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III. Der Parteipolitiker nach der Revolution: Gegen Spartakus, für die Wiedervereinigung und für die Republik

III.1. Bernsteins politischer Standort
in der Sozialdemokratie nach der Revolution
(November 1918 – Januar 1919)


Parteimitglied der Unabhängigen und Sympathisant der von der Mehrheitssozialdemokratie verfolgten politischen Linie – das war Bernsteins politischer Standort am Ende des Krieges. Was ihn von der MSPD entfremdet und schließlich ungewollt geschieden hatte, ihre Kriegspolitik, war nicht nur tagespolitisch obsolet geworden, sondern der Gegensatz zwischen der Mehrheitsfraktion und Bernstein hatte sich seit dem Sommer 1917 durch die von den Mehrheitlern aktiv auf die Beendigung des Krieges und einen ›Verständigungsfrieden‹ gerichtete Politik weitgehend entschärft. [Siehe Bernsteins Artikel »Auf Wiedersehen! Ein Abschiedswort an die unabhängige Sozialdemokratie« in: DIE FREIHEIT, Nr. 137 v. 22.3.1919 und seine knappe Schilderung der Politik der MSPD vor Kriegsende in: BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 47-49.]
Bis Ende Dezember versuchte Bernstein in den Gremien und Medien der USPD, die Partei und ihre Anhänger für sein gegen ein ›Weitertreiben‹ der Revolution gerichtetes politisches Programm zu gewinnen. Zum letzten Mal als USPD-Politiker trat er während des Berliner Januaraufstands in Erscheinung, als er die Berliner Zentrale der Partei zu einer Vermittlungsaktion zwischen den Aufständischen und der Regierung anregte. [Dazu s.u., S. 83.]

Ganz allein stand Bernstein mit seinen Ansichten in der USPD nicht. Die Politik Eisners in Bayern war von denselben Absichten getragen, in Berlin vertraten etwa Kautsky und Heinrich Ströbel durchaus ähnliche Ansichten über die nächsten

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Aufgaben der Revolution: Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien mit dem Ziel der Wiedervereinigung und deutliche Distanzierung von den bolschewistischen Methoden des bis zum Jahresende 1918 noch zur Partei gehörenden Spartakusbundes, innenpolitisch Herstellung von Rechtssicherheit und den Voraussetzungen für ein Fortlaufen der Produktion sowie baldige Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung, schließlich außenpolitisch die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld und die Wiederaufrichtung der durch den Krieg faktisch inexistent gewordenen sozialistischen Internationale. [Vgl. die Artikel »Das Weitertreiben der Revolution« von Kautsky in: DIE FREIHEIT, Nr. 79 v. 29.12.1918 und »Die unabhängige Sozialdemokratie« von Ströbel ebd., Nr. 43 v. 8.12.1918. Ströbel beharrte allerdings bis zum Frühjahr 1919 wegen ihrer Kriegspolitik auf einer scharfen Antihaltung zur MSPD und betonte, »gefühlsmäßig« ständen ihm »die Spartakusmänner [...] unendlich viel näher als die Scheidemänner«, doch gebe es Spartakus gegenüber »eine unüberbrückbare Kluft: ihr bolschewistisches Programm, ihre Empfehlung und Befolgung der russischen Revolutionsmethoden«. Ebd.]
Doch Kautsky machte seine scharfe Kritik an der USPD – verfasst zu demselben Zeitpunkt, zu dem Bernstein sich aus eben diesen Gründen entschied, der Mehrheitssozialdemokratie wieder beizutreten – »wegen Bedenken Haases« nicht öffentlich. [IISG NL KARL KAUTSKY A 83. Auf diesem maschinenschriftlichen Manuskript, in dem sich Kautsky scharf von der Spartakusgruppe abgrenzt und gemeinsame Wahllisten von MSPD und USPD für die Wahlen zur Nationalversammlung fordert, der handschriftliche Vermerk: »Geschrieben ungefähr 20. Dez. 1918. Nicht veröffentlicht wegen Bedenken Haases«.]
So blieb Bernstein mit seiner am 23. Dezember 1918 getroffenen Entscheidung zur Doppelmitgliedschaft, die er als politisches Signal verstanden wissen wollte, allein – und mit diesem Schritt verlor er faktisch jeden organisatorischen Rückhalt für politische Aktionen. Die Presse der Unabhängigen hatte ihn ohnehin schon nur widerwillig zu Wort kommen lassen. Und die MSPD begegnete ihm weiter skeptisch; nicht ohne Erfolg suchte

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sie ihn für ihre Ziele zu instrumentalisieren, ohne ihn politisch zum Zuge kommen zu lassen. [Siehe u., S. 93.]

Das Dilemma, in das der stets um Vermittlung, Konsensstiftung und Deeskalation bemühte Bernstein mit dem Ausbruch der Revolution geraten war, schildert sehr anschaulich eine im Tagebuch Theodor Wolffs überlieferte Szene. Wolff war Chefredakteur des im Verlagshaus Mosse erscheinenden »Berliner Tageblatt«, der großen linksliberalen Tageszeitung, in der auch Bernstein im Krieg gelegentlich publiziert hatte. [Zuletzt: BERLINER TAGEBLATT, Nr. 561 v. 2.11.1919 [Das Konto K. Ein Beitrag zum Fall des Generals Keim].]
Die zum selben Verlagshaus gehörende – und von Bernsteins Onkel Aron Bernstein gegründete – »Berliner Volkszeitung« war am Abend des 9. November besetzt worden: »Der Unabhängige Adolph Hoffmann war mit sechs Bewaffneten eingedrungen, hatte sich unserer ›Berliner Volkszeitung‹ bemächtigt, sie für beschlagnahmt und als Organ der Unabhängigen u. des Arbeiter- u. Soldatenrates erklärt, und durch einen mitgebrachten Setzer mit ›unabhängigem‹ Stoff anfüllen lassen.« [THEODOR WOLFF: Tagebücher 1914-1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am »Berliner Tageblatt« und Mitbegründers der »Deutschen Demokratischen Partei«, eingel. u. hg. v. Bernd Sösemann, Bd. 2, Boppard 1984, S. 650f. Ebd. das folgende Zitat. – In seiner Darstellung der Revolutionsereignisse behauptet Bernstein, »die sehr verbreiteten Organe des Mosseschen Verlags ›Berliner Tageblatt‹ und ›Berliner Volkszeitung‹« seien »unbehelligt« geblieben. BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 73.]
Am 11. November findet Wolff, als er vormittags in die Redaktion kommt, »eine Abordnung der Unabhängigen vor, geführt von Eduard Bernstein und Stroebel – daneben sechs sehr bestimmt auftretende Herren mit roten Bändern. Sie wollen die ›Volkszeitung‹, die wir ihnen mit Hilfe des nicht mit ihnen sympathisirenden Set-

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zerpersonals – das zu streiken erklärte – gestern wieder abgejagt haben – ›kaufen‹ oder ›pachten‹. Ich bemerke, daß wir uns ja wohl verstünden – sie wollten einfach Gewalt üben und draußen stünden die Gewehre. Bernstein wehrt sich, etwas verlegen, ein jüngerer Herr sagt, es seien eben Ausnahmeverhältnisse und Bernstein wiederholt dieses rettende Wort. Sowohl ich, wie die anwesenden Chefredakteure der Volkszeitung, Nuschke, und Dr. Carbe erklären, daß wir den Antrag dem Verleger übermitteln, ihm aber raten würden, weder zu verkaufen noch zu verpachten. Nach 5 Minuten kommen wir mit einem entsprechenden Bescheid zu ihnen zurück. Wir sind höchstens bereit, ihnen, als Druckauftrag, ein selbständiges, unter ihrer Verantwortung erscheinendes Blatt zu drucken – die jüngeren Unabhängigen aber erklären, das ginge nicht, sie wollten die Abonnenten der Volkszeitung haben. Dann verlassen sie uns mit der Bemerkung, daß sie über die Sache beraten müßten. Ich sage zu Bernstein noch einige Worte über die Eigentümlichkeit solcher Freiheitsideen, was ihm peinlich ist.«

Verwirklichung der Ziele des Sozialismus durch demokratische Teilhabe aller am politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben einer parlamentarischen Republik, das war für Bernstein der »organische«, der konstruktive Weg zum Sozialismus. Die Grundvoraussetzungen dafür, nämlich die Schaffung der demokratischen Republik, hatte die Revolution durch den Sturz der kaiserlichen Regierung und die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen, des »demokratischsten Wahlrechts, das die Welt kennt« [So Bernstein im VORWÄRTS, Nr. 209 v. 24.4.1919 [Formale und reale Demokratie].] , am 9. November 1918 geschaffen. Der revolutionäre Akt des Sturzes der kaiserlichen Regierung ließ sich, nach der Unterscheidung Bernsteins zwischen »mechanischer« und »organischer Idee der Revolutionsgewalt«, statt als destruktives »mehr oder weniger brutales Eingreifen in die Lebensfunktionen des Gesellschaftskörpers« als ein Akt der »Förderung dieser Lebensfunktionen

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durch Beseitigung sie störender oder aufhaltender und Schaffung neuer, ihnen erhöhte Kraft verleihender Einrichtungen« interpretieren. [BERNSTEIN: Die mechanische und die organische Idee der Revolutionsgewalt, in: Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Ignaz Ie žower, ND der A usg. 1920, Berlin 1977, S. 110.]
Dennoch könne sich die Revolutionsregierung, wie Bernstein in einem »Aufgaben der Revolution« betitelten Beitrag für die USPD-Zeitung »Die Freiheit« am 22. November erläuterte, auf ein sie legitimierendes formales Recht nicht berufen, einzig ein moralisches Recht könne sie für sich in Anspruch nehmen. [DIE FREIHEIT, Nr. 13 v. 22.11.1918 [Aufgaben der Revolution; Hervorhebungen im Original]. Ebd. auch die folgenden Zitate. In einer Vorbemerkung distanzierte sich die Redaktion: »Wir geben diesen Artikel als Beitrag zur Diskussion wieder, ohne uns mit ihm durchaus zu identifizieren.«]
Dieses aber er- oder verwirke sie durch die Resultate ihrer Arbeit. Das Volk werde die Regierung nach ihren »Wirkungen« beurteilen, und wenn es mit den Leistungen nicht zufrieden sei, werde es auch diese Regierung früher oder später stürzen. Das entscheidende Bewertungskriterium ergebe sich aus der Tatsache, dass das Volk »vor allem leben« wolle; ob also »unter der neuen Regierung die Volkswirtschaft eine gute Entwicklung nimmt«, sei der ausschlaggebende Maßstab für die Qualität der Regierung. Es gebe nun, nach der erfolgten Änderung der Staatsform, die Alternative zwischen einer destruktiven »Gewaltpolitik der Volkswirtschaft gegenüber« nach russischem Vorbild oder einer konstruktiven Politik, die »systematisch und konsequent, schrittweise und organisch das Sozialisierungswerk betreiben« werde. Das bolschewistische Experiment in Russland habe den Kapitalismus dort nicht unschädlich gemacht, sondern nur außerstande gesetzt, seine volkswirtschaftlichen Funktionen zu erfüllen, Funktionen, die dem Kapitalismus von Marx und Engels ausdrücklich zuerkannt worden seien. Mit statistischem Zahlenmaterial belegt er nun den enormen Rückgang der russi-

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schen Staatseinnahmen, um mit Bebel eine Grundwahrheit der bürgerlichen Wirtschaft zu verkünden: »Wo kein Profit ist, raucht kein Schornstein.« Neben dem Profit müsse aber in der komplexen, stark durch Vorausplanung und Zulieferverpflichtungen geprägten modernen Wirtschaft unbedingte »Sicherheit im Rechtszustand« bestehen. Deshalb sei die erste Aufgabe der Revolution die Herstellung der Rechtssicherheit.

Weniger auf staatsrechtliche und ökonomische Voraussetzungen abhebend, äußerte sich Bernstein auf einer vermutlich von ihm selbst mit initiierten, von beiden sozialdemokratischen Parteien ausgerichteten Soldatenversammlung am 22. Dezember in den Berliner Concordia-Sälen. [Das Folgende ist zitiert nach dem ausführlichen Bericht des VORWÄRTS, Nr. 352 v. 23.12.1918 [Eduard Bernstein für Einigkeit]. Bernstein brachte diese Rede wenig später als Flugschrift heraus: BERNSTEIN: Sozialdemokraten Deutschlands! Vereinigt Euch!, Berlin 1918. Sie lag mir jedoch nicht vor. »Die Freiheit« berichtete nicht über diese Veranstaltung. – Dass es sich um eine Soldatenversammlung handelte, ist insofern von Bedeutung, als die Soldaten der Spaltung in höherem Maße als die Arbeiter mit Unverständnis ge-genüberstanden, denn die in der Heimat stattfindenden innerparteilichen Kämpfe, die vor allem den persönlichen Umgang zwischen Mehrheitlern und Unabhängigen vergiftet und oft zu erbittertem Hass gegeneinander geführt hatten, hatten die Soldaten an der Front nicht miterlebt. Vgl. den Redebeitrag eines Soldatenvertreters auf dem Ersten Reichsrätekongress in Berlin, abgedruckt in: BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 142.]
Mit der gemeinsamen Regierung aus Mehrheitlern und Unabhängigen sei der erste Schritt zur Wiedervereinigung bereits getan, stellte er fest, nun müsse der Parteihader begraben werden. Was die beiden Parteien trenne, die Frage der Kreditbewilligung, liege in der Vergangenheit: »Ihr könnt die Politik der Mehrheitler verurteilen, aber Ihr könnt ihnen die sozialdemokratische Gesinnung nicht absprechen.«

Auch nach seiner Überzeugung sei die Politik der Mehrheitler im Krieg falsch gewesen, doch: »In einem Punkt hatten sie vielleicht mehr recht als wir: Wenn wir jetzt sehen, wie sich der

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Imperialismus in Frankreich und England zeigt, wer will dann sagen, daß die Mehrheitssozialisten im Unrecht waren?« [Diese Textpassage zitiert, nicht ganz wörtlich: HERMANN MÜLLER: Die Novemberrevolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 238.]

Im übrigen sei er selbst, der den Kampf zwischen Lassalleanern und Eisenachern noch miterlebt habe, 1917 ebenso wie Kautsky und Hugo Haase entschieden gegen die Gründung einer selbstständigen Partei gewesen. Dezidiert nahm er nun gegen den russischen Bolschewismus und die »Elendspolitik« der Spartakusgruppe Stellung. Die Ablehnung der Demokratie führe nach der Logik der Tatsachen zu Terror und Gewalt, wie man sie in Russland überall beobachten könne: »Wer keine Gewalt will, wer an der Demokratie festhalten und sie organisch fortentwickeln will, der muß sich dafür entscheiden, daß wir Sozialdemokraten Schulter an Schulter arbeiten müssen.« [VORWÄRTS, Nr. 352 v. 23.12.1918 [Eduard Bernstein für Einigkeit]. Ebd. die folgenden Zitate.]

An »Personenfragen« dürfe diese Zusammenarbeit nicht scheitern, jede Partei solle die Vertrauenspersonen der anderen akzeptieren. Denn jenseits der sachlichen Differenzen gebe es Einigkeit hinsichtlich der dringlichsten Aufgaben: des Auf- und Ausbaus der Demokratie und der schrittweisen Sozialisierung der Wirtschaft. Zunächst müsse allerdings die Wirtschaft überhaupt am Leben erhalten werden. Der »Verschmelzung der beiden Parteien« ständen zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu große politische Differenzen entgegen, »aber wir müssen bei den Wahlen zusammengehen. Die Gegensätze zwischen den Parteien müssen auf sachliche Fragen beschränkt und diese müssen in brüderlicher Weise erörtert werden.«

Mit dem Vorschlag gemeinsamer Wahllisten war Bernstein bereits am 15. Dezember politisch gescheitert: Die Berliner Generalversammlung der USPD hatte über eine Resolution Bernsteins, die die Gründe der Parteispaltung mit der Beendigung des Krieges für hinfällig erklärte und wenn nicht gemeinsame Wahl-

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listen, dann zumindest Listenverbindungen für die Wahlen zur Nationalversammlung forderte, nicht einmal abgestimmt, nachdem auf dieser Versammlung bereits jedes »Zusammengehen« mit den Mehrheitssozialisten abgelehnt worden war. Ein gleicher Vorschlag sei »der Leitung der Spartakuspartei« zu machen, hatte Bernstein in seiner Resolution hinzugefügt, »sofern diese sich rückhaltlos auf den Boden der demokratischen Grundsätze stellt, wie sie im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie niedergelegt sind und sich verpflichtet, von jedem Versuch der Gewaltanwendung gegen die gegenwärtige Regierung der Republik und die von dieser mit der Aufrechterhaltung der Ordnung betrauten Personen Abstand zu nehmen.« [DIE FREIHEIT, Nr. 59 v. 17.12.1918 [Die Auseinandersetzung Luxemburg - Haase]. Auch Kautsky sprach sich in seinem nicht veröffentlichten Text aus dem Dezember 1918 (s.o., Anm. 113) für gemeinsame Wahllisten aus.]

Die unvereinbaren Gegensätze zwischen der selbstständig unter dem »schützenden Dach« [Hugo Haase, an die Spartakusgruppe gewandt, auf dem Gründungsparteitag der USPD am 6.4.1917: »Wenn, ich möchte das nur als Hypothese sagen, die links von uns stehenden Gruppen hergekommen wären, um an unserer Organisation so weit teilzunehmen, als ihr diese während des Belagerungszustandes ein schützendes Dach bieten soll, so müßte ich einem solchen Unterfangen auf das entschiedenste entgegentreten.« Protokoll über die Verhandlungen des Gründungs-Parteitages der U.S.P.D. vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha. Mit Anhang: Bericht über die gemeinsame Konferenz der Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusgruppe vom 7. Januar 1917 in Berlin, hg. von Emil Eichhorn, Berlin 1921, in: Protokolle USPD (wie Anm. 62), Bd. 1: 1917-1919, S. 10.] der USPD organisierten Spartakusgruppe und dem hinter dem Parteiführer Haase stehenden gemäßigten Flügel der Partei waren auf dieser Versammlung noch einmal sehr deutlich geworden, als Rosa Luxemburg, die Vordenkerin der Spartakusgruppe, das Wort ergriff: »Unsere erste Pflicht ist es, jede Brücke zu der gegenwärtigen Regierung abzubrechen. [...] Ströbel hat ausgeführt, daß die Vertreter der

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U.S.P. zur revolutionären Mitarbeit sich an der Regierung beteiligen müssen. Nein, Genossen, nicht darauf kommt es für uns Sozialisten an, zu regieren, sondern den Kapitalismus zu stürzen. Noch ist er nicht erschüttert, noch besteht er, – und da gilt es nicht, zu zeigen, daß wir eine regierungsfähige Partei sein können, und daß wir jetzt in dieser Regierung als Sozialisten nicht regieren können, das ist bereits bewiesen.« [DIE FREIHEIT, Nr. 59 v. 17.12.1918 [Die Auseinandersetzung Luxemburg – Haase]. Ebd. auch die folgenden Zitate.]

Alle, die »den Popanz der Nationalversammlung« aufgerichtet hätten, hätten »verwirrend auf die Massen gewirkt und die revolutionäre Entwicklung um Monate und Jahre zurückgeschraubt«. Rudolf Hilferding habe »das demokratische Prinzip betont. Aber diese formale Gleichheit der Demokratie ist Lug und Trug, solange noch die ökonomische Macht des Kapitals besteht. Man kann nicht mit der Bourgeoisie und den Junkern darüber debattieren, ob man den Sozialismus einführen solle. Sozialismus heißt nicht, sich in ein Parlament zusammensetzen und Gesetze beschließen, Sozialismus bedeutet für uns Niederwerfung der herrschenden Klassen mit der ganzen Brutalität (Großes Gelächter), die das Proletariat in seinem Kampfe zu entwickeln vermag.«

Die Nationalversammlung solle dazu dienen, »den Abgrund zwischen Kapital und Arbeit zu überbrücken«, die Partei müsse sich nun entscheiden zwischen Scheidemann und Spartakus: »Es gibt jetzt kein Ausweichen mehr, nur ein Entweder – Oder.« [Haase hatte Luxemburg erwidert, sie sehe das Proletariat nicht, »wie es in Wirklichkeit ist«, er warte schon seit dem Ausbruch des Krieges vergeblich darauf, dass die Massen sich von Scheidemann lossagten. Er warb für ein Verbleiben der Unabhängigen in der Regierung, wenngleich er »durchaus nicht mit allem einverstanden« sei, »was von der Regierung getan wird«, und betonte, die USPD halte das Prinzip der Demokratie »nach wie vor in Ehren«. Seine Erklärung zur Nationalversammlung war allerdings kein klares Bekenntnis zum Parlamentarismus: »Die Spartakusleute laufen gegen die Nationalversammlung Sturm, ohne zu beachten, daß es sich dabei nur um eine vorübergehende Erscheinung handelt und nicht um ein langfristiges Parlament, dessen Aufgabe es wäre, Gesetze zu fabrizieren.« Ebd.]

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In der USPD waren seit ihrer Gründung im März 1917 mit Leuten wie Clara Zetkin auf der einen und Kautsky und Bernstein auf der anderen Seite begeisterte Anhänger und scharfe Kritiker Lenins in einer Partei vereint. Trotz der kritischen Haltung Rosa Luxemburgs Lenin gegenüber war die Spartakusgruppe, insbesondere seit der russischen Oktoberrevolution vom November 1917, mehrheitlich eine Befürworterin der bolschewistischen Taktik. Während die an theoretischen Fragen wenig interessierte MSPD sich mit dem Phänomen Bolschewismus zunächst kaum beschäftigte und Teile der Partei bis zum Frühjahr 1918 die Bolschewiki als »die eigentliche Friedenspartei in Rußland« [PETER LÖSCHE: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, Berlin 1967, S. 87. Zur Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit dem Bolschewismus auch: JÜRGEN ZARUSKY: Die deutsche Sozialdemokratie und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeptionen, München 1992; ULI SCHÖLER: »Despotischer Sozialismus« oder »Staatssklaverei«. Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs 1917–1919, 2 Bde., Münster 1990; WINKLER: Demokratie oder Bürgerkrieg. Die russische Oktoberrevolution als Problem der deutschen Sozialdemokraten und der französischen So zialisten, in: VfZ 47 (1999), S. 1-23.] bejubelt hatten, hatten sich die Unabhängigen mit der Politik Lenins und Trotzkis intensiv auseinander gesetzt. Die USPD, in der mit Kautsky, Bernstein, Luxemburg, Hilferding und Rudolf Breitscheid die bedeutenden theoretischen Köpfe der deutschen Sozialdemokratie versammelt waren, war ohnehin die stärker theorieorientierte der beiden Parteien. Besonders in der von Breitscheid herausgegebenen »Sozialistischen Auslandspolitik« wurde intensiv für und wider die Politik der Bolschewiki gestritten. In dem Aufsatz »Demokratie und Sozialismus«, den Kautsky hier Anfang Januar 1918 veröffentlicht hatte, finden

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sich in Grundzügen die Argumente, die er später in zahlreichen Schriften gegen den Bolschewismus ins Feld führte. Im Zentrum stand die Frage nach dem richtigen Verständnis des Marx’schen Begriffs »Diktatur des Proletariats«, welche nach Kautsky »ersprießlich« niemals als Minderheitsherrschaft, sondern nur als eine Herrschaft der Volksmehrheit über eine Minorität ausgeübt werden könne. [KAUTSKY: Demokratie und Sozialismus, in: SAP, Jg. 4, Nr. 1 (3.1.1918). Ebd. auch das folgende Zitat. Die großen Texte der Auseinandersetzung zwischen Kautsky und Lenin bzw. Trotzki in der Edition: Demokratie und Diktatur?, hg. v. Hans-Jürgen Mende. Bd. 1: KARL KAUTSKY: Die Diktatur des Proletariats (Wien 1918), W.I. LENIN: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (Moskau 1918), KAUTSKY: Terrorismus und Kommunismus (Berlin 1918); Bd. 2: LEO TROTZKI: Terrorismus und Kommunismus (Hamburg 1920), KAUTSKY: Von der Demokratie zur Staatssklaverei (Berlin 1921), Berlin 1990. Dazu: PETER LÜBBE (Hg.): Kautsky gegen Lenin, Berlin 1981.]
»Der Marxismus bedeutet die Vereinigung der Arbeiterbewegung mit dem Sozialismus, der Reform mit der Revolution. So zeigt er auch den Weg zur Versöhnung der Diktatur des Proletariats mit der Demokratie.«

Der Versuch, in einem kaum industrialisierten Agrarland die Macht zu ergreifen, um den Sozialismus einzuführen, verstoße gegen die objektiven Gesetze der Geschichte. Solch ein Land sei ökonomisch noch nicht reif für den Sozialismus, weshalb die Herrschaft in diesem Fall nur mit dem Mittel der Diktatur einer Minderheit, also unter Missachtung des demokratischen Prinzips, errichtet werden könne. Dies werde den natürlichen Prozess der Entwicklung des Proletariats zu voller Reife verhindern und schließlich die Gegenrevolution heraufbeschwören.

In ihrer Be- und Verurteilung der bolschewistischen Theorie und ihrer terroristischen Methoden stimmten Kautsky und Bernstein überein. Doch während Kautsky mit dieser Kritik auch seine durch die Ereignisse des Weltkriegs ohnehin ins Wanken geratene Deutungshoheit über die marxistische Theorie vertei-

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digte [Kautsky habe, so Lösche, »in dem Augenblick, in dem seine politische Theorie als Integrationsideologie Schiffbruch erlitt«, den Antibolschewismus als die neue Ideologie mit geschaffen, »die an die Stelle der aufgelösten trat«. Der Aufsatz »Demokratie und Sozialismus« sei »die Nahtstelle, an der Kautsky den funktionslos gewordenen Kautskyanismus und den zur Integrationsideologie erstarrten Antibolschewismus mit seiner bisherigen Methode übereinanderheftete«. LÖSCHE (wie Anm. 127), S. 124f.] , musste Bernstein das Aufkommen des Bolschewismus als Beweis für die Richtigkeit und Notwendigkeit seines Revisionsversuchs empfinden. Der Bolschewismus war ihm das neue Gewand eben der Erscheinung, die ihn Mitte der 90er Jahre zu seiner Marxrevision herausgefordert hatte: des Blanquismus, der die französische Februarrevolution von 1848 ruiniert und schließlich zur Inthronisation Napoleons III. geführt habe. [Anlass für die Beschäftigung mit der französischen Revolution von 1848 war die Übersetzung und Kommentierung von: LOUIS HÈRITIER: Geschichte der Französischen Revolution von 1848 und der Zweiten Republik in volksthümlicher Darstellung, hg. u. erw. v. W. Eichhoff u. Ed. Bernstein, mit einem Nachtrag »Vom zweiten Kaiserreich bis zur dritten Republik« von Ed. Bernstein, Stuttgart 1897/98; sein Nachwort hat Bernstein 1921, erweitert um »Eine Nutzanwendung für die Gegenwart« unter dem Titel »Wie eine Revolution zugrunde ging. Eine Schilderung und eine Nutzanwendung« neu herausgegeben. Zu Bernsteins Rezeption der französischen Revolutionen: BEATRIX W. BOUVIER: Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung. Die Rezeption des revolutionären Frankreich in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung von den 1830er Jahren bis 1905, Bonn 1982, bes. S. 334-343; DIES.: Zur Tradition von 1848 im Sozialismus, in: Europa 1848: Revolution und Reform, hg. v. Dieter Dowe u.a., Bonn 1998, S. 1169-1200.]

Die Auseinandersetzung mit der blanquistischen Theorie und Praxis der politischen Verschwörung und des bewaffneten Aufstands hatte ihn, wie er in seinen »Voraussetzungen« schrieb, zu einer Unterscheidung zwischen zwei großen Strömungen in der modernen sozialistischen Bewegung geführt: einer »an die von

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sozialistischen Denkern ausgearbeiteten Reformvorschläge« anknüpfenden, »auf das Aufbauen« gerichteten und einer »ihre Inspiration aus den revolutionären Volkserhebungen« schöpfenden, »auf das Niederreißen« abzielenden Strömung. [BERNSTEIN: Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 45f. Ebd. auch die folgenden Zitate.]
Je nach den Zeitverhältnissen erscheine »die eine als utopistisch, sektiererisch, friedlich-evolutionistisch, die andere als konspiratorisch, demagogisch, terroristisch. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, um so entschiedener lautet die Parole hier: Emanzipation durch wirtschaftliche Organisation, und dort: Emanzipation durch politische Expropriation.«

Die Marx’sche Theorie habe den »Kern« beider Strömungen zusammenzufassen versucht: »Aber die Zusammenfassung war noch keine Aufhebung des Gegensatzes, sondern mehr ein Kompromiß [...]. Und welche Fortentwicklung die Marxsche Theorie später auch erfahren hat, im letzten Grunde behielt sie stets den Charakter dieses Kompromisses, beziehungsweise Dualismus. Der Marxismus hat den Blanquismus erst nach einer Seite hin – hinsichtlich der Methode – überwunden. Was aber die andere, die Überschätzung der schöpferischen Kraft der revolutionären Gewalt, für die sozialistische Umgestaltung der modernen Gesellschaft anbetrifft, ist er nie völlig von der blanquistischen Auffassung losgekommen.«

Lenin und seine »deutschen wahren Nachäffer« [BERNSTEIN: 1789/94 – 1848 – 1918/19 [verfasst Anfang Februar 1919], in: Deutscher Revolutionsalmanach für das Jahr 1919 über die Ereignisse des Jahres 1918, hg. v. Ernst Drahn u. Dr. Ernst Friedegg, Hamburg/Berlin 1919, S. 34.] beriefen sich also nicht ganz zu Unrecht auf Marx, doch entstammten sämtliche Äußerungen von Marx und Engels, die im blanquistischen Sinne gedeutet werden könnten, ihrer »Frühperiode« zwischen 1848 und 1852. In den Schriften aus dieser Zeit sei »das organische Entwicklungsmoment« noch wenig ausgearbeitet, der Trugschluss, »als sei die Gesellschaft im Grunde doch ein Me-

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chanismus, dem man [...] im Besitz genügender äußeren Machtmittel auf jeder Entwicklungsstufe eine gewollte Form geben kann«, also noch daraus abzuleiten. [BERNSTEIN: Wie eine Revolution zugrunde ging (wie Anm. 130), S. 62. Ebd. die folgenden Zitate.]
Der Wille und die Gewalt würden von den Bolschewiki »zu allmächtigen Faktoren der gesellschaftlichen Umwandlung« erhoben. »Der organische Bestandteil in der marxistischen Lehre wird ignoriert, die mechanische Denkweise behält die Oberhand und bestimmt die politische Agitation und Praktik.« Direkter als diese etwas gewundene marxistisch-theoretische Kritik – und dem ›Revisionisten‹ Bernstein wohl aus der Seele kommend – war sein Kommentar zu Rosa Luxemburgs Berufung auf »den Marx des kommunistischen Manifests«: »Wie es denn überhaupt geistige Reaktion ist, Belehrung über die politische Methode einer Schrift zu entnehmen, die zu einer Zeit verfaßt wurde, wo noch aus keinem Lande Erfahrungen vorlagen über den Wert des demokratischen Wahlrechts und die Teilnahme der Arbeiter an der Gesetzgebung und Verwaltung für die Verwirklichung der Ziele des Sozialismus.« [BERNSTEIN: 1789/94 (wie Anm. 132), S. 34f. Luxemburgs Rede »Unser Programm und die politische Situation« in: Die Gründung der KPD. Protokoll und Materialien des Gründungsparteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands 1918/19. Mit einer Einf. zur angebl. Erstveröffentl. durch die SED. Hg. u. eingel. v. Hermann Weber, Berlin 1993, S. 172-200, die Berufung auf die Erstfassung des Kommunistischen Manifests S. 172-180. – Schon 1898 hatte Bernstein auf Alexander Parvus-Helphands Polemik gegen seine Kritik an der Marx’schen Katastrophentheorie geantwortet: »Es ist doch lächerlich, nach fünfzig Jahren noch mit Sätzen des ›Kommunistischen Manifests‹ zu argumentieren, die ganz anderen politischen und sozialen Zuständen entsprechen wie die, mit denen wir heute zu thun haben.« BERNSTEIN: Kritisches Zwischenspiel, in: NZ, Jg. 16/1, Nr. 24 (12.3.1898), S. 740-751, S. 750.]

Während einige deutsche Sozialdemokraten den Bolschewismus noch Ende 1918 als innerrussische Angelegenheit abzu-

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tun suchten, die den spezifischen russischen Verhältnissen geschuldet sei, hatte Bernstein in ihm von Anfang an eine Bedrohung für die gesamte sozialistische Internationale und ganz besonders für die sich nach der militärischen Niederlage in einer revolutionären Verfassung befindenden Staaten Deutschland, Österreich und Ungarn erkannt. Auf die Zerstörung der II. Internationale – für den Internationalisten Bernstein das ideelle Rückgrat aller sozialdemokratischen Nationalparteien – hatte Lenin seit Ausbruch des Krieges aktiv hingearbeitet. Den Zorn und die Sorge Bernstein erregte auch die konspirative Außenpolitik der Bolschewiki, die sich unter Missachtung des Völkerrechts – schlimmer als es jemals die kaiserliche Geheimdiplomatie getan habe – mit aggressiver Propaganda, großem finanziellen Aufwand und einem international tätigen Agentennetz in die innere Politik souveräner Staaten einmischten. Dieser Propaganda- und Agententätigkeit vor allem schrieb Bernstein den wachsenden Zulauf zu Spartakus und Linksradikalen zu. [BERNSTEIN: Wie eine Revolution zugrunde ging (wie Anm. 130), S. 65; außerdem die ausführliche Schilderung dieser Tätigkeiten in: BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 51-53, 107. Auch die wilden Streiks, die seit Dezember 1918 in Deutschland ausbrachen, schrieb Bernstein »Agenten der Bolschewisten« zu. Ebd., S. 182. Doch diese These Bernsteins greift zu kurz, denn vor allem die den Traditionen der Arbeiterbewegung nicht verbundenen »neuen« Industriearbeiter vermissten nach der Revolution rasche und spürbare Veränderungen ihrer sozialen Lage. Enttäuscht wandten sie sich von den Gewerkschaften und der alten Sozialdemokratie ab, wobei zunächst insbesondere anarcho-syndikalistische Tendenzen an Einfluss gewannen.]

Eine gewisse Mitschuld trage aber auch die deutsche Sozialdemokratie: Der Widerspruch, der zwischen der »aus der Vergangenheit sich forterbenden Phraseologie und der heutigen sozialdemokratischen Praxis« bestehe, mache es »den Agitatoren des Bolschewismus leicht [...], unerfahrene junge Arbeiter und soziologisch ungebildete Belletristen aller Altersklassen für ihre

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Doktrin zu gewinnen, die, so roh simplizistisch sie ist, wenigstens den Schein der größeren Logik hat«. [BERNSTEIN: Wie eine Revolution zugrunde ging (wie Anm. 130), S. 66.]
Das war Bernsteins alte Forderung nach dem Verzicht auf »Schlagworte«, die entweder überholt, missverständlich oder der Beschreibung der tatsächlichen Probleme der komplexen Wirklichkeit vollkommen unangemessen waren, etwa der Begriff der »Diktatur des Proletariats«, die permanente Beschwörung des Klassenkampfs oder die generelle Verwendung des Begriffs »Kapitalismus« als Kampfbegriff. Ohnehin würden in jedem aufgeheizten Revolutionsklima »formal oder romantisch räsonierende« Agitatoren – die »Advokaten, Künstler und Poeten«, von denen schon Proudhon gesprochen habe – das »wirtschaftlich sozial urteilende Element« aus der öffentlichen Diskussion verdrängen. [BERNSTEIN: 1789/94 (wie Anm. 132), S. 37f. Ebd. auch die folgenden Zitate. Der Text Proudhons aus dem »Représentant du Peuple« vom 29.4.1848 auch in: BERNSTEIN: Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 42.]
»In der Politik sind Romantiker aber alle, die ihre Maßstäbe aus einer Welt des Jenseits nehmen, gleichviel, ob dieses Jenseits in der Vergangenheit, in einer vorgestellten Zukunft oder in der verschroben angesehenen Gegenwart liegt, und das letzte trifft, trotz ihres materialistisch-realpolitischen Gebarens, auch hinsichtlich der Bolschewisten zu.«

Denn deren Gesellschaftsbild stimme mit der Wirklichkeit nicht mehr überein »als wie die Gliederpuppe der Mediziner mit einem wirklichen Menschen«. Die entvölkerten Städte und die stillstehenden Fabriken Russlands seien die traurigen Beweisstücke für die Zerstörungspolitik der Bolschewiki. Und in Deutschland wären, so war seine Überzeugung, da es wirtschaftlich wesentlich höher entwickelt als das noch weitgehend agrarisch bestimmte Russland war, die Folgen solch einer »Elendspolitik« noch katastrophaler: Die Abhängigkeit des Volkes von der Industrie sei, entsprechend dem wesentlich höheren Indus-

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trialisierungsgrad, ungleich größer und die Rückkehr aufs Land nur einem Bruchteil der Bevölkerung, von der weniger als drei Zehntel ihren Erwerb aus der Agrarproduktion schöpften, möglich. Hungertod, Chaos und Elend würden also noch verheerendere Ausmaße annehmen als in Russland. Die mittel- bis langfristige Folge solch einer »Elendspolitik« sei schließlich die Rückkehr der Reaktion an die Macht. [Die gleiche Argumentation in Bernsteins Rede auf der Soldatenversammlung am 22.12.1918: VORWÄRTS, Nr. 352 v. 23.12.1918 [Eduard Bernstein für Einigkeit].]

Die unmittelbarste Äußerung Bernsteins gegen den Terror in Russland überliefert das Protokoll der Internationalen Sozialistenkonferenz in Bern: »Die bolschewistische Regierung ist die erste sozialistische Regierung gewesen, die auf friedlich demonstrierende Arbeiter mit Maschinengewehren hat schießen lassen. Die bolschewistische Regierung ist es gewesen, die Sozialisten anderer Meinung, die keine Putschisten waren, einfach ohne Recht und unter Rechtsbruch einstecken ließ, sie ihrer Rechte beraubte, alles Sachen, die sonst die reaktionären Regierungen getan haben.« [Bernstein in der Diskussion zu Diktatur und Demokratie auf der II. Arbeiter- und Sozialistenkonferenz in Bern, 3. bis 10.2.1919, in: RITTER (Hg.): Die II. Internationale (wie Anm. 37), Bd. 1, Dok. 175, S. 552. Sein Statement endet: »Ich bedaure es, so sprechen zu müssen, aber ich muß an dieser Stelle dagegen protestieren, daß man den Bolschewismus mit dem Sozialismus in der Weise identifiziert, wie es geschehen ist. [...] Ich protestiere noch einmal dagegen, daß man die Sozialisten mit den Bolschewisten in irgendeiner Weise, so wie es hier geschehen ist, identifiziert.« Ebd., S. 553.]

Bernstein war kein offizieller Delegierter auf dieser Konferenz. Für die »Diskussion zu Diktatur und Demokratie« hatten ihm die deutschen Mehrheitssozialdemokraten das Wort abgetreten. Zwar nahmen auch Kautsky und Eisner, die beide der USPD angehörten, in Bern scharf gegen den Bolschewismus

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Stellung [Ebd., Dok. 154a, S. 504 (Eisner, paraphrasiert von Renaudel); Dok. 171, S. 544-548 (Kautsky).] , die Partei insgesamt und ihre Presse hielten sich mit Kritik gegen links jedoch zurück. Zur selben Zeit, als Bernstein auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Bern die Politik Lenins angriff, ging Ströbel in Maximilian Hardens »Zukunft« mit der Presse der Unabhängigen scharf ins Gericht: »[...] nur der Spartakismus und der Bolschewismus trieb rührige Propaganda; die wirklich sozialdemokratische Schulung der Massen unterblieb. Und wo sie versucht wurde, wurde sie sabotirt. Die meisten Parteiblätter hielten es für ihre Pflicht und das beste Mittel der revolutionären Anfeuerung, die Vorgänge in Rußland ganz im Sinn der Lenin und Trotzkij darzustellen. Noch, als bewährte Genossen, ehemalige Zimmerwalder, erschütternde Hilferufe nach Deutschland sandten, den Bolschewismus als den Ruin Rußlands und des russischen Sozialismus anklagten und an harten, blutigen Thatsachen die entsetzliche Schreckensherrschaft des Bolschewismus erwiesen, verschloß sich die Presse der Unabhängigen dieser Wahrheit. Bernstein und andere Parteimitglieder, die den Terrorismus einer Minderheit auch dann bekämpfen zu müssen glaubten, wenn er von Sozialisten ausging, wurden als sentimentale Politikaster verspottet, ihre Artikel selbst aber den Lesern vorenthalten.« [HEINRICH STRÖBEL: Die Aufgaben des Sozialismus, in: DIE ZUKUNFT, hg. v. Maximilian Harden, Bd. 104 (Jan. - März 1919), Ausg. vom 15.2.1919, S. 179-202, Zitat S. 194.]

Bernsteins Austritt aus der USPD, mit dem er im März 1919 einem Parteiausschluss zuvorkam, nachdem der Parteitag der Unabhängigen in einem auf Bernstein gemünzten Beschluss die Doppelmitgliedschaft in beiden sozialistischen Parteien für USPD-Mitglieder untersagt hatte, kommentierte denn auch die »Freiheit«: »Bernstein ist einer von jenen, deren politische Stellungnahme in der Revolution vor allem von der Besorgnis vor dem Bolschewismus bestimmt wird, eine Besorgnis, die schon unendlich viel Unheil angerichtet hat. Wir teilen diese Sorge

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nicht, weil wir meinen, daß die ganz andere soziale Struktur Deutschlands [...] die Gefahren, die die wirklichen oder erdichteten Ausartungen des Bolschewismus bedeuten, für Deutschland ernsthaft nicht in Betracht kommen lassen.« [DIE FREIHEIT, Nr. 137 v. 22.3.1919 [im Anschluss an Bernsteins Artikel »Auf Wiedersehen! Ein Abschiedswort an die unabhängige Sozialdemokratie«]. Ebd. auch die folgenden Zitate.]

Die Bourgeoisie bediene sich der Bolschewismusfurcht »zum Widerstand gegen jede wirklich sozialistische Politik«, auch viele MSPD-Anhänger seien ihr erlegen und ertrügen deshalb den »verderblichen grundsatzlosen Opportunismus« ihrer Führung. Das »Versagen wirklicher sozialistischer Politik« sei der wahre Grund für die Radikalisierung der Arbeiter und den Zulauf der Kommunisten.

Im Winter 1920/21 verfasste Bernstein eine Darstellung der Revolutionsereignisse von November 1918 bis zu den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung, um zur Anschauung zu bringen, dass es sich bei den inneren Kämpfen, von denen Deutschland seit der Revolution erschüttert wurde, »um das Ringen zweier grundsätzlich verschiedener Auffassungen des Sozialismus und der sozialen Entwicklung« gehandelt habe. [BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 30. Ebd. das folgende Zitat.]
Während der Betrachter politischer Ereignisse diese meist nur unter taktischen Gesichtspunkten und, abhängig von seinem persönlichen politischen Standort, mit besonderem Blick auf die Rolle bestimmter Akteure betrachte, sei es Aufgabe des »politischen Geschichtsschreibers [...], die den praktischen Kämpfen zugrundeliegenden tieferen Gegensätze zu ermitteln und behufs deren richtiger Bewertung zur Anschauung zu bringen«. Die aus dem wissenschaftlichen historischen Studium gewonnenen Einsichten in diese tiefer wirkenden Kräfte konnten nach Bernstein den Führern der Arbeiterbewegung Handlungsanweisungen für die Gegenwart liefern, da sie die Gesetze, gemäß denen eine Gesellschaft sich zu höheren Formen entwickle, erkennen lie-

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ßen. Die Gesellschaft sei ein lebendiger, sich fortentwickelnder Organismus, und da die Arbeiterklasse von dieser Fortentwicklung am meisten zu erhoffen habe, sei sie mehr als jede andere auch am Fortschritt der Erkenntnis interessiert: »Dieses Interesse besteht für die Sozialdemokratie oder den Sozialismus schon deshalb, weil die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge ihr das Auffinden derjenigen Mittel verbürgt, die geeignet sind, den gesellschaftlichen Fortschritt zu beschleunigen, sowie das Vermeiden derjenigen Mittel, die ihn aufhalten oder verlangsamen würden. Der Sozialismus ist zwar [...] stets in bestimmtem Grade eine Sache des Willens, aber er ist keine Sache der Willkür. Um zum gewollten Ziele zu gelangen, bedarf er der Wissenschaft von den Kräften und Zusammenhängen des Gesellschaftsorganismus, von Ursache und Wirkung im Gesellschaftsleben als leitenden Führers.« [BERNSTEIN: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?, in: DERS.: Sozialismusbild (wie Anm. 28), S. 79.]

Aus dem Studium der Revolutionen, besonders der französischen Revolution von 1848, hatte Bernstein ein Negativmodell historischer Entwicklung gewonnen, welches sich in den drei Begriffen Revolution – Radikalisierung der Revolution – Konterrevolution zusammenfassen lässt. Die Entwicklung in Russland seit 1905 und besonders seit 1917 hatte dieses Modell bestätigt. Übertragen auf die deutsche Situation seit November 1918 bedeutete dies, dass oberste Priorität der Kampf gegen ein ›Weitertreiben‹ der Revolution und eine Radikalisierung von Teilen der Arbeiterbewegung haben musste.

Eine Gefahr von rechts dagegen hatte nach diesem Modell nicht ursächlich vorgelegen, sondern war erst als Wirkung auf die Radikalisierung eingetreten. So beurteilte Bernstein auch die deutsche Situation in der ersten Phase der Revolution: Obwohl sein Revolutionsbuch verfasst worden ist, nachdem die Rechte mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch und zahlreichen politischen Morden ihre Existenz und Gefährlichkeit unter Beweis gestellt hatte, betrachtete Bernstein die Gefahr von rechts auch im

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Rückblick als in den Revolutionsmonaten zwischen November und Januar zu vernachlässigende Größe. [BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 71f. u. S. 286f., Anm. 116. Bernstein zitiert aus einem Artikel der »Kreuzzeitung« vom 10.11.1918 als Beleg, dass die monarchistischen Kreise bereits »resigniert« hätten. In diesem Artikel ist die Dolchstoßlegende bereits ausformuliert, was Bernstein entgangen ist, da er nicht mit den Originalquellen gearbeitet hat, sondern den von ihm verwendeten tendenziösen Quellenzusammenstellungen kritiklos Glauben schenkte. Dies gilt neben dem von Friedrich Pulitz hg. »Geschichtskalender«, aus dem das Zeitungszitat stammt, insbesondere für den Bericht des Untersuchungs-Ausschusses der Preußischen Landesversammlung über die Januar-Unruhen 1919.]

Am deutlichsten zeigt sich Bernsteins Bewertung der Revolutionsereignisse nach dem monokausalen Erklärungsmuster von Ursache und Wirkung an seinem Urteil über Gustav Noske und Karl Liebknecht, zwei Protagonisten des Januaraufstands: Die Weigerung des zur USPD gehörenden Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, sein Amt nach dem Regierungsaustritt der Unabhängigen zur Verfügung zu stellen, war der Auslöser für eine führerlose, spontane Erhebung von Berliner Arbeitern, die die Stadt in bürgerkriegsähnliche Zustände stürzte. [Die oft fälschlich als »Spartakusaufstand«, von Bernstein als »Kommunistenaufstand« bezeichnete Erhebung war weder vom Spartakusbund bzw. der KPD noch von russischen Bolschewiki initiiert worden. WINKLER: Von der Revolution (wie Anm. 10), S.120-126; BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 185-223.]
Bernstein sah durch diesen Aufstand all seine Befürchtungen hinsichtlich bolschewistischer Umtriebe in Deutschland bestätigt. Doch er war es, der zur Vermeidung von Blutvergießen in einer Sitzung der Berliner Zentrale der USPD eine Vermittlungsaktion zwischen dem nur noch von Mitgliedern der MSPD gebildeten Rat der Volksbeauftragten und den Aufständischen, die sich in verschiedenen Gebäuden der Stadt, so im Polizeipräsidium und im

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»Vorwärts«-Gebäude, verschanzt hatten, anregte. [Er selbst beteiligte sich nicht aktiv an der Vermittlungsaktion, vielleicht da er befürchtete, auf die radikale Linke eher polarisierend und provozierend als integrierend zu wirken. Zur Vermittlungsaktion vgl. die Zuschrift Bernsteins gegen den tendenziösen Bericht des »Vorwärts« in: VORWÄRTS, Nr. 22 v. 13.1.1919 [Der Vermittlungsversuch der Unabhängigen. Eine Zuschrift Eduard Bernsteins]; darauf folgender Kommentar der Redaktion: »Mit dieser Zuschrift ist für die merkwürdige Zweiseelenpolitik der Unabhängigen eine Erklärung gegeben, die es uns möglich macht, an die persönliche Aufrichtigkeit der einzelnen beteiligten Personen zu glauben. Geändert wird aber nichts an der Tatsache, daß der eine Teil der Unabhängigen das Blutvergießen mit anzettelte und der andere dann mit dem Ruf »Nur kein Blutvergießen!« zur Regierung kam. [...] Jämmerlicheres als diese un ab hängige ›Politik‹ kann es gar nicht geben!« Außerdem: WILL HELM DITTMANN: Erinnerungen. Bearb. u. eingel. v. Jürgen Ro jahn, 3 Bde., Frankfurt/New York 1995, Bd. 2, S. 637-640.]
Der Mission war kein Erfolg beschieden. Ebenso wenig konnte eine rasch wachsende Einigungsbewegung von Berliner Arbeitern aus MSPD, USPD und KPD die Eskalation verhindern. [Dazu: KNOPP (wie Anm. 10), S. 210-216, hier auch zu den MSPD-Vorwürfen, diese Bewegung sei von der USPD gesteuert bzw. inszeniert worden: Das war sie nicht, wenngleich die USPD sie nicht ganz erfolglos zu vereinnahmen suchte und »Die Freiheit« mit den Parolen und Resolutionen der Arbeiter eine Einigungskampagne startete.]
Bei der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands durch reguläre Truppen und Freiwilligenformationen unter dem Oberbefehl des Volksbeauftragten Gustav Noske kam es zu völlig überzogener Gewaltanwendung gegen die Aufständischen und zu standrechtlichen Erschießungen von Gefangenen. [Erstaunlich milde ist Bernsteins Urteil über diese Exzesse: BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 223.]

Selbst wenn es sich, was Bernstein bezweifelt, um eine spontane Erhebung der Massen gehandelt habe, hätten ihre Führer, insbesondere Karl Liebknecht, Schuld auf sich geladen, indem

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sie sich in »politischer Verranntheit und Kurzsichtigkeit« an die Spitze der Aufruhrbewegung stellten und den Versuch unternahmen, die durch das Votum des Reichsrätekongresses soeben quasi demokratisch legitimierte Regierung abzusetzen: »Das war keine Revolution, sondern ein Gewaltakt, den, soweit nötig, mit Gewaltmitteln niederzuschlagen, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Regierung war. Denn sein Erfolg in Berlin hätte Deutschland in den Zustand verheerender Anarchie versetzt.« [Ebd. S. 193.]

Nach der Ermordung Liebknechts durch Freikorpssoldaten am 16. Januar rechtfertigt Bernstein das milde Urteil gegen die Täter, indem er auf die Größe von Liebknechts historischer Schuld verweist: »Das geschichtliche Urteil über den Politiker Karl Liebknecht [...] kann [...] doch nur dahin lauten, daß sein letztes Unternehmen zugleich gezeigt hat, wie sehr ihm die Eigenschaften fehlten, ohne welche die Sozialdemokratie ihre große Mission als aufbauende Kraft nicht erfüllen kann.« [Ebd., S. 234f., Zitat S. 235.]

Noske dagegen, der als Oberbefehlshaber die Verantwortung für die blutige Niederschlagung des Aufstands trug, wird sehr milde beurteilt. Bernstein räumt ein, dass der militärische Aufwand, den Noske getrieben habe, nicht in dem Maße notwendig gewesen wäre, doch sei »das Urteil über die politische Berechtigung dieser Vorbereitungen« nicht aus der Rückschau, sondern danach, »wie sich die Dinge während des Geschehens selbst zeigten«, zu fällen: »Und daß Noske nun die Maßnahmen ergriff, die ihm nach dem, was er vor sich gesehen, die zweckmäßigsten erschienen, wenn es nötig wurde, den Aufstand mit Gewalt niederzuschlagen, kann ihm in keiner Weise zum Vorwurf gemacht werden. Die Verantwortung hierfür trifft diejenigen, die in so skrupelloser Weise mit dem Feuer des Aufruhrs gespielt

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hatten. Lediglich auf das Gebot des Augenblicks bezogen, waren sie nur dessen logische Folgerung.« [Ebd., S. 201f. Vgl. auch das Zitat aus der »Welt am Montag« zur Personenfrage, s.u., S. 100.]

Noske wird als Mann von »nüchternem Urteil, Gegnerschaft gegen die Phrase und Neigung zu militärischer Denkart« charakterisiert. Im November 1918 habe er sich im aufständischen Kiel »als guter Organisator und tatkräftiger Leiter von Massen bewährt« und das ihm eigene barsche Auftreten durch »überzeugende Begründung seiner Maßnahmen« wettgemacht. Kritisch merkt Bernstein lediglich an, daß es Noske an »jener Selbstbeherrschung, die in kritischen Situationen ein notwendiges Requisit des Führers ist«, gemangelt habe. Ausdrücklich betont Bernstein Noskes Bereitschaft, in einer für die junge Republik lebensbedrohenden Situation das Opfer der Verantwortung auf sich zu nehmen. [BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 181, 200. Zu Noske: WOLFRAM WETTE: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987. Zum Januaraufstand darin S. 289-331.]

Der Trennung Bernsteins in zwei sich diametral gegenüberstehende Grundauffassungen des Sozialismus, einer konstruktiven und einer destruktiven, entspricht seine Klassifizierung in den Typus des verantwortungsvollen Führers und den des utopistischen Radikalen. [Vgl. Bernsteins sehr idealistisches Bild des sozialistischen Arbeiterführers in: DERS.: Arbeiterbewegung (wie Anm. 21), S. 141-150.]
Während der verantwortungsvolle Führer auch um den Preis der Unpopularität die Massen mit dem Mittel der nüchternen Aufklärung zur Einsicht in die Notwendigkeit politischer Handlungen leitet, appelliert der verantwortungslose, von wirklichkeitsfremden Idealen geleitete Verführer mit den Mitteln der Propaganda an die niederen Instinkte der Massen und verhetzt diese zu destruktiven Aktionen. Nicht die Massen, wohl aber ihre Führer laden, wenn sie verantwortungslos handeln, Schuld auf sich.

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Diese Unterscheidung Bernsteins ähnelt derjenigen Max Webers in Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Was Bernstein jedoch von Weber unterscheidet, das ist die zusätzliche normative Aufladung, die die Unterscheidung bei Bernstein durch seine idealistische Grundüberzeugung von der Existenz eines universalen ethischen Prinzips erfährt, welches er im Sozialismus verwirklicht sieht. Weber dagegen geht illusionslos sowohl von der Nichtexistenz einer Autonomie letzter Werte als auch von der Unmöglichkeit, einen Konsens über letzte Werte herzustellen, aus. [JOHN BREUILLY: Eduard Bernstein und Max Weber, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schwentker, Göttingen 1988, S. 476-489, S. 478. Diese Differenz ist von der Forschung, die eine Verwandschaft der wissenschaftstheoretischen Anschauungen Bernsteins mit denen Webers ausgemacht hat, unzureichend berücksichtigt worden. Siehe etwa: HANS-PETER JÄGER: Eduard Bernsteins Panorama. Versuch, den Revisionismus zu deuten, Frankfurt a.M./Bern 1982; MEYER: Sozialismus (wie Anm. 13), S. 241-277; FRITHJOF SPREER: Bernstein, Max Weber und das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Gegenwartsdiskussion, in: HEIMANN/MEYER (wie Anm. 14), S. 274-290.]
Die politische Ethik Bernsteins findet ihren unmittelbaren Ausdruck in der häufigen Verwendung der Begriffe Verantwortung, Pflicht, Schuld und Opfer.

Das Erklärungsmuster, mit dem Bernstein dem »Tagesgeschrei« nach Sozialisierung begegnete [BERNSTEIN: Entwicklungsgang (wie Anm. 1), S. 237f.] und staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben abwies, war die aus seinem Analogieschluss von Lebewesen zu Staaten abgeleitete Kernthese vom Anti-Revolutions-Reflex ausdifferenzierter Industriegesellschaften. Es gelte in der Biologie als eine auf Erfahrung und experimentelle Untersuchung gegründete Erkenntnis, »daß Organismen um so weniger wandlungsfähig sind, zu je höherer Stufe der Entwicklung sie in bezug auf Spezialisierung, Ausbildung und funktionelles Zusammenwirken ihrer Organe gediehen sind. Mit

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einigen aus der Natur der Sache sich ergebenden Einschränkungen gilt das auch für die sozialen Organismen, die wir Staaten oder, bei früherer Entwicklungsstufe, Stämme und Völkerschaften nennen. Je weniger sie ausgebildet sind, um so leichter vertragen sie Maßnahmen, die auf ihre radikale Umbildung abzielen. Je vielseitiger aber ihre innere Gliederung, je ausgebildeter die Arbeitsteilung und das Zusammenarbeiten ihrer Organe bereits sind, um so größer die Gefahr schwerer Schädigung ihrer Lebensmöglichkeiten, wenn versucht wird, sie mit Anwendung von Gewaltmitteln in kurzer Zeit in bezug auf Form und Inhalt radikal umzubilden.« [BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 237. Das von Bernstein hier verwendete organizistische Vergleichsbild, die Analogie von Staaten und Lebewesen, findet sich, soweit ich sehe, erstmals in dem 1897 veröffentlichten Aufsatz »Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl«. Dort heißt es: »Nur im Zustande undifferenzierter Wirtschaften kann – um ein Bild aus der Biologie zu wählen – die ›Gesellschaft‹ ein mollusken- oder plattwurmartiges Dasein führen. Wie in der Tierwelt mit dem Fortschritt der Differenzierung der Funktionen die Ausbildung eines Knochengerüsts unvermeidlich wird, so im gesellschaftlichen Leben mit der Differenzierung der Wirtschaften die Heranbildung eines das Gesellschaftsinteresse als solches vertretenden Verwaltungskörpers. Ein solcher Körper war bisher und ist heute der Staat. Da nun die Weiterentwicklung der Produktion ganz ersichtlich nicht in Aufhebung der differenzierten Produktion bestehen kann, sondern nur in neuer Zusammenfassung auf Grundlage der ausgebildeten Differenzierung [...], so kann der Verwaltungskörper der Gesellschaft der absehbaren Zukunft sich vom gegenwärtigen Staate nur dem Grade nach unterscheiden.« NZ, Jg. 15/2, Nr. 31 (1.5.1897), S. 138-142, Zitat S. 140.]

Diese Analogie, mit der Bernstein sich in der Tradition von Marx und Engels zu bewegen meint, stammt vom britischen Philosophen Herbert Spencer. [HERBERT SPENCER: The Social Organism (1860), in: DERS.: The Man Versus the State. With Six Essays on Government, Society, and Freedom, Indianapolis 1981, S. 383-434. Dazu: M.W. TAYLOR: Men Versus the State. Herbert Spencer and Late Victorian Individualism, Oxford 1992, bes. S. 131-166.]
Bernstein ist ihr vermutlich

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zuerst im Kreis der englischen Fabier begegnet, deren Idee eines evolutionären Sozialismus sich des Spencer’schen Konzepts des »social organism« bediente. [Beatrice Webb, Mitbegründerin der Fabian Society und einer ihrer führenden Köpfe, war eine Schülerin Spencers. Zur Spencer-Rezeption der Fabier: PETER WITTIG: Der englische Weg zum Sozialismus, Berlin (W) 1982, bes. S. 105f. Zu Bernstein und den Fabiern: FREI (wie Anm. 12). Außerdem: RICHARD WEIKART: So cialist Darwinism. Evolution in German Socialist Thought from Marx to Bernstein, Turlock, Calif. 1994. – Bernstein erwähnt Spencer mehrfach, etwa in einer gegen Kautsky gerichteten Verteidigung seiner Kritik an Hegel mit dem Titel »Dialektik und Entwicklung«: »Und gehen wir zu Marx und Engels selbst über, so werden wir finden, dass, was sie an wissenschaftlicher Erkenntnis dem Werke ihrer sozialistischen Vorgänger hinzugefügt haben, weit mehr auf die präziseren Formeln hinausläuft, welche die Spencersche Schule für die Evolutionslehre aufgestellt hat, als auf die berühmte ›Negation der Negation‹.« NZ, Jg. 17/2, Nr. 37 (10.6.1899), S. 334. Auch der Philosoph Karl Vorländer weist in einem Beitrag zur Diskussion um die Erneuerung des SPD-Parteiprogramms von 1920 ausdrücklich darauf hin, dass man Marx’ und Engels’ Theorie des historischen Materialismus, statt an Hegel anzuknüpfen, auch an die »Entwicklungsphilosophen« Darwin und Spencer »anknüpfen« könne. KARL VORLÄNDER: Zu den philosophischen Grundlagen unseres Parteiprogramms, in: Das Programm der Sozialdemokratie. Vorschläge für seine Erneuerung, Berlin 1920, S. 10-17, Zitat S. 16.]
Dieser hatte 1860 in seinem Essay »The Social Organism« seine organische Staatsvorstellung ausführlich und mit sehr weitreichenden Analogien und Beispielen aus der Biologie dargelegt. »Simple communities«, schreibt Spencer, »like simple creatures, have so little mutual dependence of parts, that mutilation or subdivision causes but little inconvenience; but from complex creatures, you cannot remove

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any considerable organ without producing great disturbance or death of the rest.« [SPENCER (wie Anm. 158), S. 393.]

Der Sozialist Bernstein verwendet nicht nur diese Denkfigur, er kommt auch zu einem ähnlichen Schluss wie Spencer, der mit dieser Analogie sein Postulat des laissez-faire begründet. Harry Graf Kessler vermerkt denn auch nach einem Gespräch mit Bernstein in seinem Tagebuch: »Er stellte sich in der Sozialisierung auf einen so bourgeois-liberalen Standpunkt, namentlich in bezug auf die Unternehmer und die Sozialisierung der Betriebe, daß von wirklichem Sozialismus kaum noch etwas übrig blieb.« [HARRY GRAF KESSLER: Tagebücher. 1918-1937, hg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a.M. 1996, S. 178 [15.4.1919]. Bernstein zur Sozialisierung: DERS.: Die Sozialisierung der Betriebe, Basel 1919 [Vortrag v. 24.2.1919 an der Universität Basel].]

Problematisch ist die Verwendung dieses organizistischen Vergleichsbildes bei Bernstein aber auch seiner normativen Besetzung wegen: ›Organisch‹ steht für gut bzw. aufbauend, ›mechanisch‹ für schlecht bzw. zerstörend. Das führt gelegentlich zu Formulierungen, die die Analogie selbst ad absurdum führen: »[...] ich sehe in dem agressiven Imperialismus unserer Tage keine der heutigen Volks- und Weltwirtschaft organisch entsprechende, ihr innerlich verbundene Erscheinung, sondern eine unorganische Wucherpflanze am Baum der Gegenwart.« [BERNSTEIN: Vom Parlament und vom Parlamentarismus, SM 16/2 (1912), S. 650-656, Zitat S. 651 [Hervorhebung T.L.].]

Der Vorwurf, den die »Freiheit« gegen Bernstein erhob, war also nicht ganz unberechtigt: Die starre Orientierung an den von Bernstein als »tiefer wirkende Kräfte« identifizierten Entwicklungsgesetzen führte ihn zu einer einseitigen Wahrnehmung der Revolutionsereignisse.

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III.2. Eine »neutrale Tribüne« für die Wiedervereinigung: Bernstein und die Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie (Februar 1919 – Sommer 1920)

Am 23. Dezember 1918 hatte Bernstein sich dazu entschlossen, durch die Doppelmitgliedschaft in beiden sozialistischen Parteien ein Signal für die Wiedervereinigung zu setzen, und beantragte beim Schöneberger Wahlverein der MSPD die Wiederaufnahme bei Beibehaltung seiner USPD-Mitgliedschaft. [Der Entwurf des Briefes: IISG NL BERNSTEIN C 4; abgedruckt in: DIE FREIHEIT, Nr. 74 v. 25.12.1918 [Ein eigenartiger Schritt]; VORWÄRTS, Nr. 354 v. 25.12.1918 [Bernsteins Rückkehr in die Partei]. Guido Knopp weist darauf hin, dass der Schöneberger Wahlverein das Gesuch Bernsteins zunächst nicht akzeptiert hat; wann genau er offiziell MSPD-Mitglied geworden ist, konnte Knopp nicht herausfinden: KNOPP (wie Anm. 10), S. 599, Anm. 12.]
Während der »Vorwärts« diesen Entschluss freudig und mit Genugtuung kommentierte [VORWÄRTS, Nr. 353a v. 24.12.1918 [Eduard Bernstein wieder der Partei beigetreten]: Bernsteins »Anschluß an die abgesprengte Gruppe der Unabhängigen« sei für die Partei »ein außerordentlich schmerzlicher Verlust, für die Unabhängigen aber nach außen hin eine nicht geringe Genugtuung« gewesen, »denn wenige Namen in der Partei haben in der ganzen Welt einen so guten Klang wie der seine, und die Rechtschaffenheit, die Ueberzeugungstreue, die Tapferkeit dieses alten Vorkämpfers der internationalen Arbeiterbewegung war über allen Zweifel erhaben«. Die von ihm frühzeitig erkannte »schwere Schuld der alten Machthaber« und einige, wenngleich nur vereinzelt aufgetretene, »nationalistischen Auswüchse [...] an dem sonst gesund gebliebenen Parteikörper« hätten ihn in die Opposition getrieben; dass er nun in die Partei zurückkehre, sei »für ihre Sache ein gutes Zeichen. [...] Er hat all denen, die im Bruderkampf Sozialdemokraten geblieben sind, ein Beispiel gegeben, wie ein Parteigenosse in der gegenwärtigen Lage handeln muß.«] , sprach »Die Freiheit« von einem »eigenartigen Schritt«, der »bei den Parteigenossen wenig Verständnis finden« werde. »Wir können nur bedauern, daß er sich nicht

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vorher mit der Parteileitung beraten hat.« [DIE FREIHEIT, Nr. 74 v. 25.12.1918 [Ein eigenartiger Schritt]. Darauf Bernstein: DIE FREIHEIT, Nr. 76 v. 27.12.1918 [Das Entweder – ]. Der Titel bezieht sich auf das Statement Rosa Luxemburgs auf der Berliner Generalversammlung der USPD, s.o., S. 70.]
Bernstein hatte in seinem Brief explizit auf die Ereignisse des 23. Dezember, den Beginn der so genannten »Berliner Weihnachtskämpfe«, die ersten schweren bewaffneten Auseinandersetzungen in Berlin seit der Revolution, Bezug genommen. Diese zogen am 28. Dezember das Ausscheiden der unabhängigen Volksbeauftragten Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth aus der Regierung nach sich. Bernsteins Schritt zur Doppelmitgliedschaft konnte in diesem das sozialistische Lager zunehmend polarisierenden Klima die erhoffte Signalwirkung in Richtung auf eine Einigung nicht ausüben. Statt dessen verhärteten sich die Fronten zwischen USPD und MSPD, und der Regierungsaustritt der USPD löste die einzige zu diesem Zeitpunkt auf ihren Führungsebenen bestehende institutionelle Bindung der beiden Parteien auf. Bernstein bot, wie alle der USPD angehörenden Beigeordneten, der Regierung seinen Rücktritt an, blieb jedoch im Amt, da seine Stellung, wie der »Vorwärts« schrieb, durch seinen Wiedereintritt in die MSPD von dem Regierungsaustritt der Unabhängigen nicht berührt sei. [VORWÄRTS, Nr. 1 v. 1.1.1919 [Rücktrittsgesuche]. – Ebenso behielten ihre Ämter die Unabhängigen Emanuel Wurm und Kautsky. Dass Wurm das Vertrauen der MSPD genoss, hatte schon die Entscheidung, ihm im Ernährungsressort keinen MSPD-Kollegen zur Seite zu stellen, gezeigt. Gegenüber Kautsky, der im Auswärtigen Amt mit der Sichtung der Akten zur Kriegsschuldfrage befasst war, signalisierte der »Vorwärts« zwischen den Zeilen, dass man seine Rückkehr in die alte Partei begrüßen würde: »Was aber die noch nicht in die Partei zurückgekehrten Unabhängigen betrifft, so steht grundsätzlich ihrem Weiterarbeiten in den Einzelressorts nichts im Wege. Das gilt auch für Karl Kautsky [...].« Ebd.]

Der Januaraufstand war für Bernstein die letzte Veranlassung, für die Wiedervereinigung der Sozialdemokratie außerhalb der

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etablierten Parteistrukturen aktiv zu werden: Auf sein Betreiben hin konstituierte sich in Berlin am 22. Januar 1919 die Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie (ZfE) [Grundlegend zur ZfE: KNOPP (wie Anm. 10), S. 249-501. Bernstein selbst hat die ZfE in seinen Erinnerungen nicht erwähnt.] als eine für »alle auf dem Boden des Erfurter Programms stehenden Sozialdemokraten« offene Organisation, die »dem Bedürfnis weiter Kreise der sozialistischen Arbeiterschaft entgegenkommen und einen neutralen Mittelpunkt zur sachlichen Erörterung all der Streitfragen [...], die die Sozialdemokratie bewegen«, bilden sollte. [VORWÄRTS, Nr. 47 v. 26.1.1919 [Der Wille zur Einigung; Hervorhebung T.L.]. Ebd. auch das folgende Zitat. – Die ZfE, die seit Beginn ihrer Arbeit mit regulären Mitgliederlisten und festen Beitragszahlungen arbeitete, hat sich nicht ins Vereinsregister eintragen lassen: KNOPP (wie Anm. 10), S. 249.]
Es handle sich nicht »um die Gründung einer neuen Partei oder Sekte, sondern um Zusammenführung der heute in getrennten Lagern kämpfenden Sozialisten zu einem in brüderlichem Geiste geführten Meinungsaustausch«, der zum besseren Verständnis der Gegenseite und darüber zur Annäherung beitragen sollte. Diese Aufklärungsarbeit sollte durch Vorträge, Herausgabe von Flugschriften und durch regelmäßig stattfindende Versammlungen mit Referaten, Gegenreferaten und anschließender Diskussion – einer Bernstein von seinem Englandaufenthalt her bekannten Veranstaltungsform – geleistet werden.

Die Parteipresse beider Richtungen hatte zunächst nur die Meldung über die Gründung der ZfE mit Auszügen aus der Satzung gebracht und sich jeder Bewertung enthalten. Während sich der Redaktion der »Freiheit« in Erinnerung an ihre noch nicht einmal zwei Wochen zurückliegende große Pressekampagne für eine Einigung eine Stellungnahme gegen die ZfE zunächst verbot, war die abwartende Haltung des »Vorwärts« wohl aus seiner seit den Novembertagen wohlwollenden Einstellung Bernstein gegenüber zu erklären: Neben der Tatsache, dass Bernstein in all seinen Artikeln und Reden ganz entschieden

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gegen den Bolschewismus und die Politik der Spartakusgruppe bzw. der KPD zu Felde zog und stets die vorrangige Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens betonte, also Positionen vertrat, die sich vollkommen mit der Linie des MSPD-Zentralorgans deckten, spielten für dessen Haltung, wie mir scheint, in der Phase zwischen November und Mitte Februar taktische Überlegungen eine nicht unwichtige Rolle: Mit Bernsteins Namen hatte die MSPD in der Wählerschaft Stimmen aus dem Lager der pazifistisch orientierten Gegner ihrer Kriegspolitik gewinnen oder zumindest nicht verlieren wollen. Zudem suchte sie, weitere Vertreter des rechten Flügels der USPD zum Wiedereintritt in die Partei zu ermuntern. [Siehe o., Anm. 164.] Schließlich hoffte die Parteiführung, Bernsteins Wiederannäherung an die MSPD würde die internationalen Schwesterparteien, von denen sie auf der vom 3. bis 10. Februar in Bern tagenden Internationalen Sozialistenkonferenz mit schweren Anklagen wegen ihrer Kriegspolitik, möglicherweise sogar mit ihrem Ausschluss rechnen mußte, zu ihren Gunsten beeinflussen. [Zu Bernsteins Rede s.o., S. 78 f.] Zumindest dieses Kalkül ging auf: Wie solle, fragte der den Mehrheitssozialisten gegenüber sehr skeptisch eingestellte französische Sozialist Pierre Renaudel, die Internationale sich in den deutschen Parteiverhältnissen noch zurechtfinden, wie »die ihren« unter Mehrheitlern und Spartakisten erkennen?

»Et les indépendants eux-mêmes, oú sont-ils dans la confusion, que votre complicité imperiale devait nécessairement créer? Bernstein par exemple, l’autre jour, un homme parmi les plus intelligents d’entre vous tous, paraissait se rallier à vous; d’autres s’en allaient à Spartacus. Quelle situation pour l’Internationale? Comment va-t-elle en effet choisir? Il faut qu’elle vous entende tous, et vous majoritaires dans votre dèfense complète [...]« [RITTER (Hg.): Die II. Internationale (wie Anm. 37), Bd. 1, Dok. 14, S. 228f. Es war vor allem ein anderer entschiedener Kriegsgegner und politischer Freund Bernsteins, Kurt Eisner, der zwischen den jede Schuld von sich weisenden deutschen Mehrheitssozialisten Wels und Müller und der Internationale durch seine Vermittlung den Weg zur Wiederaufnahme der gemeinsamen Arbeit ebnete.]

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Die ›Rehabilitierung‹ Bernsteins fand ihren sichtbaren Ausdruck darin, dass der »Vorwärts« am 13. Februar erstmals seit der Parteispaltung wieder einen Artikel seines ehemaligen Englandkorrespondenten druckte: Ganz exponiert als Leitartikel, wenn auch mit der einschränkenden Vorbemerkung, die Redaktion könne, »solange eine befreiende Lösung nicht gefunden ist, auf den entschiedensten Kampf gegen die verhängnisvolle Politik der Unabhängigen nicht verzichten«, erschien sein Beitrag »Zur Frage der Einigkeit«. [VORWÄRTS, Nr. 81 v. 13.2.1919 [Zur Frage der Einigkeit].] In den Tagen zuvor waren die Unabhängigen Breitscheid und Hilferding mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit getreten, die die Frage der Einheit verknüpften mit der Forderung, die Räteorganisationen in der parlamentarischen Demokratie neben der Nationalversammlung beizubehalten. [Breitscheid: DIE FREIHEIT, Nr. 72 v. 10.2.1919 [Demokratie oder Arbeiterräte]; Hilferding: DIE FREIHEIT, Nr. 71 v. 9.2.1919 [Die Einigung des Proletariats]; dazu der VORWÄRTS, Nr. 74 v. 10.2.1919 [Der Ruf nach Einigung]; DIE FREIHEIT, Nr. 73 v. 10.2.1919 [Die Einigung].]
Auf die Rätefrage, die seit dem drohenden Ende dieser aus der Revolution geborenen Institution durch die Konstituierung des am 19. Januar gewählten Parlaments in den theoretischen Auseinandersetzungen zwischen MSPD und USPD zunehmend an Bedeutung gewann, ging Bernstein weder in diesem Artikel noch an anderer Stelle ausführlich ein. Statt dessen wiederholte er seine mit Lehrbeispielen aus der älteren und jüngsten Geschichte der Arbeiterbewegung angereicherte Mahnung zur Einigung und begründete diese zum einen mit »wirtschaftlichen Notwendigkeiten«, zum anderen mit dem »nicht minder wichtigen Faktor [...], der drohenden Gefahr eines Wiederaufkommens des Militarismus zu begegnen. [...] Was auch einzelne Personen

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durch Fehlgriffe dazu beigetragen haben, ihm neues Leben einzuhauchen, und solche Fehlgriffe sind in beiden Lagern zu verzeichnen, Hauptursache ist die Spaltung der Sozialdemokratie.« [VORWÄRTS, Nr. 81 v. 13.2.1919 [Zur Frage der Einigkeit; Hervorhebungen im Original]. Ebd. auch das folgende Zitat.]

Dauere die Spaltung an, würden sich Ereignisse wie die Januarunruhen wiederholen und schließlich den Militarismus wieder an die Macht bringen. Die theoretischen Differenzen müssten beiseite gelassen, statt dessen ein auf dem Boden des Erfurter Programms stehendes Aktionsprogramm von beiden Parteien beschlossen und damit die Möglichkeit zu gemeinsamer praktischer Arbeit eröffnet werden. Bernstein schließt mit dem Appell, den Streit um Personen zu unterlassen, und dem Ruf »zum gemeinsamen Kampf für die Festigung der demokratischen Errungenschaften und den sozialistischen Ausbau der neuen deutschen Republik«. Die ZfE erwähnt er in diesem Artikel nicht.

Die von Januar 1919 bis zum Ende des Sommers 1920 nachweisbare Tätigkeit der ZfE lässt sich in vier Phasen einteilen: 1. die Gründungs- und Aufbauphase von Januar bis zum 1. Sozialistentag im Juni 1919; 2. die Expansionsphase von Ende Juni bis zur gescheiterten Vermittlungsaktion der Zentralstelle im November 1919; 3. der langsame Niedergang vom Dezember 1919 bis zum Kapp-Putsch; 4. das Versinken in der Bedeutungslosigkeit seit dem Kapp-Putsch bis zum Verschwinden der ZfE im Spätsommer 1920. [Vgl. in KNOPP (wie Anm. 10) zur 1. Phase die Kapitel V.4 u. V.7, zur 2. Kap. V.8-9, zur 3. Kap. V.11-14, zu 4. Kap. VI.]

Bei der Gründung gehörten der Zentralstelle, von Bernstein abgesehen, keine über die Grenzen Berlins hinaus bekannten Sozialdemokraten an; in den ersten Wochen konnten zumindest Georg Davidsohn, für die MSPD in der Nationalversammlung und bereits auf der oben erwähnten Soldatenversammlung im Dezember an der Seite von Bernstein für die Einigung aktiv, der »Vorwärts«-Redakteur Richard Bernstein und der dem rechten

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USPD-Flügel angehörende Journalist Siegfried Nestriepke gewonnen werden. Die führenden theoretischen Köpfe der Sozialdemokratie, etwa Kautsky, Hilferding und Breitscheid, blieben der Organisation fern; eine Ausnahme bildete Ströbel, der im Mai der ZfE beitrat.

Vergleicht man die Aktivitäten der Zentralstelle im ersten Halbjahr ihres Bestehens mit dem in der Satzung verkündeten Anspruch, so fällt auf, dass die Organisation – zumindest was ihre auf öffentliche Wahrnehmung abzielenden Auftritte betrifft – von Anfang an weniger Diskussionsforum [In den einzelnen Bezirksgruppen fanden solche »Diskutierabende« durchaus statt, wie sich aus Ankündigungen in dem Verbandsorgan »Der Marxist« entnehmen läßt. – Bernstein hat hier eine intellektuelle Diskursform in die Arbeiterbewegung zu verpflanzen gesucht, doch die ZfE-Veranstaltungen scheinen im Wesentlichen im Stil der traditionellen Parteiveranstaltungen verlaufen zu sein: Versammlungen, Reden, Resolutionen.] denn Agitationsverband war. Sie veranstaltete Massenversammlungen im Stil der Soldatenversammlung vom Dezember 1918. Dadurch ergaben sich im Hinblick auf Bernsteins Konzept Probleme: Da die Zentralstelle kein detailliertes politisches Programm entwickelt, sondern sich lediglich ganz allgemein auf den Boden des Erfurter Programms gestellt hatte, zudem bewusst dezentral organisiert war und ihren Bezirksorganisationen freie Hand ließ, wurden je nach Redner politisch stark divergierende Positionen auf den Veranstaltungen vertreten. [Etwa die Bernsteins Vorstellungen nicht entsprechende Parole von der Einigung des »gesamten Proletariats« einschließlich der Kommunisten; vgl. KNOPP (wie Anm. 10), S. 282f.]
Was bei intellektuellen Diskussionsveranstaltungen hätte anregend sein können, musste bei Agitationsveranstaltungen eher verwirrend und, zumindest im Hinblick auf die von Bernstein verfolgten Ziele und die Außenwirkung der Zentralstelle, kontraproduktiv wirken.

Für den 21. bis 23. Juni 1919 – also wenige Tage nach dem Weimarer Parteitag der MSPD – hatte die ZfE zum ersten

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reichsweiten Treffen ihrer Mitglieder, dem Ersten Sozialistentag, nach Berlin eingeladen. Vergeblich hatte die Parteiführung der MSPD noch kurzfristig versucht, Bernstein »angesichts der Lage« zu einer Vertagung des Kongresses zu bewegen. [Die SPD-Fraktion in der Nationalversammlung (wie Anm. 40), Dok. 47, S. 88f. [Fraktionssitzung 18.6.1919].]
In seinem Begrüßungsartikel zu dieser Veranstaltung erläuterte Bernstein in dem zu diesem Anlass erstmals erschienenen eigenen Verbandsorgan der ZfE, betitelt »Der Marxist«, den von ihm gern verwendeten Begriff der »neutralen Tribüne« [DER MARXIST, Nr. 1 v. 21.6.1919 [Gruß dem Sozialistentag]. Ebd. auch die folgenden Zitate.] , als welche er die Veranstaltungen der ZfE verstanden wissen wollte: Voraussetzung »für jede Diskussion«, also auch für diese Konferenz, sei, wenn sie nicht ins Uferlose ausarten solle, ein abgesteckter »gemeinsamer Boden«; im konkreten Fall habe der Satz des Einladungsschreibens, dass »nur solche Delegierte [...] welche die Grundsätze des Erfurter Programms als politische Richtlinien anerkennen«, erscheinen sollten, diesen Boden vorgegeben:

»Die Wahl des Ausdrucks ›Richtlinien‹ kündigt an, daß nicht Buchstabenkultus getrieben werden soll. Es wäre widersinnig, die Entwicklung des sozialdemokratischen Gedankens in bezug auf Wirtschaft und Politik auf einmal ausgearbeitete Formel für ewig festzulegen. Aber es wäre ebenso verfehlt, auf jedwede Richtlinien von Dauer zu verzichten und die Bewegung dem Spiel der Tagesströmungen auszuliefern. Bewährtes nicht über den Haufen werfen und dem neuen Bedürfnis nicht die Tore verschließen muß der Leitgedanke der Beratungen des Sozialistentages sein.«

Der Kongress solle dem »Meinungsaustausch« dienen, weshalb Abstimmungen »in der Regel nicht stattfinden« sollten: »Wir wollen nicht majorisieren, sondern für Verständigung wirken.«

Ein Beobachter der MSPD, der der Einigung im Prinzip wohlwollend gegenüberstehende Journalist Hans Marckwald,

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gewann von der Konferenz jedoch den Eindruck einer Oppositionsveranstaltung gegen MSPD und Regierung: Die »Unterlegenen von Weimar« hätten den Sozialistentag zur Rechtfertigung ihrer auf dem Parteitag nicht mehrheitsfähigen Positionen genutzt [KNOPP (wie Anm. 10), S. 331.] , ein Eindruck, der sich auch dem heutigen Leser der Protokolle von Weimar und Berlin aufdrängt und der Bernsteins Intentionen nur schaden konnte, zu dem er selbst jedoch nicht unerheblich beitrug: So hielt er sein auf dem Weimarer Parteitag vollkommen durchgefallenes Referat zur Außenpolitik hier, im Wesentlichen unverändert, noch einmal. [Protokoll des 1. Sozialistentages (wie Anm. 62); Bernsteins Referat zur Außenpolitik ebd., S. 31-41. Zum Sozialistentag: KNOPP (wie Anm. 10), S. 316-329.] Und im Gegensatz zu der von ihm selbst erhobenen Forderung, im Regelfall auf Abstimmungen zu verzichten, ließ Bernstein im Anschluss daran seine in Weimar nicht zur Abstimmung gelangte Resolution zur Außenpolitik von den Delegierten verabschieden. [Protokoll des 1. Sozialistentages (wie Anm. 62), S. 44-46. Zur Weimarer Rede s.o., Kap. II.2.; die unglückliche Passage, die in Weimar zum Eklat geführt hatte, ließ er nun aber fort. – Man kann Bernstein jedoch immerhin zugute halten, dass die Frage der Kriegsschuld und der Politik der Mehrheitsfraktion im Krieg Auslöser und Anlass für die Parteispaltung gewesen waren und dass jedenfalls noch im Sommer 1919 eine Verständigung über diese Frage eine Grundvoraussetzung für jeden Versuch der Verständigung zwischen MSPD und USPD darstellte.]

Dass Bernsteins langfristige Zielperspektive hinsichtlich der Wiederherstellung der Einheit und die damit verbundene Konzeption des Sozialistentages als ein Gesprächsforum zum Meinungsaustausch die Erwartungshaltung der Mehrheit der Delegierten nicht befriedigte, sondern diese von der Konferenz konkrete Maßnahmen zur Herbeiführung der Einheit verlangten, brachte am dritten Verhandlungstag, als endlich das Thema »Einheitsweg« auf der Tagesordnung stand, der Antrag eines

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Mehrheitssozialdemokraten aus Bremerhaven zum Ausdruck, der zunächst konstatierte, »daß der Deutsche Sozialistentag bisher nur unfruchtbare Arbeit geleistet hat« und im Begriff sei, »weiter nur unfruchtbare Arbeit zu leisten«. [Protokoll des 1. Sozialistentages (wie Anm. 62), S. 102. Ebd. auch die folgenden Zitate.]
Eine Einigung könne »von Berlin aus nicht erreicht werden«, sondern müsse »aus dem Lande heraus kommen«. Explizit forderte er »die Intellektuellen« auf, »den Vertretern der Arbeiterschaft in diesem Sinne das Wort« zu lassen. Die Delegierten sollten Obmänner bestimmen, die in Berlin mit der ZfE »ein bestimmtes Programm der Einigung« ausarbeiten sollten, über das dann die einzelnen Bezirksvereine zu befinden hätten. Ein Referent der USPD nahm diese Anregungen sofort auf und forderte »die Bildung örtlicher Arbeitsgemeinschaften, zusammengesetzt aus allen sozialistischen Parteien«, und eine neu zu bildende »Zentrale der Arbeitsgemeinschaften«. [Ebd., S. 93.] Sein Antrag fand, da er »organisatorisch [...] als einziger reale Aktionsmöglichkeiten zu bieten« [KNOPP (wie Anm. 10), S. 327.] schien, eine überwältigende Mehrheit gegen nur zwei Stimmen. [Protokoll des 1. Sozialistentages (wie Anm. 62), S. 93.] Mit ihrer Zustimmung hatten die Delegierten der ZfE nicht nur eine zweite Einigungsorganisation an die Seite gestellt und »die künftige stete Konfliktsituation der Einigungsbewegung« [KNOPP (wie Anm. 10), S. 328.] vorprogrammiert, sondern es hatte sich ein Vertreter des linken USPD-Flügels und Anhänger eines »reinen Rätesystems« durchgesetzt, der allerdings, um die Zustimmung zu seinem Antrag nicht zu gefährden, so klug gewesen war, die Systemfrage in seinem Antrag zu umgehen.

Zahlreiche Neugründungen von ZfE-Bezirksorganisationen und Arbeitsgemeinschaften im ganzen Reich im Spätsommer und Herbst 1919 bezeugen das Bedürfnis nach Überwindung der Parteispaltung an der Parteibasis. Überregional spürbare Impulse

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gingen von ihnen jedoch nicht aus. Auf Reichsebene bedurfte es zur Wiederbelebung der Einigungsdebatte erst eines Anstoßes von außen: Hellmut von Gerlach widmete eine Oktoberausgabe seiner »Welt am Montag« der »Frage der sozialdemokratischen Einigung« und ließ die MSPD-Politiker Bernstein, Julius Kaliski, Hans Leuß und Paul Löbe sowie die USPDler Breitscheid, Kautsky und Ströbel zur Frage der Einigung Stellung nehmen. [Vier der Beiträger, Bernstein, Kaliski, Leuß und Ströbel, waren ZfE-Mitglieder, der spätere Reichstagspräsident Löbe war kein Mitglied, doch er hatte dem 1. Sozialistentag als Sympathisant beigewohnt.]
Gerlach selbst legte zunächst seine Vorstellungen dar: vor allem die Bildung gemeinsamer Ausschüsse der Reichstags- und Landtagsfraktionen, verbunden mit dem Versuch, die Arbeit der Fraktionen weitgehend zu koordinieren. [DIE WELT AM MONTAG, Nr. 41 v. 13.10.1919 [Einigung oder Katastrophe!].]

Bernstein betonte in seiner Stellungnahme, dass die Hauptschwierigkeit nicht »bei der Frage der Personen, der Führer«, liege, auch wenn sie dort meist gesehen werde. [DIE WELT AM MONTAG, Nr. 41 v. 13.10.1919 [Zur Frage der Einigung]. Ebd. auch die folgenden Zitate [Hervorhebungen im Original]. Die Beiträge und Reaktionen der sozialdemokratischen Presse zusammengefasst bei KNOPP (wie Anm. 10), S. 374-380.]
Die »viel wichtigere Frage« sei die »über die Richtlinien der grundsätzlich von der Sozialdemokratie zu beobachtenden Politik«. Es herrsche aber immer noch ein Klima der »Verhetzung und Verdächtigung, der Aufputschung hier und der dadurch verursachten Niederhaltungsmaßnahmen dort«. Den Organisationen, die geschaffen worden seien, diesen Übeln entgegenzuarbeiten, »und die sich ihr [der Aufgabe] mit freudigem Eifer unterzogen haben, der Zentralstelle für die Einigung der Sozialdemokratie und dem Ausschuß der sozialistischen Arbeitsgemeinschaften, fehlt der Beistand [...]. Was die Bewegung jetzt am nötigsten braucht, für die in weiten Kreisen der sozialistischen Arbeiterschaft ein

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dringendes – ich darf nach meiner und meiner Gleichgesinnten Erfahrung sagen, ein sehnsuchtsvolles Bedürfnis besteht, das ist ein sich der Aufgabe mit voller Kraft und mit der erforderlichen taktvollen Sachlichkeit widmendes sozialistisches Tageblatt. [...] Deutschland braucht eine sozialistische Tageszeitung, deren Leiter in bezug auf politische Sachkunde, die Ehrenhaftigkeit der Gesinnung und die Reinheit der Absichten in beiden Lagern der Sozialdemokratie wie auch in der sozialistischen Internationale allgemeines Vertrauen genießen.« Er sehe die großen finanziellen Schwierigkeiten solch eines Projekts, doch er halte sie nicht mehr für unüberwindlich.

Die sich häufenden offen antirepublikanischen Demonstrationen in Berlin und anderswo hatten nicht nur Gerlach in Alarmbereitschaft versetzt. Am 15. November reagierte Scheidemann mit einem »Der Feind steht rechts« betitelten »Vorwärts«-Artikel [VORWÄRTS, Nr. 586 v. 15.11.1919 [Der Feind steht rechts]. So war auch eine feste Rubrik im ZfE-Verbandsorgan »Der Marxist« betitelt.] auf den Aufmarsch der Rechten in der Reichshauptstadt aus Anlass der Vorladung Hindenburgs vor den Reichstagsuntersuchungsauschuss über die Ursachen des Weltkriegs. Etwa zur selben Zeit lud Bernstein im Namen der ZfE die Vorstände von MSPD und USPD zu Gesprächen »zur Herbeiführung einer gemeinsamen Front gegen die reaktionären Treibereien« [VORWÄRTS, Nr. 604 v. 26.11.1919 [Zur Einigungsfrage].] ein: die bedeutendste Initiative auf Führungsebene, die von der Zentralstelle ausgegangen ist und die am 22. November immerhin zu einem Treffen mit dem Vorstand der MSPD führte. Das USPD-Zentralkomitee verweigerte allerdings Gespräche, so dass auch diese Vermittlungsaktion, bevor sie tatsächlich begann, schon gescheitert war. [Vgl. KNOPP (wie Anm. 10), S. 388-390.]

Zwei Wochen später verständigte sich die USPD auf ihrem Leipziger Parteitag auf ein Aktionsprogramm, das die Partei nun eindeutig auf einen Linkskurs festlegte und Einigungsbemühun-

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gen mit der Mehrheitssozialdemokratie nur auf dem Boden dieses Programms zuließ. Innerhalb der ZfE häuften sich Erosionserscheinungen, und die Konfusion über Wege und Ziele der Einigungsbewegung nahm zu. [Die Konfusion kommt am deutlichsten in der im Januar 1920 in Regensburg ins Leben gerufenen neuen sozialistischen Partei mit dem Namen PVSD zum Ausdruck, die vom ZfE-Vorstandsmitglied Riebeling, dem Chefredakteur des »Marxist«, unterstützt wurde; diese Parteigründung erregte den Zorn der MSPD und widersprach vollkommen den Intentionen Bernsteins, der sich auch öffentlich distanzierte. KNOPP (wie Anm. 10), S. 411-423.]
Zudem geriet die Organisation in Finanznöte, so dass »Der Marxist« sein Erscheinen Mitte Januar 1920 einstellen mußte. [Die letzte Ausgabe des »Marxist« erschien als Nr. 29 in der dritten Januarwoche 1920, darin auf der ersten Seite ein großer, »Bernstein als internationaler Vermittler« betitelter Artikel zu seinem 70. Geburtstag, verfasst von Ströbel. – Zwar erschienen im Frühjahr 1920 noch in unregelmäßigen Abständen einige Ausgaben eines »Sozialistische Wacht. Eine neutrale Tribüne für den sozialistischen Aufbau durch die proletarische Einheitsfront« betitelten und mit dem Zusatz »Sonderausgabe des Marxist« versehenen Blattes, herausgegeben von Bernsteins ehemaligem Mitstreiter Georg Davidsohn, doch dieser vertrat nun sehr eigenwillige und abwegige Positionen. Für die Reichstagswahlen 1920 ist Davidsohn von der MSPD nicht mehr aufgestellt worden, er trat wenig später aus der Partei aus.]

Die »Einheitsfront« der deutschen Arbeiter, deren Generalstreik im März 1920 die Putschisten des so genannten Kapp-Lüttwitz-Putsches, denen die Regierung zunächst kampflos das Feld überlassen hatte, zur Aufgabe zwang, brachte neue Bewegung in die Einigungsbemühungen. Es waren nicht die sozialistischen Parteien, sondern die Freien Gewerkschaften gewesen, die das Aktionsbündnis der Arbeiter zustande gebracht hatten. Spät und nur widerwillig hatte sich die USPD-Führung in diese Front eingereiht. Noch während des Generalstreiks kam es zu einem neuen Einigungsversuch auf der Führungsebene der Parteien, angeregt von Mitgliedern der USPD und ausgeführt von

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einer Delegation der Sozialistischen Internationale unter der Leitung des belgischen Arbeiterführers Camille Huysmans, die sich zu einer Informationsreise in Deutschland aufhielt. Bernstein hat diesen Versuch tatkräftig unterstützt. Obwohl die Initiative zunächst von der USPD ausgegangen war, scheiterte sie schon im ersten Stadium an deren Parteivorstand. [KNOPP (wie Anm. 10), S. 468-470; Bericht von Otto Wels auf der Sitzung des MSPD-Parteiausschusses am 30.3.1920 in: Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses der SPD 1912-1921. ND hg. v. Dieter Dowe, Berlin/Bonn 1980, Bd. 2, S. 5 [805]. – Der Parteivorstand der USPD unter Leitung Crispiens brüskierte Huysmans geradezu mit seiner Entscheidung, in Einigungsverhandlungen nur auf der Basis des Leipziger Aktionsprogramms zu treten, nachdem zunächst zum verabredeten Treffen kein Vertreter der USPD erschienen war und man den in die Parteizentrale geeilten Huysmans über eine Stunde lang vor verschlossener Tür hatte warten lassen.]
Noch einmal versuchte Bernstein nun, die Einigung durch eine Großveranstaltung voranzubringen, und erstmals gelang es ihm, Kautsky für die ZfE als Redner zu gewinnen: sein erster und einziger öffentlicher Auftritt als Redner bei einer Massenveranstaltung in Deutschland nach dem Krieg. [Die Veranstaltung fand am 28. März im Zirkus Busch statt, vgl. DIE FREIHEIT, Nr. 95/A 52 v. 29.3.1920 [Gegen die Reaktion]; DIE WELT AM MONTAG, Nr. 13 v. 29.3.1920 [Sozialistische Einigungskundgebung]; KNOPP (wie Anm. 10), S. 491-494. Zu Kautskys Rede s.u., S. 107 f.; zu seiner sprichwörtlichen Versammlungsferne: INGRID GILCHER-HOLTEY: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie, Berlin (W) 1986, S. 253.]
Es sollte auch der letzte große öffentliche Auftritt der Zentralstelle für Einigung sein.

Ende April soll Bernstein, im Hinblick auf die bevorstehenden Reichstagswahlen am 6. Juni, noch einmal im »Vorwärts« für gemeinsame Wahllisten von MSPD und USPD geworben haben. [KNOPP (wie Anm. 10), S. 494. Den von Knopp ohne genaue Quellenangabe erwähnten »Vorwärts«-Artikel konnte ich nicht ermitteln.]
Auf Grund der vollkommen intransigenten Haltung der

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USPD vollzog Bernstein jedoch spätestens Anfang Mai eine Kehrtwendung und erklärte den Unabhängigen den Kampf: »Nachdem die Leitung der unabhängigen Partei es rundum abgelehnt hat, mit der Leitung unserer Partei wegen Verständigung im Interesse einer Einheitsfront in Verbindung zu treten, sind wir genötigt, um jedes nicht ganz sichere Mandat mit ihr zu ringen. Die Erkenntnis, daß der drohende Feind rechts steht, darf uns darüber nicht hinwegtäuschen«, schrieb er Anfang Mai 1920 an seinen Breslauer Wahlkreis, der ihm eine erneute Kandidatur angeboten hatte. Da in Berlin »wegen der verhältnismäßigen Stärke der Unabhängigen der Kampf schwerer als in Breslau« sei, habe er sich entschlossen, das Breslauer Angebot zu Gunsten einer Kandidatur im Wahlkreis Teltow-Beeskow auszuschlagen. [VORWÄRTS, Nr. 234 v. 7.5.1920 [Eduard Bernstein gegen U.S.P. Bedeutung des grundsätzlichen Kampfes]. Ebd. das folgende Zitat. – Teltow-Beeskow war der Wahlkreis Potsdam II, bestehend aus den Kreisen Teltow und Beeskow-Storkow sowie den Berliner Gemeinden Charlottenburg, Neukölln, Wilmersdorf und Bernsteins Wohnbezirk Schöneberg.]

»Die Politik der Unabhängigen ist heute fast nur Demonstrationspolitik, und obendrein noch zumeist negierende Demonstrationspolitik. Die Politik unserer Partei aber ist Aufbaupolitik, ist Politik positiven Schaffens. Und wenn die Republik die nicht hat, [...] dann geht Deutschland an innerer Zerrüttung zugrunde und unser Volk verelendet vollständig. So sehr wir daher darauf bedacht sein wollen, den Kampf nach links mit möglichster Sachlichkeit zu führen, so können wir doch uns nicht verschweigen, daß nach Lage der Dinge auch dieser Kampf notwendiger Kampf ist. Es ist ein Ringen zweier Prinzipien und Methoden der sozialistischen Politik, und von dem Ausgang dieses Ringens hängt unendlich viel für unser Volk ab.«

Als die Zentralstelle im Herbst 1920 endgültig in der politischen Versenkung verschwand, hatte das Ringen der zwei Prinzipien die USPD zerrissen: Der linke Flügel der Partei war zur

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KPD abgewandert. Auf dem Kasseler Parteitag im Oktober 1920 betonte Bernstein gegen den auch diesmal wieder vorliegenden Antrag »Ueber die Köpfe der Führer hinweg«, die MSPD habe sich nach der Revolution »vom ersten Tage ab [...] wiederholt zur Einigung bereit erklärt«. [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgehalten in Kassel vom 10. bis 16. Oktober 1920, ND Glashütten i.T. 1973, S. 60. Ebd., S. 61 die folgenden Zitate.]
Er empfahl seiner Partei, die Rumpf-USPD möglichst objektiv zu beobachten und sich gehässiger Bemerkungen zu enthalten. Man solle sich den Unabhängigen weder an den Hals werfen noch über sie herfallen: Lassen wir die Krisis sich ruhig abspielen, und lassen wir ihnen Zeit zur Selbstbesinnung; dann wird sich vielleicht auch späterhin die Möglichkeit eines Zusammengehens finden. Vergessen wir nicht: im Grunde sind wir ja doch alle eine große Familie, die zusammengehört.«

Im Übrigen sei er davon überzeugt, dass die Mehrheitssozialdemokratie »auf dem richtigen Wege« sei. Erst zwei Jahre später, unter dem Schock der Ermordung Walther Rathenaus durch Terroristen der rechtsradikalen Organisation Consul am 24. Juni 1922, schlossen sich die Fraktionen der Mehrheitssozialdemokratie und der restlichen Unabhängigen zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, der im Herbst 1922 auf dem Parteitag in Nürnberg die Wiedervereinigung beider Parteien folgte. In Bernsteins Nachlass findet sich dazu in einem Entwurf zu einer »Geschichte der deutschen Republik« der Vermerk: »24 Sept. Vereinigung in Nürnberg/Richtig aber übereilt«. [Russisches Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte/Moskau FONDS 204 OPIS 1 Bernstein, Eduard Nr. 93.]

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Exkurs: Kautsky und die Frage der Parteieinigung

Dass zu dem Zeitpunkt, als Bernstein in die alte Partei zurückkehrte, auch Kautsky der Politik der USPD äußert kritisch ge-genüberstand, auf eine öffentliche Kritik und den Aufruf zur Bildung gemeinsamer Wahllisten jedoch »wegen Bedenken Haases« verzichtete, ist bereits erwähnt worden. [Siehe o., Anm. 113.] Er blieb, wie Bernstein, nach dem Austritt der unabhängigen Volksbeauftragten als Beigeordneter im Amt und war einer der Akteure der gescheiterten Vermittlungsaktion der Unabhängigen im Januaraufstand. Für die Arbeit der Zentralstelle suchte Bernstein Kautsky jedoch vergeblich zu gewinnen. Eine Einladung, als Redner an einer Einigungsveranstaltung teilzunehmen, lehnte dieser ab, denn: »Das könnte mich in das schiefe Licht bei meinen Parteigenossen bringen, ich äugelte hinter ihrem Rücken mit der S.P.D. und das würde der Sache der Einigung mehr schaden als nützen, da ihr größtes Hindernis wohl das gegenseitige Mißtrauen ist.« [VORWÄRTS, Nr. 249 v. 16.5.1919 [Kautsky zur Einigungsfrage].]

Im Übrigen könne er sich gegenwärtig nicht engagieren, da er im Begriff sei, für längere Zeit zu verreisen. [Im Sommer 1920 war Kautsky auf Einladung der dort noch regierenden Menschewiki in Georgien.]
Seine Meinung zur Einigung, die er nun kurz darlegte, offenbart jedoch den tieferen Grund für Kautskys Zurückhaltung: Ebenso wie für Bernstein ist für Kautsky eine Vereinigung mit den Kommunisten ausgeschlossen, doch »auch mit Noske« könne er sich »schwer einigen«. [VORWÄRTS, Nr. 249 v. 16.5.1919 [Kautsky zur Einigungsfrage]. Ebd. auch die folgenden Zitate.]
Drei Richtungen gebe es in der Arbeiterbewegung: extreme Linke, extreme Rechte und das alte marxistische Zentrum, also die Parteiströmung, die bis zum Ausbruch des Krieges seit fast 30 Jahren die programmatischen Positionen der Par-

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tei bestimmt hatte und deren unbestrittener theoretischer Kopf Kautsky selbst gewesen war.

»Die Spaltung der Partei hat das marxistische Zentrum getroffen, zerrissen, und damit zur Ohnmacht verurteilt, auf der einen Seite die äußerste Rechte, auf der anderen Seite die äußerste Linke obenauf gebracht. Die Hauptsache scheint mir [...], die Elemente des Parteitums, die Rechte der U.S.P. und die Linke der S.P.D. wieder zusammenzubringen, die tatsächlich zusammengehören und die, wenn sie vereinigt sind, auch wieder die Masse um sich scharen und äußerste Rechte wie äußerste Linke auf jenes Maß reduzieren werden, indem sie nur noch kritisieren, nicht aber die Massenbewegung bestimmen können.«

In der aktuellen Situation seien »die Elemente des Zentrums« in beiden Parteien »in einer falschen Position« und machten »eine Politik mit, die sie nicht billigen«. Doch »wie diese Elemente einander zu nähern« seien, sei ihm »noch nicht klar«: »Die praktischen Schwierigkeiten sind groß, sie können nur von den Praktikern in der Bewegung, nicht von den Theoretikern überwunden werden.« [Auch in der fünf Monate später in der »Welt am Montag« geführten Einigungsdebatte (s.o., S. 100) vertrat Kautsky diese Position: DIE WELT AM MONTAG, Nr. 41 v. 13.10.1919 [Zur Frage der Einigung].]

Im Klartext bedeutete dies, etwas polemisch zugespitzt, dass der Theoretiker Kautsky sich zwar selbst die Finger durch ein Engagement für die Wiedervereinigung weder verbrennen noch schmutzig machen wollte, jedoch auf dem Führungsanspruch des gegenwärtig vollkommen machtlosen marxistischen Zentrums im Falle einer Wiedervereinigung bestand. Es bedurfte erst des Schocks des Kapp-Lüttwitz-Putsches, um Kautsky zu einem von solchen Erwägungen absehenden, allerdings nur einmaligen Engagement zu bewegen. »Schlicht, aber eindrucksvoll« habe er auf der Kundgebung der ZfE im Zirkus Busch ge-

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sprochen, berichtet »Die Welt am Montag« [DIE WELT AM MONTAG, Nr. 13 v. 29.3.1920 [Sozialistische Einigungskundgebung]. Ebd. auch das folgende Zitat. Vgl. den etwas ausführlicheren und im Wortlaut abweichenden Bericht in DIE FREIHEIT, Nr. 95 v. 29.3.1920 [Gegen die Reaktion].] : Gegenüber der neuen Regierung sei größtes Mißtrauen angebracht, es müsse mit der Sozialisierung

»endlich einmal praktisch begonnen werden. Die Koalitionsregierung ist ›ein Uebel‹, das wir nur solange ertragen können, wie wir es ertragen müssen. Unser Ziel ist eine – auf eine sozialistische Mehrheit gestützte – sozialistische Regierung. Die kann nur durch die Einheitsfront des Proletariats erzwungen werden.«

Übrigens hatte Kautsky mit seiner auf die Wiedererrichtung des marxistischen Zentrums abzielenden Strategie tatsächlich einen gewissen Erfolg: Die ›Morgengabe‹ der MSPD an die Unabhängigen war die Zusage, das im Jahr zuvor verabschiedete Görlitzer Programm zu ersetzen – der Vorsitzende der neuen Programmkommission hieß Karl Kautsky. [Dazu s.u., S. 136.] Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich Kautsky, vermutlich auch aus Verbitterung darüber, dass die Partei ihm nicht auch die Chefredaktion ihres von ihm einst mit gegründeten und bis 1917 geleiteten theoretischen Organs »Die Neue Zeit« rückübertragen hatte, längst nach Wien verabschiedet. [»Wenn ich bedenke, daß alles anders geworden wäre, wenn man Karl nach der Einigung die Neue Zeit wiedergegeben hätte, so wie es eigentlich die gesamte Internationale bestimmt erwartet hatte, so tut mir immer das Herz weh. Nie wären wir dann von Deutschland weggegangen [...]« IISG NL KARL KAUTSKY C 256 [Luise Kautsky an Bernstein am 30.11.1925]. Laut Kautsky hatte die Parteiführung ihm die Rückgabe der NZ zugesagt: SCHELZ-BRANDENBURG (wie Anm. 16), S. 388, Anm. 145 [Karl Kautsky an Friedrich Adler und Otto Bauer am 5.7.1920].]
Von der praktischen Parteiarbeit hatte er

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sich, im Unterschied zu Bernstein, ohnehin immer ferngehalten. [Zu Kautskys Rolle, seinem »Mandat des Intellektuellen«: GILCHER-HOLTEY (wie Anm. 197), S. 252-273. Diese Arbeit endet mit dem Jahr 1917, als Kautsky sein Medium »Die Neue Zeit« verliert.]

Im November 1918, unter dem Eindruck des unerwarteten Sieges der Arbeiterbewegung, hätte ein demonstrativer gemeinsamer Akt der ›großen alten Männer‹ der Partei vielleicht die Wiedervereinigung bewirken können. Eine eigenständige Organisation jedoch barg die Gefahr, wie die Geschichte der Zentralstelle zeigt, die zentrifugalen Tendenzen in der Arbeiterbewegung zu stärken statt integrativ zu wirken. Und Bernstein fehlte die Autorität, den Kurs der Zentralstelle zu bestimmen.

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III.3. Die Koalitionsfrage: eine Frage des Prinzips
(1919 – 1924)


Nicht das Bekenntnis zu Demokratie und Parlamentarismus war in der Mehrheitssozialdemokratie umstritten, wohl aber die sich in einer parlamentarischen Demokratie daraus zwangsläufig ergebende Frage, unter welchen Bedingungen die SPD zu Regierungsbündnissen mit bürgerlichen Parteien bereit sein sollte oder musste. Das Erbe der durch das Regierungssystem des Kaiserreichs erzwungenen Oppositionsrolle, des »revolutionären Attentismus« der Partei [DIETER GROH: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt a.M. u.a. 1973.] , dazu die wachsende linke Opposition von USPD und KPD, die eine Koalition mit bürgerlichen Parteien als Verrat an der Idee des Sozialismus diffamierten, schließlich die Erinnerung an die Burgfriedenspolitik der Mehrheitssozialdemokratie während des Weltkriegs belasteten – ganz abgesehen von den jeweiligen politischen Konstellationen, Perso-

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nen- und Sachfragen – von vornherein eine sachliche Auseinandersetzung um die Koalitionsfrage, doch spätestens mit jeder Wahl stand die Partei vor dieser Frage von neuem. [Zur Koalitionsfrage: ALFRED KASTNING (wie Anm. 10); WALTER EUCHNER: Sozialdemokratie und Demokratie in der Weimarer Republik, in: AfS 26 (1986), S. 148-152; WINKLER: Klassenbewegung (wie Anm. 10), S. 9-54; DERS.: Von der Revolu tion (wie Anm. 10), bes. S. 450-459, 482-501, 660-669. Kritisch zu Winkler: EBERHARD KOLB: Zwischen Parteiräson und staatspolitischer Verantwortung – Die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, in: GG 13 (1987), S. 111-116; MICHAEL RUCK: Zwischen Historisierung und Aktualisierung der ersten deutschen Republik, in: GG 19 (1993), S. 506-521.]
Schon die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919 hatten die Hoffnung auf eine sozialistische Mehrheit im neuen Staat enttäuscht.

Bernsteins Standpunkt war eindeutig. Er hatte bereits 1893 seiner Partei den Vorschlag gemacht, die auf Grund des diskriminierenden Dreiklassenwahlrechts von ihr eingenommene Boykotthaltung gegenüber den preußischen Landtagswahlen zu überdenken, sich an der Wahl zu beteiligen und um konstruktive Mitarbeit im Parlament zu bemühen, statt negative Demonstrationspolitik zu betreiben. [BERNSTEIN: Die preußischen Landtagswahlen und die Sozial demokratie. Ein Vorschlag zur Diskussion, in: NZ, Jg. 9/2, Nr. 52 (1892/93), S. 772-778.]
Und 1899 plädierte er in den »Voraussetzungen« klar und deutlich für eine Kompromisspolitik mit bürgerlichen Kräften: »Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist. [...] In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen bald die Grenzen ihrer Macht kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Umstände vernünftigerweise hoffen können durchzusetzen. Selbst wenn sie ihre Forderungen etwas höher spannen, als im Ernst gemeint, um beim unvermeid-

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lichen Kompromiß – und die Demokratie ist die Hochschule des Kompromisses – ablassen zu können, geschieht es mit Maß. [...] Das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber am Gemeinwesen, und diese virtuelle Teilhaberschaft muß auf die Dauer zur tatsächlichen Teilhaberschaft führen.« [BERNSTEIN: Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 145. Ebd. S.145 f. auch die folgenden Zitate.]

Zwar könne das allgemeine Wahlrecht einer der »Zahl und Ausbildung nach unterentwickelten Arbeiterklasse« lange Zeit lediglich als das Recht, »seinen ›Metzger‹ selbst zu wählen«, erscheinen, »mit der Zahl und Erkenntnis der Arbeiter wird es jedoch zum Werkzeug, die Volksvertreter aus Herren in wirkliche Diener des Volkes zu verwandeln«. Das allgemeine Wahlrecht sei die Alternative zum Umsturz: »Aber das allgemeine Wahlrecht ist erst ein Stück Demokratie, wenn auch ein Stück, das auf die Dauer die anderen nach sich ziehen muß, wie der Magnet die zerstreuten Eisenteile an sich zieht. Das geht wohl langsamer vor sich, wie es mancher wünscht, aber trotzdem ist es im Werk. Und die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.«

Schon im Kaiserreich hatte Bernsteins innenpolitisches Engagement in erster Linie dem Ziel gegolten, der Sozialdemokratie und ihrer Anhängerschaft ein Bewusstsein vom Wert der Demokratie, von ihren Spielregeln und Möglichkeiten zu vermitteln. Mit großer Sorge registrierte er die zunehmende Verwendung einer den Begriff der Demokratie herabsetzenden »Phraseologie« in der deutschen Sozialdemokratie seit den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919, welche den beiden sozialistischen Parteien nicht die erhoffte absolute Mehrheit gebracht hatte. Nicht nur »die ganzen, halben und viertel Schüler der bolschewistischen Doktrin«,

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sondern auch Mitglieder der Mehrheitssozialdemokratie würden inzwischen die Phrase, »daß die demokratische deutsche Republik ›nur die formale Demokratie‹ sei« [Bernstein in: VORWÄRTS, Nr. 209 v. 24.4.1919 [Formale und reale Demokratie]. Ebd. auch die folgenden Zitate. – Im Herbst 1919 sah sich Bernstein erneut veranlasst, einige Artikel dem »Wesen des Parlamentarismus und seiner Bedeutung für die Arbeiterklasse« zu widmen: VORWÄRTS, Nr. 470 v. 14.9.1919 [Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse]; Nr. 488 v. 24.9.1919 [Demokratie und Arbeiterklasse]; Nr. 527 v. 15.10.1919 [Das Kapital und die Arbeiterklasse].] , nachbeten. Es dränge sich der Eindruck auf,

»unsere ganze politische Aufklärungsliteratur der Jahrzehnte vor dem Kriege, von Lassalles Arbeiterprogramm an, sei ›für die Katz‹ geschrieben, unsere Erfahrungen in der Praxis des politischen Lebens, die uns immer stärker von dem Wert und der Bedeutung der Demokratie für den Sozialismus überzeugten, seien nur Phantasiegespinste«.

Der Begriff ›formale Demokratie‹ könne etwa auf Volksabstimmungen Napoleon Bonapartes angewandt werden, in der die Abstimmenden nicht die Möglichkeit gehabt hatten, gegen die Regierung zu stimmen, oder auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Norddeutschen Bund und später im Deutschen Reich, wo es keine Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament gegeben hat, dieses jederzeit aufgelöst werden konnte und der Kaiser als Inhaber der militärischen Kommandogewalt Preußens für militärische Verfügungen nicht der ministeriellen Gegenzeichnung seiner Anordnungen bedurfte. In der deutschen Republik liege dagegen »die reale gesetzgeberische Macht ausschließlich beim Volke und seinen gewählten Vertretern«. Begrenzt werde diese Macht allerdings durch eine »ganze Reihe sozialer Faktoren«. So könne die Republik, ebenso wenig wie sie ihren akademischen Lehrern eine demokratische Gesinnung zwangsverordnen könne, »auf wirtschaftlichem Gebiet nach völ-

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lig freiem Belieben verfahren«. [»So wenig ein gehörig ausgewachsener Apfelbaum durch gärtnerische Künste dahin zu bringen ist, Feigen zu tragen, so wenig kann der Gesetzgeber in bestimmter Denkart herangebildeten erwachsenen Leuten eine andere Denkart aufzwingen.« VORWÄRTS, Nr. 209 v. 24.4.1919 [Formale und reale Demokratie]. Die Übertragung dieses auf Lassalle zurückgehenden Analogieschlusses auf das Wirtschaftsleben ist in dieser unbestimmten Form mehr als fragwürdig.]
Durch angemessene gesetzgeberische Maßnahmen aber, etwa die Einführung des Achtstundentages und von Arbeitsschutzrechten, könne sie Beträchtliches zur Verbesserung der Situation der Arbeiter und damit zur Verwirklichung des Sozialismus leisten. Das habe sie seit der Revolution auch schon in nicht unerheblichem Umfang getan. Statt die Demokratie zu diskreditieren, müsse die Arbeiterschaft diese begreifen, annehmen und nutzen als das Mittel zur Verwirklichung der Ziele des Sozialismus, der fortschreitenden Demokratisierung der Gesellschaft und einer schrittweisen Sozialisierung der Wirtschaft. Bernstein war, seit er ›Revisionist‹ geworden war, der Überzeugung, dass die stückweise Verwirklichung des Sozialismus nur in Kooperation mit Teilen der bürgerlichen Parteien zu erreichen sei. Diese Kooperation galt Bernstein sogar als wichtiges Indiz für die jeweilige Zeitgemäßheit von sozialdemokratischen Forderungen:

»Wie immer man sich den vollendeten sozialistischen Zustand denkt, so kann doch niemand darüber im Zweifel sein, daß er mit einem großen Sprung erreicht werden, sondern nur das Ergebnis einer ganzen Kette von Maßnahmen sein kann [...]. Keine dieser Maßnahmen aber wird, keine darf unverträglich sein mit dem im betreffenden Zeitpunkt gegebenen Stand der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung. Ist sie es, dann wird sie eben fehlschlagen und die Sozialisten, die sie forderten oder erzwangen, mehr schädigen als die bürgerlichen Parteien. Für diejenigen Maßnahmen aber, die mit dem erreichten Stand der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung verträglich waren, haben sich, auch wenn sie noch so stark in die Rechte und in die

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Machtsphäre des Besitzes eingriffen, fast immer noch bestimmte Flügel der nichtsozialistischen Parteien gewinnen lassen.« [BERNSTEIN: Der Sozialismus einst und jetzt (wie Anm. 25), S. 134.]

»Wer die Demokratie als politische Lebensform bejahte, mußte Bernstein zufolge also auf absehbare Zeit vorbehaltlos ja sagen zur Koalition zwischen Sozialdemokratie und bürgerlichen Parteien.« [WINKLER: Bernstein als Kritiker (wie Anm. 19), S. 1018.] Als die MSPD zum ersten Mal vor dieser Entscheidung stand, war Bernstein, der gerade erst wieder Mitglied der Mehrheitler geworden und weder von der USPD noch von der MSPD für die Wahlen zur Nationalversammlung aufgestellt worden war, an dem innerparteilichen Entscheidungsprozess nicht beteiligt. In seiner im Winter 1920/21 verfassten Revolutionsdarstellung begrüßte Bernstein jedoch ausdrücklich die Bildung der Weimarer Koalition. So bedauerlich das Nichtzustandekommen einer sozialdemokratischen Mehrheit »vom Parteistandpunkt der Sozialdemokratie aus« gewesen sei, so dürfe man »bei Abschätzung ihrer Tragweite für die Entwicklung und Befestigung der Republik doch folgendes nicht vergessen«:

»[...] Die Republik konnte wohl mit bestimmten bürgerlichen Parteien und Klassen, nicht aber mit allen den Kampf aufnehmen, ohne sich in eine unhaltbare Lage zu bringen. Sie konnte die große, auf sie gefallene Last nur tragen, wenn sie erhebliche Teile des Bürgertums an ihrem Bestand und ihrer gedeihlichen Entwicklung interessierte. Selbst wenn die Sozialdemokratie bei den Wahlen zur Nationalversammlung die ziffermäßige Mehrheit erhalten hätte, wäre die Heranziehung der bürgerlichen Parteien zur Regierung ein Gebot der Selbsterhaltung der Republik gewesen. Sie war aber auch zugleich eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland als Nation.« [BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 268f. [Hervorhebungen im Original].]

Die Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 brachten der Weimarer Koalition aus MSPD, Zentrum und DDP eine herbe Nieder-

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lage. Einzig das Zentrum hatte nur leichte Verluste zu verzeichnen. Die MSPD verlor gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlung 16,2% der Stimmen und kam nur noch auf 21,6%. Die USPD dagegen konnte ihren Stimmenanteil um 11% auf nun 18,6% mehr als verdoppeln; zusammen verfügten die beiden sozialdemokratischen Parteien im Reichstag über 194 von 466 Sitzen. Die KPD, die auf Reichsebene zum ersten Mal angetreten war, kam auf nur 1,7%. Kräftig gewonnen hatte – auf Kosten der DDP, die 10% verlor – die rechtsbürgerliche DVP, die ihr Ergebnis von 4,4% auf 13,9% verdreifachte. Ebenfalls zulegen konnte die nationalistische DNVP, die sich um 3,1% auf jetzt 14,4% verbesserte. Für die Weimarer Koalition aus MSPD, Zentrum und DDP, die bisher über 310 Sitze im Parlament verfügt hatte, bedeutete das den Verlust der Mehrheit, sie verfügte nur noch über 225 der 466 Sitze. Für eine Mehrheitsregierung mußte also entweder die USPD oder die DVP an der Regierung beteiligt werden.

Am 13. Juni fand eine gemeinsame Sitzung von Parteivorstand, Parteiausschuss und Reichstagsfraktion der MSPD statt. Auch Bernstein, dessen Wahlkreis Potsdam II allerdings – ebenso wie die Kreise Berlin und Potsdam I – an die USPD gegangen war [In Bernsteins Wahlkreis Potsdam II errang die USPD 29,7%, die MSPD nur 17,4%; s. MILLER: Bürde (wie Anm. 10), S. 413.] , gehörte der neuen Reichstagsfraktion an und nahm an der Sitzung teil. Zur Debatte standen »die politische Situation und die parlamentarische Taktik«, konkret hieß das: Regierungsbeteiligung oder Opposition. [Protokoll über die gemeinsame Sitzung des Parteivorstandes, des Parteiausschusses und der Reichstagsfraktion. Berlin den 13. Juni 1920, in: Protokolle Parteiausschuß (wie Anm. 196), Bd. 2, S. 1-21 [943-963]. Die folgenden Redebeiträge: Bartels: S. 1f. [943f.], Müller: S. 2-9 [944-951], Bernstein: S. 10f. [952f.], Krüger: S. 12f. [954f.], David: S. 13f. [955f.], Scheidemann: S. 15f. [957f.], Wels: S. 16-18 [958-960], Bartels: S. 20f. [962f.]. – Die von David gebrauchte Wendung »Unverstand der Massen [...]« geht auf eine Zeile aus der zur Totenfeier Lassalles 1864 verfassten Arbeitermarseillaise zurück.]
Friedrich Bartels, stellver-

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tretender Parteivorsitzender, betonte, die MSPD sei immerhin stärkste Partei geblieben, die Frage sei nun, welche Verpflichtungen sich aus dieser »Machtposition« ergäben. Dann sprach der noch amtierende Reichskanzler Hermann Müller, der nach der schroffen Absage des USPD-Vorsitzenden Crispien am 12. Juni dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert das Mandat zur Regierungsbildung zurückgegeben hatte: »Nicht zum Vergnügen«, sondern mit dem Bewusstsein, »daß das ohne Verluste nicht abgehen würde«, sei die Partei nach den Wahlen im Januar 1919 die Koalition mit bürgerlichen Parteien eingegangen. »Wir mußten damit rechnen, daß die Unzufriedenheit über die Politik, die die Koalitionsregierung betrieben hat und die sie treiben mußte, der Opposition sowohl von rechts als auch links gewisse Früchte tragen würde.« Die MSPD sei zwar noch stärkste Partei, ihr Einfluss jedoch »für die nächste Zukunft ganz bedeutend zurückgedrängt«. Die Rechte reklamiere für sich den Wahlsieg, »infolgedessen hat sie die moralische Verpflichtung, auch diesen Sieg auszunutzen, und ich glaube, wir wären unklug, wenn wir unsererseits etwas täten, ihr diese Aufgabe in der gegenwärtigen Situation zu erleichtern«.

Der entscheidende Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit mit der DVP sei deren »nationalistische« Haltung zur Außenpolitik. Es bleibe der SPD also nur der Gang in die Opposition, denn in einer Koalition mit der Deutschen Volkspartei, mit Leuten wie Gustav Stresemann und dem Großindustriellen Hugo Stinnes, würde die MSPD niemals politische Ziele wie die Sozialisierung des Bergbaus oder »die Beschneidung der Gewinne der Kohlenmagnaten« verwirklichen können: »Wir müßten tatsächlich dreimal den Sozialismus verleugnen, ehe der Hahn gekräht hat – das wäre der Selbstmord der Sozialdemokratischen Partei.«

Bernstein, der im Anschluss am Müller das Wort ergriff, hielt eine Koalition mit der DVP auf Grund ihrer außenpolitischen

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Haltung ebenfalls für unmöglich. Den Schlussfolgerungen Müllers mochte er jedoch nicht folgen, sondern plädierte statt dessen für die Bildung einer Minderheitsregierung aus MSPD, Zentrum und DDP: »Gewiß ist die Regierung, die keine sichere Mehrheit im Parlament hinter sich hat, dauernd in einer prekären Lage. Aber vergessen Sie nicht, daß wir keine einheitliche Opposition gegen uns haben, sondern zwei ganz verschiedene Richtungen (Zuruf: Die oft zusammen!), die wahrscheinlich nicht so leicht zusammengehen werden.«

Müller unterschätze die Schäden, die eine rein bürgerliche Koalitionsregierung nach sich ziehen werde, denn nicht mit »reaktionären Maßnahmen und [...] Gesetzen« werde eine Rechtsregierung ihre Arbeit beginnen, dazu wäre sie »viel zu klug«, sondern damit, den Beamtenapparat wieder fest in den Griff zu bekommen, »und das bißchen Aufräumen im Beamtenkörper, das unsere Minister in schwerem Kampfe nach und nach durchgesetzt haben, würde wieder vollständig ungeschehen gemacht«. Bernstein setzte darauf, dass auch im Zentrum das »Arbeiterelement« stark genug sein werde, um sich gegen eine Allianz aus Demokraten, Zentrum und Deutschnationalen »ganz energisch aufzubäumen«. Zudem ging er davon aus, dass der neu gewählte Reichstag nicht lange Bestand haben werde: Überlasse man die Regierung der Rechten, dann könne diese einen für sie günstigen Termin für Neuwahlen festsetzen. Zwar könne er es allen Regierungsverantwortlichen aus der Partei nachfühlen, »wie sehr sie den Wunsch haben, aus der verantwortlichen Stellung zeitweilig herauszukommen und nicht Objekt böswilliger und stupider Kritik zu sein«, doch vor allem wegen der für Anfang Juli anberaumten Konferenz zwischen den Alliierten und Deutschland in Spa dürfe die Partei nicht aus der Regierung ausscheiden, denn einer Rechtsregierung würden sehr viel härtere Bedingungen auferlegt werden »als uns«: »Wir haben, wenn nicht den Regierungen, so doch den Völkern gegenüber ein ganz anderes Gewicht als die Rechtsparteien. Wir müssen alles tun, um ein sol-

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ches Unglück zu verhindern, und die Wähler werden das verstehen.«

Und schließlich begründete er, warum ihn das Wahlergebnis »geradezu begeistert« habe: »Wieviel Verständnis muß heute ein Arbeiter haben, um für unsere Politik zu stimmen, wieviel muß er dabei vergessen, wieviel in Kauf nehmen. Wenn trotzdem 5 ½ Millionen Arbeiter uns gewählt haben, so ist das im höchsten Grade ermutigend, nicht entmutigend. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn die, die alles herunterreißen und alles versprechen, die Mehrheit bekommen hätten.«

Eindringlich appellierte er an die Partei: »Wir haben im Wahlkampf ein Plakat verbreitet, auf dem ein Kind stand; darunter: Schützt die Republik! Und jetzt sollen wir die Republik den Rechtsparteien ausliefern!? Ich kann nicht dringend genug davor warnen.«

Fast einhellig stieß Bernsteins Plädoyer auf Ablehnung: Der Berliner MSPD-Vorsitzende Franz Krüger meinte, die bisherige Koalition fortzusetzen würde bedeuten, »daß wir das Interesse der Republik über das Interesse der Partei stellen sollen«, was in dem Augenblick »zum Unsinn« werde, »wo durch sie die Partei zerrieben wird und nichts übrig bleibt, was für Volksinteresse und republikanisches Interesse zur Geltung gebracht werden soll«. David wollte jedes einzelne von einem Sozialdemokraten besetzte Amt »als Machtposition verteidigt« sehen, um die Gefahr des Rechtsrucks im Beamtenapparat zu begrenzen. Schuld am Wahlausgang habe »der Unverstand der Massen, der alte Feind«. Scheidemann, der den Wahlausgang ungünstiger bewertete als Müller und Bernstein, konnte sich eine Minderheitsregierung in Deutschland, wo »alles derart jung« sei, nicht recht vorstellen. Zur Entscheidung zwischen Koalitions- oder Oppositionsrolle befand er, politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten würden so oder so entstehen: »Sind wir drin, so werden wir zerschlagen. Draußen stehen wir schlagfertig zur Verfügung.« Deshalb solle die Partei »nicht in die Regierung gehen, aber

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auch keinen Beschluß fassen, der es uns für die Zukunft schwer machen würde, an einer Regierung teilzunehmen«.

Der Parteivorsitzende Otto Wels sah in dem Wahlausgang für die Partei »die letzte Gelegenheit [...], aus dem Konkurs des Alten herauszukommen, das schwindende Vertrauen der Arbeiter wieder zu gewinnen.« Nun sei die Stunde gekommen, dem deutschen Volk wirkungsvoll vor Augen zu führen, »was die sozialdemokratische Partei im politischen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands bedeutet«. Sie sei »das Kernstück der politischen Parteien, das Kernstück im deutschen Volke«. Dem linken Flügel der Unabhängigen könne die Partei zudem nun beweisen,

»daß wir nicht an der Macht, soweit sie sich durch Besetzen von Ministerposten ausdrückt, hängen. Die tatsächliche reale Macht bleibt doch in unseren Händen, wenn wir das Vertrauen der Arbeiterschaft behalten.«

Wels verstieg sich gar zu der Erwartung, dass die MSPD in der Opposition von den bürgerlichen Parteien »sorgfältiger und vorsichtiger« behandelt, dass »auf ihre politische Stellungnahme viel stärker Rücksicht genommen« werde, »als wenn sie in Koalition mit der deutschen Volkspartei stände«. Nur der Lübecker Abgeordnete Bromme unterstützte Bernstein: Die SPD habe sich ihren Wählern als »Partei des Wiederaufbaues« empfohlen; wer sie gewählt habe, habe sie gerade deshalb nicht gewählt, und in die Opposition könne die Partei nun nicht mehr zurück, ohne sich »ins Schlepptau der Unabhängigen« zu begeben. Als Fazit der Debatte fasste Bartels die mit einigen Abweichungen ziemlich einmütige Meinung in drei Punkten zusammen: Eine Fortsetzung der bisherigen Koalition sei wegen des Wahlausgangs nicht möglich; ein Linkskabinett könne wegen der Haltung der Unabhängigen nicht gebildet werden; deshalb werde die MSPD »es den Rechtsparteien überlassen, ohne uns eine Regierung zu bilden«.

Für den Weg, den Bernstein seinen Fraktionskollegen aus dem Dilemma, in das die Partei durch den Ausgang der Wahlen geraten war, offerierte, war sie nach den bisherigen Erfahrungen

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in der Regierung und dem erheblichen Stimmenverlust bei den Wahlen nicht zu haben. [Gegen sechs Stimmen – neben Bernstein, Bromme und David auch Otto Braun, Carl Severing und Wilhelm Keil – entschied sich die Konferenz gegen eine Fortsetzung der bisherigen Koalition. KASTNING (wie Anm. 10), S. 58.]
Sie fühlte sich für die von ihr übernommene Regierungsverantwortung zu Unrecht bestraft. Während sich die Parteiführer der Hoffnung hingaben, dass dieses Schicksal auch die Rechtsparteien ereilen würde, sobald diese an der Regierung beteiligt würden, hatte Bernstein ein Kernproblem der mehrheitssozialdemokratischen Politik, das ein Problem jeder Reformpartei ist, deutlich benannt: Die Anhängerschaft der Mehrheitssozialdemokratie erwartete von ihrer Partei nicht, dass sie Strukturen erhalten, sondern dass sie Strukturen verändern werde. Doch diese grundsätzlich zu Recht bestehende Erwartung war nicht leicht zu erfüllen. Bernstein sprach – wenngleich er seine Feststellung etwas zu euphemistisch einleitete – das sich aus diesem Umstand ganz objektiv ergebende Vermittlungsproblem zwischen Führung und Basis offen aus, während David seiner Enttäuschung mit der alten Formel vom »Unverstand der Massen« Luft machte. Auch das neue Staatsverständnis, das Bernstein seit der Revolution immer wieder angemahnt hatte, die unbedingte Identifizierung der Partei mit der Republik, hatte sich in der Mehrheitssozialdemokratie noch nicht so weit durchgesetzt, wie Bernstein es für nötig hielt. Bei der Abwägung zwischen Schaden für den Staat und Schaden für die Partei zogen die Genossen mehrheitlich Ersteres Letzterem vor. Schließlich war auch die ›Hoffnung‹ auf die Wirtschaftskrise kurzsichtig, denn Sanierungsmaßnahmen einer rechtsbürgerlichen Regierung würden in erster Linie zu Lasten der kleinen Einkommen, also der potenziellen Anhängerschaft der Sozialdemokratie, gehen. Was die MSPD sich nicht zugetraut hatte, taten die bürgerlichen Parteien: Sie bildeten unter der Führung des Zentrumspolitikers Konstantin Fehrenbach am 25. Juni 1920 ein Minderheitskabinett aus Zentrum, DDP und DVP. Den Handlungsspielraum, den

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sich die MSPD von ihrer Oppositionsrolle versprochen hatte, verschaffte ihr die Abstinenz von der Regierung also nicht, denn sie musste, sollte die Republik regierbar bleiben, diese Regierung dulden.

Als im Mai 1921 das Kabinett Fehrenbach unter der Last des Reparationsproblems und der Kämpfe zwischen Deutschen und Polen in Oberschlesien zurücktrat, kam es zu der von Bernstein ein Jahr zuvor empfohlenen Bildung einer Minderheitsregierung aus Zentrum, DDP und MSPD unter der Leitung des Zentrumspolitikers Joseph Wirth. Doch die Instabilität dieses Kabinetts und die Situation in Preußen, wo die MSPD nach den Wahlen im Februar 1921 ihre Macht verloren hatte, ließen in der Partei Überlegungen zur Bildung einer Großen Koalition – also unter Beteiligung auch der DVP an der Regierung – lauter werden. Zur Aussprache darüber kam es auf dem folgenden SPD-Parteitag im Herbst 1921 in Görlitz. Als entschiedene Befürworter der Großen Koalition traten Hermann Müller, der ehemalige (und zukünftige) preußische Ministerpräsident Otto Braun und Bernstein auf. Sie konnten sich mit dieser Position schließlich durchsetzen, der Parteitag machte den Weg mit 290 gegen 67 Stimmen frei für ein Koalitionsbündnis auch mit der DVP. [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgehalten in Görlitz vom 18. bis 24. September 1921, ND Glashütten i.T. 1973, S. 207f. (Abstimmungsergebnis). Die folgenden Zitate von Bernstein ebd., S. 181f. [Hervorhebung im Original].]
Am eindringlichsten hatte Bernstein die Notwendigkeit, die DVP an der Regierung zu beteiligen, begründet: »Die Republik hat große Aufgaben zu erfüllen. Die Deutsche Volkspartei hat eine soziale Macht, sie ist eigentlich die Partei der deutschen Bourgeoisie. Hinter ihr steht die deutsche Finanz, die deutsche Großindustrie und die Intelligenz in Deutschland. Wir müssen versuchen, diese Partei an den Wagen der Republik zu spannen.«

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Eine Nichtbeteiligung der MSPD an der Regierung im Reich und in Preußen – dies sei nämlich mittelfristig die wahrscheinliche Folge einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit der DVP – würde »für die Republik eine Katastrophe bedeuten. Die ganze Arbeiterschaft würde sich anders zur Republik stellen als gegenwärtig und die Gegensätze würden sich in unerwünschter Weise verschärfen.« Auch fehlt nicht Bernsteins außenpolitisches Argument, dass das Ansehen der Republik im Ausland von der Regierungsbeteiligung der MSPD abhänge. Sie würde zwar »agitatorisch gewinnen«, wenn sie in der Opposition säße, doch sie bringe »das Opfer dieses Vorteils«. Anders die USPD, die zwar ebenfalls auf dem Boden der Republik stehe und bereit sei, »sie zu verteidigen, wenn ihr das Messer an der Kehle sitzt. Aber ihr die Mittel zum Leben zu bewilligen, dazu hat sie sich noch heute nicht entschlossen.« Würde auch die USPD in die Große Koalition eintreten, dann wäre der Anteil von Sozialisten und Bürgerlichen in der Koalition etwa gleich stark. Solange die USPD sich zu solch einem Schritt aber nicht entschließen könne, sehe er, Bernstein, keine Möglichkeit zur Wiedervereinigung. [Am 5. November wurde in Preußen die Große Koalition unter dem Ministerpräsidenten Otto Braun gebildet. Im Reich allerdings zeigte die DVP in Finanz- und außenpolitischen Streitfragen so wenig Entgegenkommen, dass die Erweiterung der Regierung nach rechts vorerst unterblieb.]

Dass die USPD sich zu solch einem Schritt nicht entschließen wollte, bekräftigte sie auf ihrem Parteitag vom 8. bis 12. Januar 1922 in Leipzig. Der Parteitag erhob, gegen den Willen der moderaten Kräfte um Breitscheid, Hilferding und den neu gewählten Parteivorsitzenden Wilhelm Dittmann, die Ablehnung der Koalitionspolitik zum Programm: Das »Leipziger Manifest« proklamierte eine »klare Klassenkampfpolitik [...], frei von jedweder Regierungskoalition mit bürgerlichen Parteien«. [10. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages in Leipzig vom 8. bis 12. Januar 1922, in: Protokolle USPD (wie Anm. 62), S. 5.]

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Bernstein wies diesen Standpunkt Anfang Januar 1922 in einem »Vorwärts«-Artikel scharf zurück. [VORWÄRTS, Nr. 29 v. 18.1.1922 [Leipzig und wir]. Inhaltlich die gleiche Argumentation wie in dem im Folgenden referierten Aufsatz »Klassenkampf und Koalitionspolitik«.]
Mitte September desselben Jahres, als der Vereinigungsparteitag zwischen Mehrheitlern und Unabhängigen unmittelbar bevorstand, sah sich Bernstein erneut genötigt, die Argumentation der Koalitionsgegner, die vor allem in den Reihen der Unabhängigen, aber auch in der eigenen Partei zu finden waren, zu widerlegen. In einem »Klassenkampf und Koalitionspolitik« betitelten Aufsatz betonte er zunächst, Marx und Engels hätten sich zu ihrer Zeit »geflissentlich« jeden Versuchs enthalten, in die konkrete Politik der Partei hineinzureden, sondern lediglich auf Wunsch Ratschläge erteilt. [BERNSTEIN: Klassenkampf und Koalitionspolitik, in: DIE GLOCKE, Jg. 8/1, Nr. 25 (18.9.1922), S. 649-653, Zitat S. 650. Ebd. S. 650 ff. auch die folgenden Zitate.]
Zwar habe die Koalitionsfrage damals noch nicht zur Debatte gestanden, doch hätten sich die Gründerväter des wissenschaftlichen Sozialismus wiederholt für Wahlbündnisse mit bürgerlich-radikalen Parteien ausgesprochen. Die Behauptung, eine Koalition mit bürgerlichen Parteien stehe in grundsätzlichem Widerspruch zum Prinzip des Klassenkampfes, sei also falsch. Zwar dürfe die SPD, weil sie eine »ihrer ganzen Lage nach oppositionell gerichtete Klasse« vertrete, das Opfer einer Koalition nur bringen, wenn politische Notwendigkeiten es ihr zur Pflicht machten. Es sei jedoch vollkommen verfehlt, Koalitionsentscheidungen als rein taktische Fragen zu betrachten, denn ob eine politische Handlung bloß taktischer Natur sei, entscheide die voraussichtliche Tragweite ihrer Wirkung. Da im konkreten Fall eine sozialdemokratische Mehrheit weder vorhanden noch für die nächste Zeit zu erwarten sei, handle es sich nicht um die vorteilhafte Ausnutzung einer bestimmten politischen Konstellation, sondern um die Alternative zwischen einer Koalitionsregierung von SPD und bürgerlichen Parteien oder

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einer rein bürgerlichen Regierung, welche unweigerlich nach rechts tendieren und »der Republik großen Abbruch« tun werde. Differenzierend zwischen dem »sozialen«, innenpolitischen und dem »nationalen«, außenpolitischen Interesse erläuterte Bernstein: Das Verhältnis der Arbeiterklasse zur Republik, ob sie sich »als mitbestimmendes und verantwortliches Element im Staat fühlt und verhält«, hänge ab von der Stellung, welche die Regierung zur Republik einnehme; und von der Haltung der deutschen Regierung zur Republik hänge das Wohlwollen der übrigen Demokratien, Arbeiterparteien und ausländischen Pazifisten gegenüber Deutschland ab. Die Forderung von Teilen der Unabhängigen, sich in der Koalitionsfrage dogmatisch festzulegen, sei also ebenso falsch wie die Behauptung, es handle sich hier nur um eine »Frage der Taktik nach Augenblickskonstellationen«.

Bernsteins unermüdliche Aufklärungsarbeit konnte nicht verhindern, dass der Wiedervereinigung der Partei fast umgehend die Rückkehr in die Opposition folgte. Die bürgerlichen Koalitionsparteien hatten den Machtzuwachs des sozialdemokratischen Partners durch Einbeziehung der DVP in die Koalition ausgleichen wollen; der Reichskanzler Wirth drohte mit Rücktritt, falls die SPD sich dieser Forderung verweigere. Diese kam der DVP in Vorverhandlungen zunächst auch weit entgegen, doch bei der entscheidenden Abstimmung in der Reichstagsfraktion stimmten drei Viertel der Fraktionsmitglieder gegen die Große Koalition. Wirth trat zurück. Die neue bürgerliche Minderheitsregierung unter der Leitung des parteilosen Generaldirektors der Hamburg-Amerika-Linie Wilhelm Cuno brachte nicht nur den von Bernstein befürchteten Rechtsruck, sondern war, so hat Alfred Kastning die Bildung dieses aus bürgerlichen Ministern und einigen so genannten parteilosen »Fachleuten« zusammengesetzten Kabinetts bewertet, »der erste sichtbare Schritt zur Flucht aus dem Parteienstaat«. [KASTNING (wie Anm. 10), S. 110.]

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Bernstein übte ein Jahr später sehr deutliche Kritik an der Fraktionsentscheidung [BERNSTEIN: Die neuesten Regierungskrisen und die Mission der Sozialdemokratie, in: DIE GLOCKE, Jg. 9/1, Nr. 37 (10.12.1923), S. 911-918.] , zunächst hat er sie jedoch als eine durch die Politik der bürgerlichen Parteien erzwungene Maßnahme gerechtfertigt. In einem sich mit dem ausbleibenden Protest der europäischen Regierungen gegen die französische Ruhrbesetzung beschäftigenden Artikel setzte er sich kritisch mit der Auffassung des Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster auseinander. Der in München lehrende Pädagogikprofessor, der von Eisner zum Gesandten Bayerns in der Schweiz ernannt worden war, kritisierte aus einer radikal ethischen Position heraus die deutsche Kriegs- und Nachkriegspolitik und gab Deutschland auch die eigentliche Schuld an der Ruhrbesetzung, da es seinen Reparationsverpflichtungen nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sei. [BERNSTEIN: Wie gewinnt man das Ausland, in: DIE GLOCKE, Jg. 8/2, Nr. 47 (19.2.1923). S. 1192-1199. Die folgenden Zitate ebd., S. 1196f. – Foerster war Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift »Die Menschheit«. Explizit kritisiert Foersters Gesinnungsethik Max Weber: DERS.: Politik als Beruf (wie Anm. 51), S. 240f.]
Man könne der deutschen Regierung nicht mangelnden Willen, wohl aber »die mangelnde Entschlußkraft, in eine sich deutlich abzeichnende verhängnisvolle Entwicklung rechtzeitig mit durchgreifenden Abwehrmaßnahmen energisch einzugreifen«, vorwerfen. Dies gelte nicht nur für das amtierende Kabinett Cuno, sondern auch für die Endphase der Regierung Wirth und sei der Hauptgrund für den Austritt der SPD aus dieser Regierung gewesen. Die Sozialdemokratie sei nicht, wie Foerster behaupte, »aus der Regierung hinausdrangsaliert worden«. Die bürgerlichen Parteien einschließlich der DVP wären im Gegenteil »nur zu froh gewesen«, hätte die SPD mit ihnen koaliert: »Aber sie lehnte das ab, weil sie sich sagte, daß sie die Verantwortung für die Halbheiten der Koalitionspolitik nicht auf

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sich nehmen könne, und die Tatsachen haben dieser Voraussicht leider Recht gegeben.«

Als die ein halbes Jahr später, im August 1923, gebildete Große Koalition unter der Führung Stresemanns im November desselben Jahres zerbrach, hatten sich erneut die Parteilinke und der zu ihrem Wortführer avancierte ehemalige Vorsitzende der KPD und enge Vertraute Rosa Luxemburgs, Paul Levi, mit ihrer Ablehnung der Regierungsbeteiligung durchgesetzt. [Zum Einfluss der Linken in der Partei: GÜNTER ARNS: Die Linke in der SPD-Reichstagsfraktion im Herbst 1923, in: VfZ 22 (1974), S. 191-203.]
Bernstein hielt, wie er an Kautsky schrieb, in Anbetracht der Haltung der ehemaligen Unabhängigen und der »bodenlosen Oberflächlichkeit ihrer Argumente«, eine »neue Spaltung der Partei« nicht für ausgeschlossen. [IISG NL KARL KAUTSKY D V 522 [Brief Bernsteins an Kautsky v. 8.12.1923].]
Noch einmal legte er seine Auffassung zur Koalitionsfrage ausführlich dar [BERNSTEIN: Die neuesten Regierungskrisen (wie Anm. 229). Die folgenden Zitate ebd., S. 911-915.] und bilanzierte die in den vergangenen drei Jahren gemachten Erfahrungen der Sozialdemokratie in Regierung und Opposition: Nach jedem Regierungsaustritt habe sich die Stellung der Sozialdemokratie bei ihrem Wiedereintritt verschlechtert. Zum aktuellen Anlass räumte er ein, »kein objektiv Denkender« könne bestreiten, dass für die Entscheidung der SPD-Fraktion »eine sehr große Provokation vorlag«, eine Unterstützung der Regierung hätte unter den gegebenen Bedingungen, vor allem der Beibehaltung des militärischen Ausnahmezustandes, »einen politischen Selbstmord« bedeutet. Als »grundsätzliche Kundgebung« gegen die Aufrechterhaltung des militärischen Ausnahmezustandes sei die Entscheidung der Fraktion nicht anfechtbar, doch »parlamentarische Abstimmungen sind nur ausnahmsweise Akte, bei denen es mit Kundgebungen von Grundsätzen getan ist«. Nun hielt Bernstein seiner Partei ihre ganze bisherige Politik in der Koalitionsfrage vor: Zu

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spät habe sie sich mit der möglichen Notwendigkeit einer Regierungsbeteiligung der DVP auseinander gesetzt, dann ihre Forderungen für eine Zusammenarbeit so hoch geschraubt, dass es im Herbst 1921 zu echten Verhandlungen mit der DVP gar nicht erst gekommen sei. Am verhängnisvollsten sei jedoch die Fraktionsentscheidung gewesen, die zum Sturz des Kabinetts Wirth geführt hatte: »Ohne den Fall Wirths und den Austritt der Sozialdemokratie aus der Koalition wäre Deutschland möglicherweise der ganze Ruhreinbruch mit seinen furchtbaren Folgen erspart geblieben.«

Denn in den demokratischen Kreisen des Auslands sei das Kabinett Wirth außerordentlich populär gewesen, wie »jeder Ausländer« bestätigen werde. »Angesichts dieser Popularität ist Herr Poincaré, solange das Kabinett Wirth bestand, weislich davor zurückgeschreckt, gegen Deutschland mit Gewaltmaßnahmen vorzugehen.«

Auch wenn Bernstein ausdrücklich betont, dies sei »keine aus der Luft gegriffene Spekulation«: Neben seinem moralischen Appell an die »Mission der Sozialdemokratie« als die »berufene Hüterin der Republik« bringt er nur kontrafaktische Argumente vor. So behauptet er auch, die Stellung der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder gegenüber den in der Regierung vertretenen Volksparteilern wäre schon deshalb in einem Kabinett Wirth eine wesentlich bessere gewesen, als sie es unter Stresemann war, da die Sozialdemokraten 1921 die »Eingesessenen« gewesen wären, während die Volkspartei sich »als Neuhinzugekommene [hätte] einfügen« müssen.

Für die von ihm geforderte Politik einer Regierungsbeteiligung auch um einen sehr hohen Preis zum Schutz der Republik hatte Bernstein, über dieses »Pflichtgebot« hinaus, nur seine Hoffnung in Anschlag zu bringen, dass sich durch eine vernünftige Außenpolitik die außenpolitische Lage Deutschlands bessern und in der Folge dann auch die innenpolitische Situation entspannen würde. Für diese Hoffnung, die er aus seiner positiven und idealisierenden Einstellung gegenüber den westlichen

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Demokratien speiste, war Bernstein bereit, sehr weitgehende Zugeständnisse an bürgerliche Koalitionspartner in Kauf zu nehmen. Mit dieser Hoffnung aber ließen sich für die SPD keine Wahlen gewinnen.

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III.4. Bernstein: ›Vater‹ des Görlitzer Programms? (1920/21)

Das Protokoll des Kasseler Parteitags der MSPD von 1920 vermittelt den Eindruck, als sei es Bernstein gelungen, aus seiner Außenseiterrolle innerhalb der Partei herauszutreten. Seinen Redebeiträgen ist weniger der kämpferische Eifer, der diese sonst oft auszeichnet, als eine für ihn ungewöhnliche Gelöstheit und Gelassenheit anzumerken. [Vgl. das folgende Zitat, die oben, S. 105 zur Einigungsfrage zitierte Passage und: Protokoll PT Kassel (wie Anm. 200), S. 58-60, 104-106, 216-218.]
Nachdem ihn der Parteitag gegen den ausdrücklichen Willen des Vorstands in die mit der Neufassung des Parteiprogramms beauftragte Kommission gewählt hatte, klingt auch ein wenig Genugtuung mit in seiner Erwiderung auf die Bemerkung Adolf Brauns, er sei der »Vater des Revisionismus« [Brauns Vorbehalte, Bernstein in die Programmkommission zu wählen: Protokoll PT Kassel (wie Anm. 200), S. 195f. Das folgende Bernstein-Zitat ebd., S. 218.]:

»Ich will meinen Teil Vaterschaft nicht ableugnen, muß aber in aller Bescheidenheit hinzufügen: es waren der Väter ihrer mehr. (Heiterkeit) Der große Revisionist war indes die Zeit, die allgemeine Entwicklung, und heute stehen wir alle auf neuem Boden. Wir alle haben Auffassungen, die wir früher hatten, revidiert. (Zuruf Dr. Brauns: Auch durch die Revolution!) Selbstverständlich. Die Dinge haben sich entwickelt und haben uns manches anders anschauen gelehrt. Wir sind den Tatsachen erheblich nähergetreten, die wir aus der Ferne sahen, und nun ist das Bild,

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das sie gewähren, ein anderes. Das muß in unserem Programm mit aller Klarheit zum Ausdruck kommen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)«

Das Programm, das die MSPD auf dem folgenden Parteitag im September 1921 in Görlitz gegen fünf Stimmen verabschiedete, unterschied sich tatsächlich erheblich von seinem Vorgänger, dem seit 1891 geltenden Erfurter Programm. [Text des Erfurter Programms in: WILHELM MOMMSEN (Hg.): Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 349-353, und in: DIETER DOWE/KURT KLOTZBACH (Hg.): Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 3., überarb. u. aktualisierte Aufl., Bonn 1990, S. 185 – 189; der Text des Görlitzer Programms: ebd. S. 203 – 109.Ebd. die folgenden Zitate.]
Dessen grundsätzlichen Teil, eine das 24. Kapitel von Marxens »Kapital« paraphrasierende Gesellschaftsanalyse und Geschichtsprognose, hatte Kautsky entworfen. Das neue Programm legte ein klares Bekenntnis zur »unwiderruflich gegebenen Staatsform« der demokratischen Republik und zur Verpflichtung des Schutzes derselben gegen »jeden Angriff« ihrer Feinde ab. Den Willen zur sozialen Öffnung der Partei brachte bereits der erste Satz, der die Sozialdemokratie als »die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land« bezeichnete, zum Ausdruck. Vom »Klassenkampf des Proletariats« als einer »geschichtlichen Notwendigkeit und sittlichen Forderung« sprach das Programm dagegen nur noch in seinem die bisherige Entwicklung des Kapitalismus beschreibenden Abschnitt [Im ersten Entwurf der Programmkommission fehlte der Begriff »Klassenkampf« zunächst ganz, siehe WINKLER: Klassenbewegung (wie Anm. 10), S. 13.] , und auf eine Zukunftsprognose, wie sie noch im Erfurter Programm gegeben worden war, wurde vollends verzichtet.

Winkler, der die Entstehungsgeschichte des neuen Programms ausführlich dargestellt und es als den Versuch einer Öffnung zu den Mittelschichten umfassend gewürdigt hat, hat diese Neuausrichtung der Partei ganz wesentlich der Mitarbeit

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Bernsteins an der Programmrevision zugeschrieben, womit er meines Erachtens den Anteil Bernsteins etwas zu hoch veranschlagt. Ohne Bernsteins Mitarbeit, so seine These, wäre die Revision nicht so gründlich ausgefallen. [»Bernstein hatte auch den größten Anteil daran, daß die SPD in Görlitz den Versuch einer Öffnung zu den Mittelschichten unternahm [...]. In dem von ihm inspirierten Görlitzer Programm [...].« WINKLER: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 2., durchges. Aufl., München 1994, S. 163. »Daß der Parteitag sich über die negative personelle Empfehlung der führenden Instanzen hinwegsetzte und Bernstein doch in die Programmkommission wählte, hatte sachliche Folgen: Die Revision wurde gründlicher, als Braun und der Parteivorstand es ursprünglich beabsichtigt hatten.« WINKLER: Von der Revolution (wie Anm. 10), S. 437. Zum Programm: MILLER: Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Theorie des Sozialismus in der Weimarer Republik, in: dies.: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. v. Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 179-182. WINKLER, Von der Revolution (wie Anm. 10), S. 434-450; DERS.: Klassenbewegung (wie Anm. 10), S. 9-26. Kritisch zu dieser Sicht: KOLB (wie Anm. 212), S. 118f.; RUCK (wie Anm. 212), S. 509.]

Die Unterkommission, die den Entwurf für den Allgemeinen Teil des Programms – also die einleitenden Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen der Partei – verfasst hat, bestand aus acht Mitgliedern: neben Bernstein 1. der Herausgeber des theoretischen Parteiorgans »Die Neue Zeit« Heinrich Cunow vom rechten Flügel der Partei, 2. der ebenfalls zum rechten Flügel gehörende Agrarexperte Eduard David, einer der führenden Verfechter der Burgfriedenspolitik der MSPD im Krieg, 3. Adolf Braun vom Parteivorstand, ein akademisch gebildeter Intellektueller, der im Krieg innerhalb der MSPD eher zu ihrem linken Flügel zu zählen war, 4. der Gewerkschafter Hermann Müller (Lichtenberg), der in der Kommission am stärksten die traditionelle Sozialdemokratie repräsentierte, 5. die dem Neukantianismus anhängenden Philosophieprofessoren Karl Vorländer aus Münster sowie 6. Heinrich Waentig aus Halle und 7. als Kom-

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missionsvorsitzender der Parteiveteran Hermann Molkenbuhr, ein Jahr jünger als Bernstein, der schon an der Abfassung des Gothaer Programms von 1875 beteiligt gewesen war.

Winkler stützt seine These vom »größten Anteil« Bernsteins auf den Bericht Cunows über die Arbeit der Programmkommission in der »Neuen Zeit« und auf Entwürfe zum allgemeinen Teil des Programms aus Bernsteins Nachlass. [HEINRICH CUNOW: Zur Kritik des Programmentwurfs, in: NZ, Jg. 39/2, Nr. 19 (5.8.1921), S. 433-441, S. 437f. und IISG NL BERNSTEIN N 1-7.]

Zunächst hatten die Ausschussmitglieder, so berichtet Cunow, jeweils eigene Entwürfe vorgelegt. In Bernsteins Nachlass finden sich solche Eigenentwürfe von Cunow, David, Müller, Vorländer und Waentig, jedoch kein Eigenentwurf Bernsteins. [IISG NL BERNSTEIN N 2-6.] Ein von Cunow als »Subkommission« bezeichneter Dreier-Ausschuss, dem Bernstein, Cunow und Müller angehörten [IISG NL BERNSTEIN D 478 [Brief Molkenbuhrs an Bernstein v. 31.3.1921].] , sollte nun auf der Basis der Diskussion dieser Eigenentwürfe einen Vorschlag erarbeiten: »Der Subkommission lagen zwei Entwürfe vor. Sie einigte sich schließlich, meinen Entwurf, nachdem einige Amputationen und Satzänderungen vorgenommen waren, dem größeren Ausschuß als geeignete Grundlage für seine Beratungen zu empfehlen.« [CUNOW: Zur Kritik des Programmentwurfs (wie Anm. 239), S. 438.]

Cunow berichtet weiter, dass dieser Entwurf, in Bernsteins Nachlass betitelt »Cunow. Entwurf der Einleitung auf Grund von Beschlüßen des Unterausschusses« [NL BERNSTEIN N 2.] , nun in der größeren Kommission, also dem aus acht Mitgliedern bestehenden Unterausschuss Allgemeiner Teil, »durchberaten« worden sei, und begrüßt Änderungen, die auf Anregungen von Molkenbuhr und

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Braun zurückgehen, ohne diese jedoch genauer zu benennen. [CUNOW: Zur Kritik des Programmentwurfs (wie Anm. 239), S. 438.] Das Endprodukt dieser Beratungen ist die am 17. Juli 1921 zusammen mit den Entwürfen der anderen Unterkommissionen als »Erster Entwurf der Programmkommission« im »Vorwärts« veröffentlichte Fassung. [NL BERNSTEIN N 7 [Einleitung zum Parteiprogramm. Entwurf nach den Entschlüssen vom 4. Mai].]
In Bernsteins Nachlass finden sich drei Entwurfsüberarbeitungen, die aus der Arbeitsphase zwischen der Fassung Cunow nach den Beschlüssen des Unterausschusses und der im »Vorwärts« veröffentlichten Version stammen: ein Manuskript von Bernsteins Hand und zwei maschinenschriftliche Formulierungsvorschläge, davon einer mit vier handschriftlichen Korrekturen Bernsteins. [NL BERNSTEIN N 1, N 7.] Diese drei Dokumente stellen Versuche dar, von einem in seinen Grundzügen feststehenden Text eine endgültige Fassung herzustellen. Ob die handschriftlichen Korrekturen sowie das Dokument von Bernsteins Hand eigene Vorschläge oder Sitzungsmitschriften sind, lässt sich nicht entscheiden. Ein Indiz dafür, dass es sich bei dem handschriftlichen Dokument um eine Mitschrift handelt, ist das Fehlen jeglicher Hervorhebung im Text durch Unterstreichung: Es gibt praktisch keinen Text von Bernstein, egal ob von Hand oder mit der Maschine geschrieben, der nicht mit meist recht zahlreichen Hervorhebungen versehen ist, so auch sein im Nachlass aufbewahrter Entwurf für den Unterausschuss Außenpolitik/Internationale. [NL BERNSTEIN N1 [Grundsätze und Forderungen der S.P.D. inbezug auf die internationalen Beziehungen der Völker. Entwurf].]

Will man die Arbeit der Kommission einzelnen Mitgliedern zuschreiben, so könnte man auf der Grundlage der hier diskutierten Quellen also allenfalls von einem großen Einfluss Cunows sprechen. Allerdings war seine von »machtpolitischen Erwägungen« diktierte Absicht, die Partei im Programm nicht auf

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die Arbeiterklasse und den Klassenkampf festzulegen, sondern ihre Öffnung gegenüber dem Mittelstand und den Bauern im Programm zum Ausdruck zu bringen [CUNOW: Zur Kritik des Programmentwurfs (wie Anm. 239), S. 437.] , ganz im Sinne der von Bernstein schon in den »Voraussetzungen« erhobenen Forderungen, die Partei solle den Widerspruch zwischen einer revolutionären Phraseologie und der von ihr betriebenen praktischen Reformpolitik überwinden. Mit Cunow und David hatte der Vorstand für die Kommission zwei Vertreter dieser Auffassung vorgesehen. Es waren also nicht die alten ›revisionistischen‹ Gedanken Bernsteins, die den Parteivorstand veranlasst hatten, dem Parteitag zu empfehlen, ihn nicht in die Kommission zu wählen.

Mit den außenpolitischen Fragen und der Rolle der Internationale befasste sich der 9. Unterausschuss der Programmkommission, in dem Bernstein als »Einberufer« fungierte. [Die übrigen Mitglieder: Gustav Bauer, Klara Bohm Schuch, der ehemalige Reichskanzler und Parteivorsitzende Hermann Müller, Antonie Pfülf, Gustav Radbruch, Philipp Scheidemann, Friedrich Stampfer und Heinrich Waentig.]
Hierzu überliefert der Nachlass eine handschriftliche stichwortartige Auflistung und ein mit Bernsteins Namen versehenes und ausdrücklich als sein Entwurf bezeichnetes maschinenschriftliches Dokument. [IISG NL BERNSTEIN N 1 [Grundsätze und Forderungen der S.P.D. inbezug auf die internationalen Beziehungen der Völker. Entwurf].]
Dieses enthält die in den Kapiteln I und II dieser Arbeit ausführlich vorgestellten Forderungen Bernsteins zur Außenpolitik und unterscheidet sich sowohl in Länge und Ausführlichkeit als auch in seinem pathetischen idealistisch-pazifistischen Grundton und seinem Sprachduktus, der ganz der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts verhaftet ist, stark von der verabschiedeten Fassung. Während es in dieser zur Internationale schlicht heißt: »Internationaler Zusammenschluß der Arbeiterklasse auf demokratischer Grundlage als beste Bürg-

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schaft des Friedens« [Görlitzer Programm, in: Protokoll PT Görlitz (wie Anm. 223), S. VI.] , schlug Bernstein vor: »Im Angesicht der Erfahrung, daß der von ihnen erstrebte Völkerbund nicht zur vollen Wahrheit, die vollständige Beseitigung des Krieges und der ihn in betracht ziehenden Bündnisse nicht erzielt werden kann, solange das kapitalistische System und die mit ihm verbundenen Kämpfe der Kapitalistengruppen um die monopolistische Beherrschung von Märkten und Naturschätzen fortbesteht und die nationalistische - und Rassenverhetzung große Volksschichten in ihren Bann zu ziehen vermag, sieht die sozialdemokratische Partei Deutschlands die sicherste Friedensbürgschaft in der Stärkung und inneren Festigung der Internationale der Arbeiterklasse. Sie bekräftigt die Grundsätze und Beschlüsse der 1864 gegründeten Arbeiterassoziation und ihrer Fortsetzerin [...] Getreu diesen Beschlüssen hält sie fest an dem Grundsatz, daß der Zutritt zur sozialistischen Internationale allen sozialistischen Landesparteien offen stehen muß [...] und verwirft sie alle Bestrebungen, die sozialistische Internationale aus einem freien Bund selbständiger und offen wirkender politischen Parteien in eine von einem Zentralkörper aus diktatorisch geleitete, halb konspiratorige Sekte zurück zu entwickeln. Mit Freuden begrüßt sie das Wachstum des internationalen Zusammenschlusses der Gewerkschaften [...].« [IISG NL BERNSTEIN N 1 [Grundsätze und Forderungen der S.P.D. inbezug auf die internationalen Beziehungen der Völker. Entwurf].]

Der Stil dieses Bernstein’schen Entwurfs deutet auf einen möglichen Grund für das Verhalten des Vorstands: Den nüchternen Pragmatikern, die 1920/21 die Politik der MSPD bestimmten, war der Idealismus Bernsteins fremd, und sie fürchteten vermutlich auch dessen Neigung zu Grundsatzreferaten und weit ausholenden historischen Exkursen sowie seinen moralischen Impetus.

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Das Görlitzer Programm entstand zu einem Zeitpunkt, als in der MSPD die Pragmatiker um Scheidemann, Hermann Müller und Otto Wels den Ton angaben, bezüglich der theoretischen Ausrichtung der Partei jedoch keine Gruppe oder Person eine ideologische Hegemonie, wie sie einst Kautsky innegehabt hatte, ausübte. Seine relative programmatische Offenheit beruht gerade auf dem Umstand, dass es zu einem Zeitpunkt entstand, als nach den zahlreichen einschneidenden Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit – Krieg, Parteispaltung, russische und deutsche Revolution, der neue Staat mit seinen zahllosen innen- und außenpolitischen Problemen, die Erfahrungen mit der Regierungsverantwortung – über die theoretischen Grundpositionen in der Partei eine allgemeine Unsicherheit herrschte. Es sei ein interessanter Versuch gewesen, so urteilt Susanne Miller, »[...], die marxistische Theorie – von der sich die Partei nicht trennen wollte und die durch eine andere zu ersetzen sie eingestandenermaßen auch gar nicht in der Lage war – in einer Weise zu rezipieren, daß ihren Aussagen zur Gesellschaftsanalyse die apodiktische Schärfe genommen wurde und ihre Prognosen ganz wegfielen.« [MILLER: Das Verhältnis (wie Anm. 238), S. 182f. Da auch die folgenden Zitate.] Sie betont den großen Mitarbeiterkreis von etwa 60 Personen in den einzelnen Kommissionen und das rege Interesse, mit dem die Parteimitglieder die Entstehung des Görlitzer Programms begleiteten, sowie die »Unsicherheit und Unbestimmtheit in Fragen der Theorie des Sozialismus«, die in dem Programm zum Ausdruck kommt: »Aber gerade dadurch hätte es sich, wenn die politischen Umstände günstiger gewesen wären, als Ansatz für eine breite und offene Diskussion besser geeignet als frühere Programme der Sozialdemokratie.«

Diese Unsicherheit rührte, wie bereits erwähnt, auch daher, dass die MSPD ihrer führenden Theoretiker durch die Parteispaltung verlustig gegangen war. Zurückgekehrt in die alte Partei waren bisher nur Bernstein und Ströbel. Dieses Defizit empfand wohl auch der Parteivorstand, denn durch eine aus Adolf

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Braun, Richard Fischer und Paul Löbe zusammengesetzte Delegation ließ er Ende Juni oder Anfang Juli 1920 – zu einem Zeitpunkt also, als über die Revision noch nicht definitiv entschieden worden war – bei dem ehemaligen ›Chefideologen‹ der Partei Kautsky mit der Bitte anklopfen, er möge sich an der beabsichtigten Revision beteiligen. Kautsky war zum damaligen Zeitpunkt trotz seiner heftigen Kritik an der Politik der Unabhängigen noch USPD-Parteimitglied.

»Da das Erfurter Programm nicht unrichtig, aber in vielem überholt ist, halte ich die Neubildung eines sozialistischen (nicht kommunistischen wie das der U.S.P.) Programms für sehr nützlich, und wie ich bisher noch jeder sozialistischen Partei geraten habe, die sich mit Programmschmerzen an mich wandte, gedenke ich es auch weiterhin so zu halten. Ich habe daher zugesagt.« [Kautsky an Friedrich Adler und Otto Bauer, 5.7.1920, zitiert nach: SCHELZ-BRANDENBURG (wie Anm. 16), S. 385, Anm. 133.]

Dass es nicht zur Mitarbeit Kautskys kam, könnte an der Zusammensetzung der Programmkommission gelegen haben: Eine Zusammenarbeit mit seinem ›Erzfeind‹ Cunow, dem Nachfolger Kautskys als Herausgeber der »Neuen Zeit«, hätte Kautsky, so meine Vermutung, abgelehnt. [KAUTSKY: Cunow - Eine Leuchte des wissenschaftlichen Sozialismus, in: DER KAMPF, Jg. 14, Nr. 11/12 (1921), S. 396-406.]

Als sich jedoch im Herbst 1922 die beiden sozialdemokratischen Parteien wieder vereinigten, wurde Kautsky zum Vorsitzenden der neuen Programmkommission bestellt. Auch Bernstein war wieder Mitglied der Kommission. Den ersten Entwurf Kautskys kritisierte er als eine Neuauflage des Erfurter Programms [IISG NL BERNSTEIN N 8 [Bemerkungen zu Karl Kautskys Programmentwurf]. Dazu: WINKLER: Klassenbewegung (wie Anm. 10), S. 37f.] , doch auf die Programmarbeit hatte er keinen Einfluss. Der eigentliche Verfasser des auf Kautskys Entwurf basierenden und erst 1925, nach über zweijähriger Kommissionsar-

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beit, verabschiedeten Heidelberger Programms war der nun wichtigste theoretische Kopf der SPD, Rudolf Hilferding, der ehemalige Chefredakteur des USPD-Organs »Freiheit« und seit ihrer Gründung Ende 1924 Herausgeber der neuen wissenschaftlichen Zeitschrift der SPD »Die Gesellschaft«.


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