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I. Bernsteins theoretische Grundlagen für eine praktische Reformpolitik

Seine Zweifel an einigen zentralen Grundsätzen der marxistischen Theorie machte Bernstein erstmals 1896 öffentlich, als er im theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie, der von Kautsky herausgegebenen »Neuen Zeit«, eine »Probleme des Sozialismus« betitelte Aufsatzreihe zu publizieren begann. [»Allgemeines über Utopismus und Eklektizismus«, der erste Aufsatz dieser Reihe, in: NZ, Jg. 15/1, Nr. 6 (7.11.1896). Auf Drängen Kautskys hat er diese Thesen 1899 systematisch ausgearbeitet und unter dem Titel »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« herausgebracht, s.o. Anm. 17.] Es waren vor allem die als Katastrophen- und Verelendungstheorie bezeichneten, auf Marx und Engels zurückgehenden Prognosen

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vom unweigerlichen Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft, vom Untergang des Kleinbetriebs sowie der Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze und damit der Verschärfung des Klassenkampfes, die Bernsteins kritischer Überprüfung an der Wirklichkeit, d.h. an der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung der 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, nicht mehr standhielten. Er wies mit umfangreichem statistischen Material nach, dass sich die Lage der Arbeiter nicht verschlechtert, sondern verbessert hatte, dass auch vom Absterben des Kleinbetriebes und von einer drastischen Verringerung der Besitzenden nicht die Rede sein konnte. Seine Partei forderte er deshalb auf, sich von diesen zu Schlagworten – dies ist der zentrale Begriff in Bernsteins Kritik der politischen Kultur der Partei – verkommenen, historisch überholten Thesen zu verabschieden und sich statt dessen auch in ihrer Theorie zu der praktischen Reformpolitik, die die Sozialdemokratie schon längst verfolge, zu bekennen. Die Gesellschaft werde, so widersprach er darüber hinaus Marx und Engels, mit dem Anbruch des Sozialismus keineswegs an Komplexität abnehmen, sondern im Gegenteil: Mit fortschreitender Industrialisierung werde die Komplexität der Gesellschaft weiter zunehmen.

Wenngleich Bernstein stets beteuerte, es sei lediglich seine Absicht gewesen, die bestehende reformistische Praxis der Partei in Einklang mit ihrem theoretischen Selbstverständnis zu bringen, eine neue sozialdemokratische Politik habe er niemals zu begründen beabsichtigt: Seine Thesen rührten an das revolutionäre Selbstverständnis der Partei. Statt durch das gewaltsame Mittel einer Revolution sei über das Mittel des allgemeinen Wahlrechts, über die von der SPD und den Freien Gewerkschaften schon erfolgreich praktizierte Organisierung und Bildung der Arbeiter ein friedliches ›Hineinwachsen‹ in den Sozialismus auf demokratischem Wege möglich.

Den Sozialismus im Sinne des anzustrebenden gesellschaftlichen Idealzustands definierte Bernstein als die gleichberechtigte Teilhabe der einzelnen Glieder der Gesellschaft an den sie be-

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treffenden Entscheidungsprozessen. Drei Grundprinzipien lägen diesem Sollzustand sowie der ebenfalls mit dem Begriff Sozialismus bezeichneten Bewegung derjenigen, die die Verwirklichung dieses Zustands anstrebten, zu Grunde: die aus den Idealen der französischen Revolution égalité, fraternité und liberté abgeleiteten Prinzipien Gleichheit, Gemeinschaft und Selbstbestimmung. [Vergleiche zum Folgenden: EDUARD BERNSTEIN: Die Arbeiterbewegung, Frankfurt 1910, S. 118-140; außerdem die ausführliche und sehr systematische Darstellung bei: MEYER: Sozialismus (wie Anm. 13), bes. S. 292-295. Das folgende Zitat ebd., S. 293.]
Die Schlüsselstellung nimmt bei Bernstein das Prinzip der Gemeinschaft ein, worunter er die »›freiwillige Gemeinhaftung‹ für die in gleicher Abhängigkeit befindlichen Mitmenschen«, also solidarisches Handeln versteht. Denn ohne das Prinzip der Solidarität seien für die in besonderer sozioökonomischer Abhängigkeit lebenden Arbeiter im Kapitalismus Selbstbestimmung und Gleichheit unerreichbar.

Die Selbstbestimmung – Bernstein zieht diesen Begriff dem der Freiheit vor, da in ihm die Freiheit »ihren reinsten Ausdruck« finde – sei das eigentliche Ziel der menschlichen Entwicklung, sie bilde »einen der wesentlichsten Maßstäbe der Kultur«. [BERNSTEIN: Arbeiterbewegung (wie Anm. 21), S. 135.]
Erweiterung der Selbstbestimmung sei für die Arbeiter jedoch nur durch das Prinzip der Solidarität zu erreichen, also durch freiwillige Selbstbeschränkung zum Nutzen der Gemeinschaft, welche schließlich zur Erweiterung der persönlichen Freiheit führe. Gegen die Willkür übermächtiger Dritter könnten sich Arbeiter nur in einem Kollektivorgan schützen. Zwar sei in der Arbeiterbewegung der Begriff der Freiheit vielfach noch wenig entwickelt, doch diesen Umstand könne man nicht der Arbeiterbewegung anlasten, denn erst durch diese werde der Arbeiter »zur freien Persönlichkeit erzogen. Der Weg zur persönlichen Freiheit geht durch die Freiheit der Koalition.« [Ebd., S. 140. Die folgenden Zitate ebd., S.135.]

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Die Gleichheit schließlich sei nicht eigentlich »ein ethisches Ziel der Menschheitsentwicklung. [...] Sie ist bloß ein jeweilig in bestimmter Anwendung als erstrebenswert betrachtetes Ziel sozialer Ordnung«, nämlich dasjenige soziale Ordnungsprinzip, welches allen Menschen die Möglichkeit der Selbstbestimmung garantieren soll. Nicht absolute Gleichheit, sondern Gleichheit im Sinne von gleichen Rechten und gleichen Lebensmöglichkeiten ist das angestrebte Ziel. Es sei denkbar, dass »bei sehr hohem Kulturleben die Gleichheit allgemein als etwas sehr Unwesentliches betrachtet wird«.

Bernsteins teleologische Geschichtskonzeption fußte auf der Vorstellung einer evolutionären Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft zu immer größeren Einheiten, komplexeren Strukturen und kulturell höher stehenden Formen. Bernstein betonte immer wieder, dass die Fortschrittsentwicklung nicht linear verlaufe, sie gleiche vielmehr, soweit man das erkennen könne, einer Spirale. Man habe also immer mit Rückschlägen zu rechnen. Aus diesem Grund und weil die Menschen längst nicht über alle dafür notwendigen Kenntnisse verfügten, sei es ein müßiges Unterfangen, Zukunftsprognosen aufzustellen. Es ließen sich aus dem gründlichen Studium der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit lediglich Entwicklungstendenzen ableiten. Das wissenschaftliche Instrumentarium zur Erkenntnis der historischen Entwicklungsgesetze und damit auch der Entwicklungstendenzen hätten Marx und Engels mit ihrer Entwicklungstheorie des historischen Materialismus geliefert und damit den Sozialismus als Wissenschaft begründet. Die Marx-Engels’sche Entwicklungstheorie habe den Gedanken der organischen Natur der sozialen Entwicklung gegenüber einer älteren mechanischen bzw. chemischen Auffassungsweise etabliert [Zu Bernsteins organischer Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellung s.u., S. 86] und erkannt, dass der entscheidende Faktor für die materiellen Bedingungen und Formen des gesellschaftlichen Daseins des Menschen die Art und Weise der Güterproduktion sei. Diese werde bestimmt vom je-

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weiligen Werkzeug, welches wiederum die Arbeitsweise vorschreibe, und von dieser Arbeitsweise hänge auch »das Eindringen des Menschen in die Gesetze der Natur und damit zuletzt auch der Höhegrad seiner Welterkenntnis« ab. [BERNSTEIN: Der Sozialismus einst und jetzt. Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart, 2. verm. Aufl., Berlin 1923, S. 9.]

Unterscheidend zwischen »ideellen« bzw. »ideologischen« Triebkräften einerseits und materiellen, d.h. ökonomischen Triebkräften andererseits, entwickelte er eine dualistische Theorie, die – abweichend von der marxistischen Geschichtstheorie des historischen Materialismus – die ideellen Faktoren weder als schlichte Reflexe der materiellen Kräfte begriff, noch sie den für die materiellen Faktoren geltenden Geschichtsgesetzen unterwarf. Er definierte die ideellen Triebkräfte als exogene Faktoren, die von außen auf den nach Evolutionsgesetzen verlaufenden historischen Entwicklungsprozess modifizierend einwirken können. Damit konstituierte Bernstein einen autonomen Bereich des Bewusstseins, von dem aus ein aktiv gestaltendes Eingreifen in den historischen Entwicklungsprozess möglich war, also die theoretische Grundlage für die von ihm propagierte praktische Reformpolitik. [In der Auseinandersetzung mit Kautsky um das Görlitzer Programm (s.u. S. 136) weist Bernstein darauf hin, dass sich seine theoretische Auffassung eben in diesem Punkt von Kautsky unterscheidet. BERNSTEIN: Karl Kautsky über das Görlitzer Programm, in: DIE GLOCKE, Jg. 8/1, Nr. 24 (11.9.1922), S. 630-638, S. 636f. Vgl. auch: DERS.: Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 18-28; LUCIAN HÖLSCHER: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 372f.]
Die die Arbeiterbewegung antreibenden ideellen Faktoren – unter anderen das moralische Bewusstsein des Proletariats, seine Leitvorstellungen von Staat, Gesellschaft und

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Gerechtigkeit, sein Bewusstsein der Internationalität [BERNSTEIN: Der Wert der Internationale, in: NZ, Jg. 34/1, Nr. 1 (1.10.1915), S. 1-6, bes. S. 3.] – seien im tiefsten geprägt von dem Prinzip der Solidarität. Aus dieser besonderen Verbundenheit der Arbeiterklasse mit dem Solidaritätsprinzip, welches, indem es das wesentliche Mittel im Kampf um mehr Rechte darstelle, beständig neu erfahren und verinnerlicht werde, leitete Bernstein die besondere Rolle des Proletariats im gesellschaftlichen Emanzipationsprozess ab.

Den Sozialismus definiert Bernstein also als eine spezifische Moral- und Rechtsauffassung, deren Kern »der Gedanke der Erhebung des Interesses der Allgemeinheit über jedes Sonderinteresse von Gruppen« [BERNSTEIN: Was ist Sozialismus? [Vortrag vom 28.12.1918], in: DERS.: Ein revisionistisches Sozialismusbild. Drei Vorträge, hg. v. Helmut Hirsch, Berlin/Bonn 1976, S. 155.] mit dem Ziel der umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe und der größtmöglichen individuellen Selbstbestimmung des Einzelnen ausmacht. Diese Moral- und Rechtsauffassung macht ebenso wenig, wie sie auf die Arbeiterklasse beschränkt bleibt, an nationalen Grenzen halt. Eine angewandte sozialistische Politik hat sich deshalb nicht nur in der Innen-, sondern ebenso in der Außenpolitik nach den Grundwerten Gleichheit, Gemeinschaft und Selbstbestimmung zu richten.

Bernstein sah seine Aufgabe nicht darin, »Zukunftsbilder zu entwickeln«, sein Engagement galt der Schaffung der »unerläßlichen Vorbedingung« für die Verwirklichung des Sozialismus: der »Erkämpfung der Demokratie« und der Sorge für »die Ausbildung von politischen und wirtschaftlichen Organen der Demokratie«. [BERNSTEIN: Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 159. Ebd., S. 177 die folgenden Zitate.]
Hinsichtlich ihres Programms bestehe die Aufgabe der Partei darin, konkrete politische Forderungen aufzustellen, »die auf die Verhältnisse in der Gegenwart passen, wobei die Bedingung ist, dass sie in sich den Keim zur Weiterentwicklung in der Richtung der von ihr erstrebten Gesellschaftsordnung tra-

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gen«. Es gebe aber »keine Forderung dieser Art, für welche nicht die eine oder die andere nichtsozialdemokratische Partei auch eintreten könnte und wird. Eine Forderung, die alle bürgerlichen Parteien notwendigerweise zu prinzipiellen Gegnern hätte, wäre durch diese Tatsache allein als utopistisch [Als ›utopistisch‹ bezeichnet Bernstein eine »Denkweise [...], die sich den Sozialismus nur als einen fertigen Gesellschaftszustand vorstellen kann«. BERNSTEIN: Karl Kautsky über das Görlitzer Programm (wie Anm. 26), S. 636.] gekennzeichnet.«

Statt abstrakter Entscheidungen für bestimmte ökonomische Modelle und Rezepte forderte Bernstein jeweils die konkrete Prüfung des Einzelfalls. Zur »Genossenschaftsfrage« etwa betonte er 1899, es gelte nicht prinzipiell für oder gegen das Genossenschaftswesen, sondern bezogen auf den konkreten Einzelfall Stellung zu nehmen und sich klar zu werden, welche Genossenschaften die Sozialdemokratie empfehlen und »nach Maßgabe ihrer Mittel moralisch unterstützen« könne. Als »politische Kampfpartei« könne die SPD sich »nicht auf wirtschaftliche Experimente einlassen. Ihre Aufgabe ist es, die gesetzlichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, welche der genossenschaftlichen Bewegung der Arbeiter im Wege stehen, und für die zweckmäßige Umgestaltung derjenigen Verwaltungsorgane zu kämpfen, die eventuell berufen sind, die Bewegung zu fördern.« [BERNSTEIN: Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 179 u. 181.]

Stand im Zentrum von Bernsteins innenpolitischen Überlegungen der Kampf um die Erlangung der Demokratie mit demokratischen Mitteln, so fußte sein außenpolitisches Konzept, das er in seiner konkreten Gestalt zwischen 1905 und 1918 in der Auseinandersetzung mit der wilhelminischen Weltmachtpolitik entwickelt hat, auf der Verbindung von Freihandel und Vertragsidee. [Bernsteins außenpolitisches Konzept vor 1914: BERNSTEIN: Die internationale Politik der Sozialdemokratie, in: SM, Jg. 11/2, Nr. 10 (21.5.1909), S. 613-624; DERS.: Zollfreier internationaler Verkehr, in: SM, Jg. 15/2, Nr. 13 (29.6.1911), S. 824-832. Dazu: HYRK KÄNEN: Genossenschaftlichkeit (wie Anm. 15), bes. S. 20-23; SCHRÖ DER (wie Anm. 14), bes. S. 192-212; FLETCHER (wie Anm. 15), S. 143-182. Seit 1914: BERNSTEIN: Völkerbund oder Staatenbund. Eine Untersuchung, Berlin 1919; DERS.: Völkerrecht und Völkerpolitik. Wesen, Fragen und Zukunft des Völkerrechts, Berlin 1919.]
Ausgehend von der Prämisse, dass man es in der zivili-

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sierten Welt auf absehbare Zeit mit der Organisationsform des Nationalstaats zu tun haben werde, ergaben sich für eine sozialdemokratische Außenpolitik folgende zentrale Forderungen: 1. Die Außenpolitik sollte nicht durch die Interessen gesellschaftlicher Einzelgruppen, sondern durch das Interesse des ganzen Volkes bestimmt sein, musste also von der demokratisch gewählten Volksvertretung entworfen, getragen und kontrolliert werden. 2. Beruhen sollte solch eine »Völkerpolitik« – im Unterschied zu einer »Staatenpolitik«, wie sie nicht demokratische Regierungen mit den Mitteln Geheimdiplomatie und Kabinettspolitik betrieben – auf dem System des freien Vertrags und dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. 3. Im internationalen wirtschaftlichen Verkehr sollten das Prinzip des freien Wettbewerbs und der Chancengleichheit gelten: Freihandel, in den Kolonien die Politik des offenen Tores, also des freien Zugangs zu den dortigen Märkten, Freiheit der Meere und Internationalisierung der großen Handelswege. 4. In Konfliktfällen sollten supranationale Organisationen in Gestalt von Schiedsgericht und Völkerparlament zwischen den Konfliktparteien vermitteln; Kriege seien zu ächten, im Angriffsfall hätten sich alle Mitglieder der »Völkerfamilie« mit dem überfallenen Land zu solidarisieren, die Grauen des Krieges seien durch internationale Konventionen zum Schutz von Zivilbevölkerung und Verwundeten zu mindern. 5. Der Verzicht auf Gewalt als Mittel der Politik sollte umfangreiche internationale Abrüstung ermöglichen.

Dies war ein im Kern liberales Programm, doch nach Bernsteins Auffassung unterschied es sich doch in einem entscheidenden Punkt von Programmen wie den am 8. Januar 1918 verkündeten so genannten »Vierzehn Punkten« des amerikanischen

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Präsidenten Wilson. [Die als Grundlage für einen künftigen Frieden gedachten »Vierzehn Punkte« forderten: Freiheit der Meere und des Welthandels, Räumung besetzter Gebiete, Selbstbestimmungsrecht der Völker, also etwa die Wiederherstellung Belgiens und ein unabhängiges Polen mit Zugang zum Meer, sowie die Gründung eines Völkerbundes und Rüstungsbeschränkungen.]
Diese, ebenso wie die meisten Entwürfe liberaler oder bürgerlich-pazifistischer Schriftsteller und Konferenzen, scheuten davor zurück, »den Gedanken folgerichtig zu Ende zu führen. Sie schwanken zwischen dem Plan eines Staatenbundes und dem eines Völkerbundes und wagen es nicht, die Bindekraft der Beschlüsse über solche Bestimmungen hinaus auszusprechen, die sich nicht mehr oder weniger auf die Verhinderung des Krieges beziehen. Respektvoll machen sie alle vor dem Staate Halt.« [BERNSTEIN: Völkerbund (wie Anm. 32), S. 22. Ebd. S. 22 f. auch die folgenden Zitate.]
Bernstein, der einräumte, dass diese Sätze »von einem Sozialisten paradox klingen« mochten, forderte dagegen: »Wir müssen den mystischen Glauben an den Staat abstreifen, um reif für den Völkerbund zu werden.«

Der Grundsatz der Nichteinmischung etwa könne »überhaupt nicht unbedingte Geltung beanspruchen. Er steht im Widerspruch mit dem sozialistischen Grundsatz der Verbundenheit (Solidarität) der Völker, der übrigens bis zu einem gewissen Grade auch in der bürgerlichen Welt Anerkennung gefunden hat. [...] Ich habe [...] schon erwähnt, daß diese Rücksichtnahme auf die fast dogmatisch festgelegte Souveränität der Staaten der Weiterentwicklung des Völkerrechts Schwierigkeiten aller Art bereitet und verschiedene Reformen verhindert hat [...].« [Ebd., S. 21.]

Den Vortrag, aus dem diese Sätze stammen, hielt Bernstein am 12. Oktober 1918 in Berlin. Neun Tage zuvor hatte die neue deutsche Regierung unter Leitung des Prinzen Max von Baden durch eine Note an Präsident Wilson um die Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen auf der Basis der »Vierzehn

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Punkte« gebeten. Die Auseinandersetzung mit dem Völkerbundgedanken, so betonte Bernstein in Anbetracht dieser Situation, sei nun nicht mehr nur eine theoretische Beschäftigung, sondern habe ganz praktische Bedeutung für die Beurteilung der Erträglichkeit der zu erwartenden Friedensbedingungen: »Bleiben die Staaten ihrem Wesen nach, was sie bisher waren, woran dadurch bis auf Weiteres noch wenig geändert wird, dass bestimmte politische Rechte ihrer Angehörigen, wie das Parlamentsrecht, erweitert werden, so mag der Friedensvertrag oder Bundesvertrag lauten wie er will, es wird doch keine Gewähr gegeben sein, dass er die Periode der Erholung von den Wunden des Weltkrieges lange Zeit überdauern wird.« [Ebd., S. 17.]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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