mit Freizügigkeit für Arbeitskräfte. Allerdings gibt es z.B. im NAFTA-Abkommen Regelungen für Manager und die Europaabkommen sehen Niederlassungsfreiheit vor. Erst eine EU-Vollmitgliedschaft bietet durch die mit ihr verbundene Freizügigkeit darüber hinaus Migrationsmöglichkeiten, weswegen der EU-Beitritt von Ländern mit hohem Auswanderungspotential besonders zurückhaltend betrachtet wird. Dies ist ein wesentlicher Grund für die Nichtaufnahme der Türkei in die EU.

Für das Wachstum und die Modernisierung der Nachbarländer spielt Migration eine zweischneidige Rolle:

  • Als Vorteil ist der zu erwartende Devisenzufluß durch die Rücküberweisungen der Gastarbeiter zu sehen. Er entspricht einem Exporterlös durch die Ausfuhr von Dienstleistungen. Außerdem tragen die Migranten zur Entwicklung bei, wenn sie mit neu erworbenen Qualifikationen (auch staatsbürgerlichen) zurückkehren und diese nutzbringend einsetzen.
  • Nachteilig wirkt sich dagegen der Verlust qualifizierter Arbeitskräfte aus ("brain drain"). Mit ihnen gehen Bildungsinvestitionen verloren. Politische Migration schwächt die Opposition im Lande.

In den Aufnahmeländern haben die Einwanderer oft ausländerfeindliche Gefühle und Taten ausgelöst. Sie konkurrieren vor allem mit den ärmeren Einheimischen um Wohnungen und die Nutzung öffentlicher Güter, auch wenn der Wettbewerb um Arbeitsplätze angesichts unterschiedlicher Qualifikation und Anspruchsprofile empirischen Erhebungen zufolge geringer als oft unterstellt ist. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß rein quantitativ das zusätzliche Arbeitsangebot die Arbeitslosigkeit erhöht, wenn nicht entsprechend viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Löhne gerade gering qualifizierter einheimischer Arbeitnehmer sinken unter diesen Umständen und es kommt zu einer Umverteilung zugunsten des Kapitals. Die zusätzlichen Profite können, wenn sie denn investiert werden, Wachstum produzieren. Aber es gibt genügend Fälle und Hinweise, daß Umverteilung keine nennenswerten Wachstumsimpulse auslöst, da die Binnennachfrage stagniert. Die zur Sicherung der Altersversorgung oft geforderte Zuwanderung kann den gewünschten Effekt auch nur erzielen, wenn die Immigranten sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze finden, ohne gleichzeitig Inländer zu verdrängen.

Will man die Wirtschaftsmigration einschränken, so bietet eine auf eine Unterbewertung gestützte Strategie exportorientierten Wachstums in den Herkunftsländern dafür gute Aussichten. Im Erfolgsfall exportiert sie die Arbeit der Einheimischen in Form von Gütern und Dienstleistungen statt in der Form von Arbeitskräften. Deutschland hat durch seine erfolgreiche Unterbewertung und Exportstrategie eine Arbeitskräfteknappheit erzeugt, die zur Anwerbung der Gastarbeiter führte. Statt bei Erreichung der Vollbeschäftigung durch Aufwertung mehr Importe und dadurch einen Strukturwandel hin zu ertragreicheren Branchen auszulösen, importierte die Bundesrepublik Gastarbeiter.

Einfluß durch Offenheit statt Abgrenzung

Bei allem guten Willen der EU hängt letztlich der Erfolg der Entwicklungsbemühungen von den eigenen Anstrengungen der Nachbarländer ab. Die mageren Ergebnisse bisher sind weniger das Resultat mangelhafter Kooperation seitens der EU als massiver Interessen an den letztlich entwicklungsfeindlichen Strukturen und Politiken. Gegenkräfte, deren Gewicht durch ausländische Hilfe zu stärken ist, gibt es sicher in den meisten Ländern. Leider gibt es auch in der EU wichtige Interessen, die wenn nicht dem Ziel der wirtschaftlichen Stärkung der Nachbarländer, so doch den Kosten der dazu erwogenen Politiken und ihren möglichen Folgen skeptisch gegenüberstehen.

  • Unternehmen und Arbeitnehmer, die durch das Wachstum der Peripherie und deren Exporte nach Europa unter Anpassungsdruck geraten, erwarten Schutz oder zumindest die Unterlassung von Hilfeleistungen.
  • Gewerkschaften kritisieren es, wenn die armen Nachbarländer ihren Arbeitnehmern wesentliche Rechte vorenthalten, und fordern in derartigen Fällen handelspolitische Maßnahmen (Sozialklauseln), um Druck auf deren Regierungen und/oder Unternehmen auszuüben.
  • Umweltschützer erwägen ein ähnliches Vorgehen, wenn die Peripherie ihre eigene oder gar die globale Umwelt rücksichtslos belastet, um Kosten zu externalisieren.
  • Menschenrechtler und Demokraten haben Bauchschmerzen, wenn autoritäre Regime von diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen profitieren.

So verständlich und/oder berechtigt diese Ansichten und Haltungen sein mögen, so zeichnen sie sich doch oft durch eine gesinnungsethische Kurzsichtigkeit aus. Denn auf Dauer ist das - allerdings nicht allzu ungleich verteilte - Wachstum der armen Länder die beste Garantie zur Lösung aller übrigen Kinderkrankheiten. Je wohlhabender und damit auch gebildeter eine Bevölkerung ist, desto mehr Wert legt sie auf ihre Rechte, ihre Umwelt und auf hochwertige Güter aus den reichen Ländern.

Akzeptiert man diese Prämisse, so muß es zunächst um die Beschleunigung der Wachstumsprozesse bei den armen Nachbarn gehen. Dazu sind oben weitreichende Politikoptionen erörtert worden - von der Freihandelszone über die Währungskooperation bis zur standortpolitisch gewendeten Entwicklungspolitik und zu Reformen drängenden Gesellschaftspolitik. Aber auch ihnen treten Bedenken unterschiedlicher Herkunft entgegen, die nicht zu übersehen sind:

  • Primat der nationalen Politik: Ohne angemessene Entwicklungspolitik der Regierungen der Nachbarländer selbst ("good governance") haben europäische Anstrengungen wenig Sinn, es sei denn, sie tragen dazu bei, die Eliten auf den richtigen Weg zu bringen.
  • Effektivität: Die Politik kann ohne oder gegen die inzwischen weitgehend deregulierten privaten Akteure in der globalisierten Weltwirtschaft nur wenig bewirken. Das eingesetzte kostbare Geld der Steuerzahler droht nutzlos zu versickern, wenn die Vermögensbesitzer nicht investieren und die Firmen nicht die gebotenen Chancen nutzen.
  • Effizienz: Die möglicherweise bescheidenen Erfolge der vorgeschlagenen Politiken stehen eventuell in einem mageren Verhältnis zu ihren Kosten in Form von Staatsausgaben, Anpassungslasten und politischer Energie.

Überwiegen diese nicht unberechtigten Bedenken, so sprechen sie für ein eher distanziertes Verhältnis zu den Nachbarn mit selektiven Interventionen. Die EU würde dann diese Länder im eigenen Saft schmoren lassen und abwarten, daß die Globalisierung dort wachstumsfreundliche Politiken bei Strafe immer tieferer Verarmung erzwingt. Wo erhebliche Nutzen für die EU winken, ergreift man die Chancen (Absatzmärkte, Import wichtiger Rohstoffe und Vorprodukte). Wo erhebliche Risiken drohen, interveniert man mit gezielten Maßnahmen (wie im Fall von unfallträchtigen Kernkraftwerken in der Ukraine, von Massenflucht aus Albanien usw.).

In der Tat verhalten sich EU, Regierungen und Öffentlichkeit meist reaktiv. Erst wenn Krisen in Form von Rezession, Bankrott (vor allem der eigenen Investoren), Wahlsiegen gefährlich eingestufter Kräfte oder Bürgerkrieg drohen bzw. eingetreten sind, versucht die Politik, die Stalltüren hinter den entlaufenen Pferden zu schließen. Die Kosten der Intervention im Nachtrab liegen dabei oft höher als die zu erwartenden Kosten präventiver Nachbarschaftshilfe. Letztlich hängt die Wahl zwischen einem reaktiven Kurs der Abgrenzung und einer präventiven Politik aktiven Engagements nicht nur von Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern auch von der grundlegenden Bewertung des Nachbarschaftsverhältnisses ab.

Politisch läßt sich eine aktive Strategie um so besser durchsetzen, je mehr bei den Wählern, Eliten, Verwaltungen und Regierungen ein Gefühl der Verantwortung für die Nachbarn da ist. Die EU und die einzelnen Mitgliedsstaaten sehen allerdings ihre Nachbarn aber sehr unterschiedlich. Mittel- und Osteuropa haben rasch engere Beziehungen zur EU entwickelt als seit langem assoziierte Mitglieder im Mittelmeerraum. Die großen Reformfortschritte in Mittel- und Osteuropa deuten darauf hin, daß die Aussicht auf einen EU-Beitritt zu den mächtigsten Hebeln gehört, um Reformprozesse in Nachbarländern zu beschleunigen.

Auch wenn es wenig opportun erscheint, sollte die EU daher die langfristige Option eines Beitritts keinem Nachbarland grundsätzlich verweigern. Nicht nur für viele Mittelmeerländer wäre die Aussicht auf einen Beitritt - selbst in ferner Zukunft - der wichtigste Grund für anhaltende Reformanstrengungen. Die Gegner stützen sich auf Argumente, die einer näheren Untersuchung kaum standhalten:

  • Geographisch ist die Grenze Europa im Osten schwierig und auch im Mittelmeer nur scheinbar klar zu definieren. Teile des Südufers waren und sind Territorium der Mitgliedsstaaten, wie auch noch weiter entfernte Gebiete (Azoren, Kanarische Inseln, DOM/TOM). Zählt Zypern nicht eher zu Vorderasien ? Geographische Gegenargumente werden meist vorgeschoben, um eigentlich ethnisch, kulturell oder religiös begründete Abgrenzungen zu legitimieren.
  • Historisch gesehen, saßen Algerier bei Gründung der EWG noch im französischen Parlament, und es war schon im Vertrag von Rom beabsichtigt, Libyen, Marokko und Tunesien als assoziierte Mitglieder aufzunehmen. Der Assoziierungsvertrag mit der Türkei von 1963 eröffnete dem Land die Beitrittsperspektive als Vollmitglied. Bis heute betrachten sich große Teile der Bevölkerung und vor allem der politischen Eliten dieser Länder als Teil der europäischen Kultur und Gesellschaft. Dagegen sind die engen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa vergleichsweise junger Natur.
  • Ethnische Gründe sind ebenfalls für eine Abgrenzung ungeeignet. Sie widersprechen dem Bürgerschaftsprinzip (jus solis) wichtiger Mitgliedsstaaten. Millionen Einwohner der EU stammen aus den potentiell ausgeschlossenen Ländern.
  • Für religiöse Motive gelten ähnliche Einwände. Die Gegnerschaft zum Islam hat ihren Aufschwung beim Ende des Kalten Krieges erfahren. Beim Kampf gegen den Kommunismus und die sowjetische Bedrohung war der politische Islam noch ein umworbener Bündnispartner. Die geographischen und religiösen Grenzen fallen selten zusammen: Europa zeichnet sich - dank Migration und Türkenherrschaft - durch zahlreiche islamische Gemeinschaften (Bosnien, Albanien, große Minderheiten in Frankreich, Deutschland, Bulgarien, Restjugoslawien usw.) aus. In den Südanrainerstaaten leben zahlreiche nicht-islamische Bevölkerungsgruppen.

Ein offenes oder - vielleicht noch gefährlicher - unterschwelliges Bestehen auf diesen Abgrenzungskriterien stärkt in den Nachbarländern die fundamentalistischen und nationalistischen Kräfte, die spiegelbildlich eine Identitätspolitik gegen Demokratie, Marktwirtschaft und Europa betreiben.

Statt dessen sollten politische und wirtschaftliche Kriterien zur Anwendung kommen, wie sie der Kopenhagener EU-Gipfel für Mittel- und Osteuropa formulierte: Demokratie, Menschenrechte, Übereinstimmung mit den Zielen der EU (Wirtschafts-, Währungs- und Politische Union), Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit und Integrationsfähigkeit der EU. Ländern, die diese Bedingungen erfüllen, sollte ein EU-Beitritt nicht prinzipiell verwehrt werden, wenn sie über die Hälfte ihres Außenhandels mit der EU abwickeln, wenn ihr Pro-Kopf-Einkommen, das nicht zu ungleich verteilt sein sollte, ein bestimmtes Niveau (z.B. die Hälfte des ärmsten Mitgliedsstaates) überschreitet und wenn sie mit ihren Nachbarn in Frieden leben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

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