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Friedrich Ferdinand von Beust im Visier seiner politischen Gegner : zur Entstehung eines Negativ-Bildes in der Geschichtsschreibung ; Horst-Springer-Stiftung für Neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung ; Rede anlässlich der Verleihung des Horst-Springer-Preises 2001 ; [überarbeitete Fassung] / Jonas Flöter - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 30 KB, Text . - (Horst-Springer-Preisvorträge)
Titel nur online veröffentlicht. Adresse: http://library.fes.de/fulltext/historiker/01404.htm

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Der Frankfurter Fürstentag bildet gleichermaßen den Höhe- und den Schlusspunkt der Bemühungen der deutschen Regierungen, den seit 1815 bestehenden Deutschen Bund zeitgemäßen Reformen zu unterziehen. Im August 1863 hatte Kaiser Franz Joseph die deutschen Souveräne zum Fürstentag nach Frankfurt eingeladen, um über eine Reform des Deutschen Bundes zu beraten. Da neben den Fürsten einiger Kleinstaaten auch der König von Preußen fehlte, schienen die Erfolgsaussichten von Anfang an gemindert. In der ersten Sitzung des Fürstentages stellte der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin daraufhin den Antrag, den preußischen König durch die Versammlung nochmals einzuladen. König Johann von Sachsen und sein Außenminister Beust wurden beauftragt, König Wilhelm die Einladung der deutschen Souveräne zu überbringen.

In seinen Memoiren schildert der Adjutant des preußischen Königs, Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen, nicht nur das Ringen zwischen König Johann und König Wilhelm, sondern auch das Wortgefecht zwischen dem sächsischen und dem preußischen Minister:

    "Bismarck erzählte mir, er habe dem Könige gesagt, wenn er nach Frankfurt gehe und befehle, dass er, Bismarck, ihn begleite, dann wolle er wohl als sein Schreiber mitgehen, aber nicht als sein Ministerpräsident. Aber den preußischen Grund und Boden betrete er dann nicht wieder, denn er müsse sich dann des Landesverrats schuldig wissen, so sicher sei er, dass der Schritt zu Preußens Verderben führe. Darauf habe der König die abschlägige Antwort unterschrieben. Mit diesem Bescheide ging Bismarck noch abends um elf Uhr in das Hotel des Königs von Sachsen und brachte diesem das Schreiben, dessen Inhalt er dem Herrn v. Beust mitteilte. Letzterer sagte zu Bismarck, er werde sogleich den Extrazug für den anderen Morgen abbestellen, denn der König Johann sei nicht willens, ohne König Wilhelm nach Frankfurt zurückzukehren und werde nun den anderen Tag versuchen, ihn zu bereden. Da erklärte Bismarck mit voller Entschiedenheit dem Herrn v. Beust: ‚Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß, wenn morgen früh sechs Uhr der Extrazug mit dem König Johann nicht abgefahren ist, dann ist um 8 Uhr ein Bataillon Preußen aus Rastatt in Baden, und ehe mein König aus dem Bett aufsteht, ist sein Haus durch Truppen besetzt, die keinen anderen Auftrag haben, als keinen Sachsen mehr hereinzulassen!‘ Beust erwiderte, Preußen habe nicht das Recht, Truppen im Frieden nach Baden marschieren zu lassen, das würde Bundesbruch und Friedensbruch sein. Da fuhr Bismarck auf: ‚Bundesbruch und Friedensbruch sind mir ganz gleichgültig. Wichtiger ist mir das Wohl meines Königs und Herrn. Heute habt Ihr ihn schon krank gemacht. Morgen soll er Ruhe haben. Einen König habt Ihr uns in Wien und Dresden schon ruiniert. dass Ihr uns den zweiten nicht auch zugrunde richtet, dafür stehe ich, solange ich Ministerpräsident bin, und wenn es nötig ist, mit meinem Kopf.‘" [1]

Heute erscheint es amüsant, dass der sächsische Minister der robusten preußischen Militärmacht das schwächliche und nur unzureichend exekutierbare Recht des Deutschen Bundes entgegenhielt. Dass Preußen "durch die Annexionen des Jahres 1866 den neuen deutschen Staat erst ermöglicht" und vor allem "das übrige Deutschland mit seinem Geiste, seiner Ordnung erfüllt und dadurch zum strahlenden Siege geführt" habe [2] , war spätestens seit der Reichsgründung durch Politiker und Historiker gleichermaßen proklamiert worden.

Obwohl Beust schon zu seinen Lebzeiten als ein Prinzip der Negation benutzt wurde, bleibt gegenüber seiner Person eine merkwürdige Ambivalenz auffällig. Während er einerseits als naturgemäß Unterlegener der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, war er zugleich als Gegner ernst genommen und energisch bekämpft worden. Wenn diese Doppeldeutigkeit nun ins Zentrum der Betrachtung gestellt wird, dann ist die Kontrastierung von Beust und Bismarck keineswegs konstruiert. Im Gegenteil: die Auseinandersetzung zwischen beiden bildet geradezu eine Konstante in der mitteleuropäischen Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Dabei sahen sich Beust und Bismarck in einer Mischung aus Hass und Bewunderung eng verbunden. Auch scheint es, dass die intellektuellen Mittel durchaus gleich verteilt waren. Allerdings konnte sich der Preuße bei seinen politischen Attacken auf die Stärke der norddeutschen Großmacht stützen; für den Sachsen blieb es dagegen ein Nachteil, allein auf die Möglichkeiten eines Mittelstaates beschränkt zu sein. Wie sehr Beust selbst diesen Nachteil empfand, wird durch einen seiner engen Mitarbeiter überliefert: "Ich komme mir vor", so Beust, "wie ein großer Mecklenburger Gaul, der vor ein Kinderwägelchen gespannt ist." [3]

Obwohl beide Politiker sich an Wendigkeit und Originalität kaum voneinander unterschieden, trennte sie doch Grundsätzliches. Beusts Angriffe richteten sich in der Regel allein auf den politischen Gegner. Bismarck war dagegen stets bemüht, die mittelstaatlichen Politiker und speziell Beust auch persönlich zu diskreditieren. Inwieweit es dabei von Anfang an Bismarcks Ziel war, das Bild über Beust nachhaltig zu prägen, muss dahingestellt bleiben. dass das gelungen ist, bleibt aber unstrittig.

Die Ausbrüche Bismarcks gegen die mittelstaatliche Politik und speziell gegen Beust kulminierten immer dann, wenn sich die mittelstaatlichen Regierungen zu einer gemeinsamen Politik zusammengefunden hatten, die den preußischen Machtinteressen im Wege stand. Ein Höhepunkt wurde während des Krimkrieges 1853 bis 1856 erreicht, als die sächsisch-mittelstaatliche Politik besonders erfolgreich zu sein schien. Auf der Bamberger Konferenz im Mai 1854 verständigten sich die mittelstaatlichen Regierungen nicht nur auf eine gemeinsame Neutralitätspolitik gegenüber den Kriegsparteien in Vorderasien, sie einigten sich darüber hinaus auch auf ein langfristiges bundesreformpolitisches Programm. Der deutsche Staatenbund sollte danach föderale Institutionen wie ein nationales Parlament und ein Bundesgericht erhalten.

Der preußische Bundestagsgesandte Bismarck versuchte daraufhin, gegen die mittelstaatliche Koalition mobil zu machen. "Es wäre ein großer Gewinn", so schrieb er an Leopold von Gerlach, "wenn man die Coalitionsstaaten vereinzeln und durch verschiedenartige Behandlung in größere Disharmonie als bisher bringen könnte; ein bedeutender Sieg unsrer Politik wäre es aber, wenn Beust und Dalwigk dabei gestürzt würden, zum warnenden Beispiel für die Intriganten gegen Preußen, zumal beide nebenher in Bezug auf Bonapartismus zu den bedenklichsten deutschen Ministern gehören, Beust aus Eitelkeit und Bosheit, Dalwigk aus Characterlosigkeit und niederer Gesinnung im Allgemeinen." [4] Und wenige Monate später unterstrich Bismarck nochmals: "Wenn wir ihn [Beust] stürzen können, so sollten wir es je eher je lieber thun […]." [5]

Bei all dem fällt auf, dass es hier nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der mittelstaatlichen Politik ging, sondern allein um persönliche Diskreditierung. Und gerade hier gelangen wir an einen Punkt, an dem die selbstverständlichen politischen Gegensätze in eine die Geschichtsschreibung prägende Kraft umschlugen. Medienwirksam gab Bismarck vor, wie die Person Beust und dessen Politik zu bewerten seien. So stellte er ebenfalls gegenüber Leopold von Gerlach heraus: "Unter wahrhaft Deutscher Politik versteht eigentlich jede Regirung etwas Anderes; im Ganzen kann man sagen, dass jeder damit dasjenige bezeichnet, was er von den Andern verlangt. Vom Ochsen kann man nichts Andres erwarten als Rindfleisch, und von Beust nichts Andres als eine ehrgeizige, intrigante Sächsische Hauspolitik, namentlich, so lange das Königreich Sachsen den Rahmen abgiebt für das zu verherrlichende Bild Friedrich Ferdinands v. Beust." [6] Noch deutlicher formulierte Bismarck dies nach dem errungenen Sieg über den österreichischen und die mittelstaatlichen Rivalen im Dezember 1866: "Wenn ich mir ein Urteil über die Gefährlichkeit eines Gegners bilden will, so subtrahiere ich zunächst von dessen Fähigkeiten seine Eitelkeit. Wende ich dies Verfahren auf Beust an, so bleibt als Rest wenig oder nichts." [7]

Generationen von Historikern haben dieses Bewertungsmuster bereitwillig aufgenommen und weitergegeben und damit das noch heute herrschende Beust-Bild des eitlen, intriganten und unfähigen Partikularisten geprägt. [8] Die Arbeiten von Heinrich von Sybel, Gerhard Ritter, Hermann Oncken, Walter Peter Fuchs, Helmuth Diwald und neuerdings auch von Heinrich August Winkler geben ein anschauliches Bild davon. [9]

Allerdings soll hier nicht der Überfigur Bismarck das Wort geredet werden. Immerhin haben diese Interventionen die Stellung Beusts in Sachsen bis 1866 nicht erschüttern können. Dass Bismarck 1866 und nochmals 1871 erfolgreich sein konnte, ist nur zum Teil dem Reichsgründer, weit mehr aber den innenpolitischen Konstellationen zuzuschreiben. So hält sich bis heute in der sächsischen Landesgeschichtsschreibung der Mythos, dass Bismarck den Rücktritt Beusts 1866 erzwungen habe und es nur dadurch möglich gewesen sei, einen für Sachsen erträglichen Friedensvertrag mit Preußen zu schließen. [10]

Die einzige Quelle, die dafür existiert, sind die Erinnerungen des sächsischen Ministers Richard Freiherr von Friesen. [11] Dessen Glaubwürdigkeit muss in dieser Frage aber stark angezweifelt werden. In seinen Ministerjahren in der Regierung Beust war Friesen keineswegs der energische Gegner des Kabinettschefs und dessen mittelstaatlicher Bundesreformpolitik. Gerade das will uns Friesen in seinen Memoiren aber suggerieren. Friesen veröffentlichte seine Erinnerungen im Jahre 1880, in einer Zeit, in der sich das kleindeutsche Bismarckreich zu konsolidieren begann. Die Memoiren waren daher an eine nationalisierte Reichsöffentlichkeit gerichtet, die sich von der Öffentlichkeit der 1860er Jahre erheblich unterschied. Im Jahr 1880 musste Friesen nun nachweisen, dass er in der Regierung Beust der einzige Oppositionelle war und dadurch er allein der geeignete sächsische Bevollmächtigte für die Friedensverhandlungen mit Preußen gewesen sei.

Dagegen ist Beusts Rücktritt von 1866 ganz klar aus seiner sechzehnjährigen mittelstaatlichen Bundesreformpolitik zu erklären. Auf den Schlachtfeldern von Jitschin und Königgrätz wurden die Weichen in Richtung eines pseudo-föderalen, preußisch dominierten, norddeutschen Bundesstaates gestellt. Doch gerade gegen den hatte sich Beusts Politik gerichtet. Ihm ging es gleichermaßen um die Erhaltung des Deutschen Bundes als Kernstück der europäischen Friedensordnung und um die Reform dieses Bundes auf der Grundlage einer Vereinbarung aller deutschen Regierungen. Sein Ziel war es dabei, das Mitspracherecht insbesondere der Mittelstaaten bei der föderalen Ausge-staltung des Deutschen Bundes zu stärken und den gewaltsamen Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Staatswesen zu verhindern. Nach Königgrätz konnte davon keine Rede mehr sein. Folgerichtig trat der sächsische Außenminister zurück – und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die staatliche Existenz Sachsens gesichert war und damit ein politisch anderer Weg beschritten werden konnte, für den Beust allerdings die Verantwortung nicht mehr übernehmen wollte.

Beust und die von ihm betriebene Politik wurden geradezu zum Gegenbild des neuen Nationalstaates Bismarckscher Prägung. Dabei wurde die Politik Bismarcks als national und modern eingestuft, während die Beustschen Bemühungen die Etiketten der Fortschrittsfeindlichkeit und des Partikularismus erhielten. Doch all dies hätte nicht zu einer derart extremen Kritik geführt: Entscheidend dafür war, dass Beusts Karriere mit seinem Abtritt in Sachsen noch keineswegs endete. Nur zwei Wochen nach seiner Entlassung aus dem sächsischen Staatsdienst wurde Beust durch Kaiser Franz Joseph zum österreichischen Außenminister berufen. Beust wurde jetzt mit Problemen konfrontiert, die scheinbar nichts mit der Politik zu tun hatten, die er in den zurückliegenden sechzehn Jahren verfolgt hatte.

Beust war berufen worden, um den Konflikt mit Ungarn zu lösen, und dies gelang ihm bereits ein Jahr später, 1867, mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich. In der Ausgleichsfrage standen sich in Österreich die vorwiegend liberalen deutschen Zentralisten und die konservativ klerikalen Föderalisten gegenüber. Da Beust von außen kam, war er nicht von vornherein einer Partei zuzuordnen. Doch hatte er bereits als sächsischer Minister eine Verständigungslösung mit Ungarn befürwortet, die der Ausgleichsidee Kaiser Franz Josephs sehr ähnlich war. Das Projekt lief darauf hinaus, den prohabsburgisch-ungarischen Eliten in der östlichen Reichshälfte und den deutsch-liberalen Eliten in der westlichen Reichshälfte die politische Führung zu übertragen. Mit dieser politischen Strategie war Beust eben doch Partei und stand eindeutig auf der Seite der deutsch-österreichischen Liberalen. Da Beusts Haltung in der ungarischen Frage in diplomatischen Kreisen bekannt war, fühlte sich sein Amtsvorgänger Alexander Graf Mensdorff-Pouilly in zwei umfangreichen Denkschriften dazu berufen, vor dem "Triumph der Partei von ausländischen Zuzüglern, welche wahrhaftig nicht zum Besten Oesterreichs die Staatskanzlei bevölkern" [12] , zu warnen.

Mensdorff sowie Ministerpräsident Richard Graf Belcredi gehörten zu den Exponenten der konservativ klerikalen Föderalisten. Sie bekämpften einen Ausgleich mit Ungarn, durch den den deutschen Liberalen in der westlichen Reichshälfte zur Macht verholfen wurde. Parallel zum Erfolg, mit dem der Außenminister mit Hilfe der Liberalen in Österreich und in Ungarn den Ausgleich durchzusetzen begann, stieg der Hass der Beust-Gegner. Ein Gespräch mit Beust über die ungarische Frage fasste Belcredi in seinen Memoiren so zusammen: "Meine Erwiderung war kurz, so dass die ganze Unterredung mit Beust kaum eine halbe Stunde währte. Die in den letzten Tagen und in dieser Besprechung selbst besonders deutlich hervortretende Falschheit des Baron Beust hatte mich so angewidert, dass ich gar nicht fähig gewesen wäre, mit diesem Manne länger zu verhandeln." [13] Allerdings wird verschwiegen, dass der Ekel des böhmischen Grafen gegen den sächsischen Baron in dem Maße stieg, in dem Belcredi und die Föderalisten-Partei die kaiserliche Gunst zu verlieren begannen.

Auch Beusts Familie blieb von den Diffamierungen der Föderalisten nicht verschont. So berichtet Bernhard Ritter von Meyer, ein konservativer Schweizer Emigrant und Günstling Belcredis, über den Alltag in der Wiener Staatskanzlei:

    "Die Frau Baronin Beust pflegte in der Regel bei schöner Witterung zwischen 10 und 11 Uhr sich in das anstoßende, auf der Bastei gelegene liebliche Vorgärtchen zu begeben, immer begleitet von 4 – 5 ihrer Köter, von denen der eine an Häßlichkeit mit dem anderen wetteiferte. Ihr Herannahen konnte man immer aus dem Spectakel, den diese Köter machten, wahrnehmen; der Weg in das Vorgärtchen führte durch einen Vorsalon, in welchem in der Regel immer mehrere Personen, entweder Beamte oder zum Empfange sich Meldende, anwesend waren; stolz schritt sie mit ihrem Hundegefolge und öfters einem jüngeren Gliede ihrer Familie an den Anwesenden vorbei, und ich habe nie bemerkt, dass sie die höfliche Begrüßung der Anwesenden erwidert hätte. […] Es wurde mir oft recht wehmütig ums Herz, wenn sich unwillkürlich ein Vergleich zwischen jener Zeit, als ein Fürst Metternich und eine Fürstin Melanie in diesen Räumen weilten, und der Gegenwart aufdrängte. […] Welch ein Abstand zwischen diesem österreichischen Staatskanzler und seiner Frau und dem zweiten und seinem Weibe!" [14]

Es hätte in den Wiener Salons wohl eine Sensation ausgelöst, wenn bekannt geworden wäre, dass das Porträt dieses "Weibes" in der Schönheitengalerie König Ludwigs I. in München hängt. [15]

Um die Diskreditierung des sächsischen Barons zu komplettieren, durfte in der Wiener Gesellschaft ein Hauch von Antisemitismus nicht fehlen. In verschiedenen Varianten kursierte der Vorwurf, dass es in den Vorsalons zum Empfangszimmer Beusts von "getauften und ungetauften [Finanzleuten], […] von radicalen Deputirten, [und] jüdischen Zeitungsschreibern" [16] nur so wimmele.

Der Hass der Föderalistenpartei verminderte sich auch dann nicht, als sie in Gestalt des Ministeriums Hohenwart-Schäffle in Österreich an die Macht kam. Das neue Ministerium versuchte nun, den Ausgleich mit Ungarn zu unterhöhlen und gegen den Willen der Ungarn und des Reichskanzlers Beust in Österreich eine neue Verfassung durchzusetzen, mit der den einzelnen Provinzen weitreichende Souveränitätsrechte eingeräumt werden sollten. Diese Reformversuche wurden allerdings von der Sprachenfrage in Böhmen und Mähren überlagert. Beust konnte sich zwar gegen diese Tendenzen durchsetzen und das Ministerium Hohenwart-Schäffle zum Rücktritt zwingen, doch nur wenige Tage nach der Demission wurde Beust selbst als österreichisch-ungarischer Reichskanzler entlassen.

Parallel zu den innenpolitischen Konflikten ging die Ausein-andersetzung mit der Bismarckschen Politik natürlich weiter. Vor allem dem Einfluss Beusts war es geschuldet, dass nach 1866 in den süddeutschen Staaten die nationale Politik fast vollständig zum Erliegen kam. [17] Als der Konflikt zwischen Preußen und Frankreich 1870 zu eskalieren begann, verstand es der österreichisch-ungarische Reichskanzler, eine Liga der Neutralen aufzubauen, die dem vermeintlichen Sieger die europapolitischen Grenzen aufzeigen wollte. Doch mit dem Ausscheren Russlands brach die Liga zusammen und Österreich verlor nun jede Möglichkeit, auf die weitere Entwicklung in Mitteleuropa Einfluss zu nehmen. Jetzt war es Beust, der die neue Annäherung an Preußen und das Deutsche Reich einleitete: ein Politik, die 1879 in den deutsch-österreichisch-ungarischen Zweibund führte.

Der neue politische Kurs kam Beust selbst nicht mehr zugute. Seine verschiedenen Gegner bildeten eine Koalition, die zuvor kaum denkbar gewesen wäre. Sie bestand aus der böhmisch-österreichischen Föderalistenpartei und ungarischen Aristokraten, die jetzt die Möglichkeit erkannten, ihren Einfluss auf die österreichisch-ungarische Reichspolitik auszubauen. Auf deutscher Seite hatten weder Bismarck noch die Nationalliberalen den alten Gegner vergessen. Auch sie sahen nun die Gelegenheit, sich Beusts zu entledigen. Die Zahl der politischen Gegner war nach zwei großen politischen Niederlagen 1866 und 1871 stetig gewachsen. Das erleichterte es dem in politischer Strategie und Taktik hochbegabten preußischen Ministerpräsidenten, den Unterlegenen als Gegenbild der großen Zeitidee zu stigmatisieren. Als sächsischer Minister vertrat Beust die Idee des föderalen Staatenbundes, der auf der Gleichberechtigung aller Bundesglieder basieren solle. Davon abgeleitet hoffte er nach 1866 noch immer auf eine deutsche Staatenföderation, in die Österreich-Ungarn eingebunden war und durch die der übernationale Charakter der Habsburgermonarchie erhalten bleiben konnte. Da Beust wenige Tage, nachdem er den Politikwechsel gegenüber dem neuen Deutschen Reich eingeleitet hatte, als österreichisch-ungarischer Reichskanzler entlassen wurde, war jene politisch-historische Konstellation entstanden, die Beust zur reinen Negativ-Figur simplifizierte.

Dass an der 1871er Reichsgründung nicht nur Beust, sondern auch seine ehemaligen politischen Mitstreiter litten, ist durch Johann Carl Bertram Stüve belegt, der nach den Siegen über Frankreich schrieb: "Es ist eine traurige Situation, in der unsereins steckt. An der Freude, namentlich der Art, wie diese sich äußert, teilnehmen, kann ich nicht. Es fehlt mir aber auch an positiven Gedanken. Das einzige, was überall sich durchdrängt, ist der Rechtsbruch und die konsequente Folge dessen, die bloße Gewalt". [18]

Fußnoten:

1 = Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen, Aus meinem Leben. Aufzeichnungen, Bd. 2, Berlin 1905, S. 354-355.

2 = Heinrich von Treitschke, Parteien und Fraktionen, in: Preußische Jahrbücher 27 (1871), S. 361.

3 = Ludwig Ritter von Prizibram, Erinnerungen eines alten Österreichers, Stuttgart 1910, S. 164.

4 = Bismarck an Leopold von Gerlach, Frankfurt a.M., 16. März 1853, Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 14/2, Nr. 439, S. 295.

5 = Bismarck an Leopold von Gerlach, Frankfurt a.M., 18. Dezember 1853, Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 14/2, Nr. 479, S. 332.

6 = Bismarck an Leopold von Gerlach, Frankfurt a.M., 18. Dezember 1853, ebenda, S. 332.

7 = Gespräch Bismarck mit G. A. von Dietze-Barby, 20. Dezember 1866, Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 172.

8 = Zusammenfassend dazu Helmut Rumpler, Die deutsche Politik der Freiherrn von Beust 1848 bis 1850. Zur Problematik mittelstaatlicher Reformpolitik im Zeitalter der Paulskirche (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 57), Wien-Köln-Graz 1972, S. 15. Helmut Rumpler, Beust im Schatten Bismarcks. Grenzen und Bedingungen einer Persönlichkeitsbeurteilung, in: Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen (Theorie der Geschichte, Bd. 1), München 1977, S. 213-214.

9 = Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach den preußischen Staatsakten, 3 Bde., (1890-94) Meerburg-Leipzig 1930. Gerhard Ritter, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858-1871 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Bd. 43), Heidelberg 1913. Hermann Oncken, Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. und der Ursprung des Krieges 1870/71. Nach den Staatsakten von Österreich, Preußen und den süddeutschen Mittelstaaten, 3 Bde., Berlin-Leipzig 1926. Walter Peter Fuchs, Die deutschen Mittelstaaten und die Bundesreform 1853-1860 (Historische Studien, Bd. 256), Berlin 1934. Helmuth Diwald, Die Anerkennung. Berichte zur Klage der Nation, München-Esslingen 1970. Heinrich August Winkler, Der Lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000.

10 = "Sie [die Ära Beust] reicht vom Juni 1849 bis zu der von Bismarck erzwungenen Entlassung Beusts aus dem sächsischen Staatsdienst im Sommer 1866." Reiner Groß, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001, S. 229. Reiner Groß übernimmt weitgehend die durch die DDR-Historiographie geprägten Bilder zur sächsischen Geschichte des 19. Jahrhunderts.

11 = Richard Freiherr von Friesen, Erinnerungen aus meinem Leben, 2 Bde., Dresden 1880.

12 = Denkschrift Mensdorff, Wien, 26. Oktober 1866, Eduard von Wertheimer, Zwei ungedruckte Schriften des österreichischen Ministers Graf Mensdorf, in: Preußische Jahrbücher 180 (1920), S. 342.

13 = Ludwig Graf Belcredi, Fragmente aus dem Nachlasse des ehemaligen Staatsministers Grafen Richard Belcredi, in: Die Kultur. Vierteljahresschrift für Wissenschaft, Literatur und Kunst 7 (1906), S. 286.

14 = Erlebnisse des Bernhard Ritter von Meyer weiland Staatsschreiber und Tagsatzungs-Gesandter des Cantons Luzern, nachmaliger k.k. österreichischer Hof- und Ministerialrath, Secretär des Ministerialraths etc. etc., hrsg. von dessen Sohn Bernhard Ritter von Meyer, Bd. 2, Wien-Pest 1875, S. 100-101.

15 = Gerhard Hojer. Die Schönheitsgalerie König Ludwig I., München-Zürich 1990, S. 82-83.

16 = Erlebnisse des Bernhard Ritter von Meyer (wie Anm. 14), S. 99.

17 = Josef Becker, "Die rechte Kaiserkrone wird auf dem Schlachtfeld gewonnen". Das streng gehütete Geheimnis des Bismarck-Reichs – Ein kritischer Rückblick zum 18. Januar 1871, in: Die Zeit, 19. Januar 1996, Nr. 4, S. 72.

18 = Stüve an Frommann, [Osnabrück], 2. März 1871, Walter Vogel (Hrsg.), Briefe Johann Carl Bertram Stüves (Veröffentlichung der Niedersächsischen Archivverwaltung, Bde. 10-11), Bd. 2, Göttingen 1959/60, S. 983, Anm. 1.


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