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TEILDOKUMENT:




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Diskussion

Dieter Dowe:

Vielen Dank, Herr Brenner, für dieses schöne, differenzierte Referat, das uns in die Geisteswelt der Renaissance des Judentums des Jahrhundertbeginns hineingeführt hat. Wir sind ja gewohnt, diese Dinge oft zu statisch, zu konstant zu sehen und dabei zu übersehen, wie stark es sich hier um Wellenbewegungen handelt. Sie haben die frühe, bis zur Aufklärung reichende jüdische Kultur herangezogen, haben, wenn auch nur im Vorspann, dann gezeigt, dass seit der Jahrhundertwende im Gegenzug zu den Entwicklungen im frühen Kaiserreich doch schon eine neue Bewegung hin auf eine bewusste Konstruktion jüdischer Kultur in Kombination jüdischer Traditionen einerseits mit der allgemeinen deutschen Gegenwartskultur andererseits sich vollzogen hat. Vielleicht hätten wir in dieser Hinsicht unser Thema doch etwas anders formulieren sollen: „Die jüdische Kultur deutscher Juden" und nicht „der deutschen Juden". Sie haben ja darauf hingewiesen, dass es sich bei dem, was Sie uns präsentiert haben, um ein Segment der jüdischen Gesellschaft handelte, ein ganz bewusst an diese Rekonstruktion herangehendes Segment der jüdischen Gesellschaft. Sie haben auf der anderen Seite auch das Beispiel Döblin angeführt, der in Polen zum ersten Mal Juden begegnete. Seine Selbstwahrnehmung entspricht wahrscheinlich dem, was Peter Gay im vorigen Herbst, als er sein neuestes Buch beim Interview im WDR vorstellte, gesagt hat: „Jüdische Kultur in Deutschland, ich weiß gar nicht, was man darunter versteht." Die Diskussion ist eröffnet.

Susanne Miller:

Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bedanken bei den Veranstaltern dieses Nachmittags. Ich finde es eine sehr schöne und sehr glückliche Idee, dass Sie meinen 85. Geburtstag in dieser Weise zur Kenntnis nehmen wollen.

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Ich möchte auch zu dem Thema dieses Vortrags etwas sagen. Ich habe es angeregt, weil ich wissen wollte, wie es eigentlich damit steht. Ich habe über diese Frage: „Gab es eine jüdische Kultur in Deutschland oder gab es keine?" die widersprüchlichsten Ansichten gehört. Nun wollte ich endlich Antworten darauf finden. Erlauben Sie mir zu sagen: Ich glaube, es ist legitim, mit 85 Jahren festzustellen: Es gibt viele Fragen, auf die ich Antworten haben möchte, aber von denen ich nicht sicher bin, ob es die endgültigen Antworten sind.

Ich bin Herrn Brenner sehr dankbar für das, was er uns heute gesagt hat, aber auch da habe ich den Eindruck, es wäre schön, wenn wir noch lange darüber diskutieren und ihm noch weitere Fragen stellen und aus seinem reichen Kenntnisschatz Antworten bekommen könnten, und wenn wir uns vielleicht auch gegen diese Antworten wehren und sagen könnten: Nein, damit sind wir noch nicht befriedigt.

Darf ich ein persönliches Wort sagen, warum mir gerade an dieser Frage so viel lag? Ich bin in Wien aufgewachsen und hatte keine Ahnung, was im Osten an jüdischer Kultur geboten wurde, denn es gab zwar eine sehr große Zuwanderung von polnischen Juden nach Wien nach dem Ersten Weltkrieg, aber es gab keine Gemeinsamkeit zwischen den zugewanderten und den bereits ansässigen Juden.

Eine Ahnung von polnischen Juden und ihrer Kultur habe ich erst in England bekommen, als ich polnische Juden im East End von London kennenlernte, dann öfter in den von ihnen besuchten Arbeiterclub ging und merkte, welch ein total schiefes, verzerrtes Bild von Ostjuden wir in Wien in den jüdischen Milieus hatten, in denen ich aufgewachsen bin. Vielleicht ist meine Bitte, über jüdische Kultur im Osten und jüdische Kultur in Deutschland, in Österreich und auch Ungarn und der Tschechoslowakei zu sprechen, vielleicht ist diese Bitte auch einem gewissen Schuldgefühl von mir entsprungen, dass wir diese Missachtung, diese Ignoranz gegenüber der jüdischen Kultur, die sich in Polen, in Litauen, in anderen osteuropäischen Staaten entfaltet

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hat, dass wir diese Ignoranz und Missachtung gehabt haben. Da gilt es, etwas nachzuholen, was leider gar nicht mehr nachzuholen ist, weil die Menschen, die die Träger dieser Kultur waren, nicht mehr leben und die Kinder und Enkel dieser Menschen versprengt sind, hauptsächlich in Amerika, in Kanada, und ganz wenige nur noch in Europa zu finden sind. Ich möchte das vorausschicken, um zu begründen, dass es nicht nur der Wissensdurst war, den ich wirklich habe, zu erfahren, was jüdische Kultur ist, dass ich den Eindruck habe, dass große Missverständnisse und Verwechslungen auch unter deutschen Intellektuellen mit Bezug auf die Frage herrschen, was eigentlich jüdische Kultur ist. Von Ignatz Bubis habe ich bei einer bestimmten Gelegenheit gehört: Es gab in Deutschland keine jüdische Kultur; in Deutschland gab es nur eine deutsche Kultur, und eine jüdische Kultur gab es nur in Osteuropa. Ich habe von anderen Widerspruch gegen diese Meinung eines doch recht kompetenten Repräsentanten des Judentums zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist also nicht alleine das wissenschaftliche Interesse, sondern es sind auch gewisse Emotionen, die mich veranlassen, mehr über jüdische Kultur und vor allem auch über die jüdische Kultur, die es in Osteuropa gab, erfahren zu wollen. Ich bin außerordentlich dankbar, dass es nach anderen Vorträgen in der Friedrich-Ebert-Stiftung heute wieder eine Gelegenheit dazu gibt. Ich kann nur die Hoffnung aussprechen, dass wir auf diesem Wege nicht haltmachen, sondern diese Kultur, gerade in einem Europa, das dabei ist, sich unter vielen Schwierigkeiten zusammenzutun, mindestens kennenlernen und da, wo es noch geht, aufrechterhalten.

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Dieter Dowe:

Vielen Dank, Susanne, für diese Worte, die uns sehr eindringlich dazu aufrufen, uns diesem Problemkreis weiter zu widmen.

Theo Rasehorn:

Es ist natürlich sehr schwer, jetzt auf Einzelfragen zu sprechen zu kommen. Mich wundert es etwas, dass bei diesem Beitrag zur jüdischen Kultur keine jüdischen Juristen auftauchen, außer natürlich Franz Kafka. Man muss ja doch bedenken, dass das Juristenstudium für die Juden ein entscheidendes Aufstiegsstudium in der Kaiserzeit und vor allem in der Weimarer Republik war. 1930 waren 25% der Berliner Anwälte Juden, also sechs mal so viele oder noch mehr, als dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprach.

Michael Brenner:

Ich kann darauf ganz kurz antworten. Das war nicht das Thema meines Vortrags, weil ich glaube, dass sich jüdische Kultur im Bereich der Juristen nicht unter der Rubrik jüdische Juristen einordnen lässt. Es gab keine jüdische Jura. Aber natürlich ist das ein wichtiger Punkt, der zu behandeln ist, und darüber gibt es durchaus auch Beiträge in der Wissenschaft.

N.N.

Welche Triebkräfte, welche Motive waren für die Herausbildung der von Ihnen geschilderten Jüdischen Renaissance vorherrschend - die Suche nach Authentizität oder aber eher schon das beginnende Gefühl für die Ausgrenzung? Und eine weitere Frage: Sie haben Ihre Ausführungen mit dem Jahr 1933 beendet. Wie steht es mit der Zeit danach bis zu den 40er Jahren?

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Michael Brenner:

Das sind natürlich große Fragen. Ich denke, was die Motive betrifft, habe ich versucht, darauf einzugehen. Ich will es noch einmal ganz kurz zusammenfassen. Natürlich muss man die Komplexität des deutschen Judentums immer wieder sehen. Peter Gay oder Peter Fröhlich, wie er damals hieß, war natürlich Bestandteil eines, wie ich von ihm persönlich weiß, sehr stark assimilierten deutsch-jüdischen Berliner Bürgertums. Er gehört bestimmt zu denjenigen, die sich erst 1933 bewusst wurden, nicht dass sie Juden waren, dass diese Tatsache aber doch auch eine gewisse Bedeutung in ihrem Leben hatte. Dies gilt für Fritz Stern vielleicht noch mehr, das führt oft zu Verwirrungen. Wenn Fritz Stern als amerikanischer oder deutscher Jude bezeichnet wird - er würde das selber wahrscheinlich auch so sagen -, ist das nicht ganz unproblematisch, weil er Protestant ist und als Protestant geboren wurde. Seine Eltern aber waren als Juden geboren worden, ließen sich taufen, und der Taufpate von Fritz Stern war kein anderer als Fritz Haber, der Chemiker, also auch ein getaufter Jude. Hier sehen wir, was Gershom Scholem sehr plastisch als dieses Milieu schon sehr assimilierter, schon getaufter Juden, beschrieben hat. Die tauchen natürlich in den Zahlen der deutsch-jüdischen Gemeinschaft gar nicht mehr auf. Das ist die eine Seite, auf der anderen Seite gab es auch Kontinuitäten. Es gab natürlich immer noch orthodoxe Juden, wenngleich nicht so viele, aber auch das ist nicht ganz unbedeutend. Frankfurt z.B. ist eine ganz bedeutende orthodox-jüdische Gemeinde. Was war das deutsche Judentum in den 20er Jahren? Das waren auch über hunderttausend Juden osteuropäischer Herkunft. Und es gab auch noch Landjuden, allerdings nicht mehr so viele - Juden, die auf dem Land und in den kleinen Städten wohnten, wie die große Mehrzahl der deutschen Juden anfangs des 19. Jahrhunderts. All das gehörte dazu. Natürlich war die Motivation für die unterschiedlichen Gruppen auch eine unterschiedliche. Diese Bewegung, wie sie damals genannt wurde, diese Jüdische Renaissance ging vor allem aus dem jüdi-

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schen Bürgertum hervor, das in eher assimilierten Familien aufgewachsen war. Den Antisemitismus, die Ausgrenzung, habe ich schon erwähnt, darauf will ich nicht noch einmal eingehen. Für viele spielte auch, wie in der Jugendbewegung sehr zutreffend, das Auflehnen gegen das bürgerliche Elternhaus als Motiv eine Rolle, auch das Auflehnen gegen diese Art der Assimilation. Man konnte wie Werner Scholem Kommunist werden und sich dagegen auflehnen, oder man konnte, wie sein Bruder Gerhard, Zionist werden und sich dagegen auflehnen oder sich nicht auflehnen wie die beiden anderen Brüder. Aber der Generationenkonflikt spielte eine Rolle. Es konnte in unterschiedliche Richtungen gehen. Auch bei Kafka, in seinem Brief an seinen Vater, sieht man das deutlich. Man konnte aber nicht, wenn man Teil dieser Jugendrevolte war, die sich dann auch weiter fortsetzte, auch literarisch manifestierte, noch in die Synagoge gehen, ohne zu wissen, worum es geht. Kafka spricht von dem aufregendsten Moment, als der Thoraschrank aufging, und er sagte: Da kommen die Puppen ohne Köpfe, die Thorarollen. Man wußte gar nicht, was da so richtig vor sich ging. Dieses nur oberflächliche In-die-Synagoge-Gehen hat man abgelehnt. Das ist, glaube ich, ein anderes Motiv, das nicht zu unterschätzen ist. Diese ganze Epoche war geprägt von einem heute pathetisch klingenden Suchen nach dem Sinn des Lebens, wie es in der Philosophie Martin Bubers nachschlägt. Da sieht man auch durchaus Parallelen zu einer „völkischen" Tendenz in seinem nicht-jüdischen Umfeld. Da konnte er nicht teilhaben. Aber er wollte teilhaben. Dieses war auch keine völkische Kultur im Sinne, dass man andere ausgrenzte. Die jüdische Jugendbewegung benutzt die gleichen Begriffe wie die anderen Jugendbewegungen, von orthodoxen bis zu liberalen und sozialistischen.

Zu der wichtigen Frage nach der Zeit nach 1933. Ich habe in meinem Buch versucht die jüdische Kultur in der Weimarer Republik zu beschreiben und dann einen Epilog über die Zeit nach 1933 verfasst. Ich denke, dass damit eigentlich eine Epoche auch in Bezug auf die jüdische Kultur abgeschlossen war. Ich habe

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immer versucht zu betonen: Rosenzweig hat nie gesagt, wir bewegen uns in irgendeiner Art des geistigen, kulturellen Ghettos. Martin Buber war genauso tragende Figur der deutschen Volkshochschulbewegung wie im jüdischen Lehrhaus. Und Rosenzweig hat einen interessanten Satz geprägt, indem er sagte, bewußt den antisemitischen Begriff verwendend: „Die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht." Das Bewusstsein um meine Teilidentität tut dem Deutschen keinen Abbruch. Was die anderen darüber dachten, steht auf einem anderen Blatt. Schauen Sie auf den jüdischen Kulturbund und alle die Formen, die nach 1933 entstanden, auf die jüdische Presse. Die Volkshochschul-Bewegung des Lehrhauses erlebte übrigens eine „Blüte", das hat natürlich eine gewisse Ironie beinhaltet: Nach 1933 konnte man nur noch auf der Bühne des jüdischen Kulturbunds einen deutschen Klassiker wie Nathan den Weisen sehen. Aber es war ein kulturelles Ghetto, ein Theater, in dem nur Juden vor einem jüdischen Publikum spielen durften. Das war nie der Sinn dieser Weimarer jüdischen Kultur gewesen.

Friedhelm Boll:

Eine Renaissance bedeutet immer, dass die Vergangenheit in einem ganz bestimmten Licht gesehen wird. Daher begründet sich meine Frage: In welchem Licht sahen Rosenzweig und seine Frankfurter Gruppe die jüdische Vergangenheit? Gab es bestimmte Aspekte in der Geschichte des Judentums, die ihnen für die Zeit nach dem ersten Weltkrieg als besonders wichtig erschienen? Ich könnten mir denken, dass sie in der Geschichte des Judentums bestimmte Aspekt der Toleranz der Religionen oder pazifistische Positionen sahen, die sie einer Wiederbelebung zuführen wollten.

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Michael Brenner:

Ich denke, dieser Satz Rosenzweigs war sehr deutlich. Es war das Kennenlernen des Eigenen, das auch die Brücke zur Gesellschaft als ganze bilden sollte. Das heißt, Rosenzweig und seine Gruppe wurden sich ja zunehmend bewusst, dass sie, ob sie das wollten oder nicht, als Juden wahrgenommen wurden. Er war ja vor diesem Schritt, sich taufen zu lassen, gestanden und hat ihn dann nicht vollzogen. Da würde ich die Brücke sehen. Nicht in einem, auf Martin Buber und wenige andere begrenzten christlich-jüdischen Dialog, der auch damals von der christlichen Seite nicht so stark gesucht wurde - übrigens gab es da ganz heftige Auseinandersetzungen 1931/32 in diesem Stuttgarter jüdischen Lehrhaus -, sondern in dem Versuch, sich nicht von den eigenen Wurzeln zu lösen, sich vielmehr derer bewusst zu werden und somit auch in einen Dialog mit der Umwelt zu treten. Da konnte der Pazifismus eine Rolle spielen wie bei Scholem. Buber z.B. war kein ausgesprochener Pazifist im Ersten Weltkrieg, was ihm Scholem auch vorgeworfen hat. Für Rosenzweig war es sehr wichtig, sich mit den anderen Religionen
auseinanderzusetzen. Während des ganzen 19. Jahrhunderts herrschte im jüdischen Geistesleben die Tendenz vor, auf die andere Seite zuzugehen und damit verbunden die eigene Tradition hinter sich zu lassen. Sie sehen eigentlich jetzt den umgekehrten Zugang, nicht mit anderem Ziel, aber den umgekehrten Weg, zu sagen, es bringt uns auch nicht mehr, wenn wir das eine hinter uns lassen, wir wollen uns darauf besinnen und trotzdem auf diese Weise auf den anderen zugehen. Denn die Inhalte waren natürlich unterschiedlich. Ich habe Beispiele genannt, wie sie sich äußern konnten. Es mußte nicht mit Pazifismus einher gehen. Für den einen war natürlich die deutsche Kriegsbegeisterung genauso selbstverständlich, ob er Sozialdemokrat war, Jude oder Nicht-Jude, ob er Zionist war oder liberaler Jude. Die große Mehrzahl waren auch im Ersten Weltkrieg keine Pazifisten. Ich weiß nicht, ob ich Ihre Frage damit wirklich beantworten konnte, wahrscheinlich nicht, aber ich betone, dass es gar nicht so

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sehr um die Frage ging, mit welchen Inhalten man sich der anderen Seite näherte, sondern auf welche Art und Weise man das tat. Ich will noch ein Beispiel nennen: die jüdische Jugendbewegung. Es gab eine große Spannbreite jüdischer Jugendorganisationen, und die Heldenfiguren des Großteils der deutschen Jugendbewegung, etwa der Stefan-George-Kreis, spielen genau die gleiche Rolle. Da kommt vielleicht noch Martin Buber hinzu als ähnlich wichtige Figur. Aber es sind teilweise nicht nur die ähnlichen Begriffe, die gebraucht werden, sondern die ähnlichen Idole, die man verehrt.

N.N.:

Herr Prof. Brenner, ich habe eigentlich vermißt, dass Sie uns eingangs gesagt hätten, was Sie unter jüdischer Kultur verstehen. Meinen Sie damit rein das Praktizieren jüdischer Religion und Gebräuche, oder meinen Sie eine religiöse Weiterentwicklung und Verzweigung mehr zum Orthodoxen hin oder in andere Richtungen? Oder aber meinen Sie vielleicht das Entwickeln von Gedankengebäuden auf der Grundlage jüdischer Auffassungen, Gedankengebäude, Theorien oder ähnliches, sei es allgemein oder in bestimmten Sachgebieten meinetwegen der Architektur oder der Kunst oder Wissenschaft oder wo auch immer. Oder was meinen Sie? Was verstehen Sie darunter? Ich gestehe, das habe ich vermißt.

Michael Brenner:

Ich habe versucht, das etwas verschlüsselt eingangs darzustellen, indem ich den Rückzug der deutschen Juden in ihrer Mehrzahl aus der konfessionellen oder rein konfessionellen Ebene nachgezeichnet habe. Das heißt, dieser Begriff des „deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens", Freud hat es dann eben „Unglaubens" genannt, dieser Begriff des Glaubens, der Religion, alleine reichte nicht mehr aus. Man versuchte dann, sich auf dem Gebiet der säkular geprägten Kultur eine Art Ersatzidentifikation zu

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schaffen. Ich habe hier nur einige Bereiche, Erwachsenenbildung, Jugendbewegung und Wissenschaft vom Judentum, angedeutet. Das ist natürlich kein religiöser Bereich. Ich habe in meinem Buch versucht, das auch in den Bereichen der Musik, der Architektur und der Kunst aufzuzeigen. All das, würde ich sagen, gehört zu diesem Begriff. Ich habe keine Formel, die in einem Satz jüdische Kultur definieren kann. Das ist, denke ich, auch sehr schwierig. Aber es ist sicherlich die Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft, mit der jüdischen Identität, die sich auf verschiedenen kulturellen Ebenen äußern kann. Ich meine z.B., dass selbst eine Schrift wie Alfred Döblins Reise in Polen ein Stück dieser Kultur ist, die eben nicht mehr religiös geprägt ist. Ich will damit nicht sagen, dass es keine jüdische Religiösität oder Religionsausübung oder religiöse Praxis in der Weimarer Republik mehr gab, auch hier gab es sogar gewisse Wiederbelebungen in einer Zeit der Krise, füllten sich so manche Synagogen auch wieder, aber das finde ich eigentlich für diese Zeit das weniger Repräsentative. Das ist sozusagen das, was als Kontinuum aus der Zeit der Emanzipation bestand. Dass Vertreter wie Leo Baeck und andere bedeutende Rabbiner weiterwirken, ist auch selbstverständlich. Mein Begriff, und da haben Sie vielleicht recht, ich hätte das noch etwas konkretisieren müssen, der Kultur ist hier einer, der sich jenseits der Religion bewegt, jenseits des Religiösen, und sich auf den Versuch bezieht, eine säkulare jüdische Kultur zu bilden. Ich denke, dass das heute auch eine gewisse Aktualität hat. Weil keiner nach heutigen Bezügen fragt, will ich das jetzt selber tun. Sie haben heute, vielleicht weniger in Deutschland, aber in Amerika z.B., eine große jüdische Gemeinschaft, die auch den Begriff der ethnic identity immer mehr für sich in Anspruch nimmt. Das ist in Deutschland noch immer sehr problematisch, obwohl sich auch hier eine Gesellschaft entwickelt, die immer komplexer wird. Man darf ja nicht vergessen, die wenigen Juden, die heute in Deutschland leben, sind natürlich nicht die einzige und größte religiöse oder anders geartete Minderheit, es gibt andere. Ich

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denke, dieses Konzept, das ein Rosenzweig und andere für die 20er Jahre entwickelten, hat gewisse Bedeutung, gewisse Relevanz auch im heutigen Kontext, vielleicht weniger auf die Juden bezogen. Aber ist es zum Beispiel möglich, dass Deutsche türkischer Herkunft und muslimischer Religion genauso selbstverständlich Deutsche sein können und trotzdem eine türkischsprachige oder muslimische wie auch immer definierte Kultur weiterführen? Da sind, trotz der unterschiedlichen Zeitumstände, gewisse Parallelen zu erkennen. Genauso denke ich, dass sich zum Beispiel im amerikanischen Judentum heute ganz ähnliche Fragen, vielleicht andere Antworten, ergeben wie im deutschen Judentum in den 20er Jahren, etwa: Muss eine Minderheit als Minderheit verschwinden, oder kann sie als Minderheit über das rein Konfessionelle, Religiöse hinaus bleiben? Gibt es auch andere Formen, das zu bewahren? Das ist, glaube ich, die große Frage, die dahinter steckt.

Dieter Dowe:

Daran möchte ich direkt anschließen: Ist die Herstellung einer ethnic identity heute schwieriger als zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland?

Michael Brenner:

Der Begriff existierte natürlich damals nicht, und ich denke, er wäre leichter auch von der Umwelt akzeptiert worden. Ignatz Bubis z.B. hat in seinen autobiographischen Aufzeichnungen gesagt: Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er hat das dann selber oft wieder zurückgenommen. Denn eigentlich ist der Begriff historisch besetzt, und diese Idee „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" haben wir wohl heute auch gar nicht mehr nötig. Wir sehen, die Synagogen stehen mindestens genauso leer wie die Kirchen. Die meisten Juden identifizieren sich vielleicht doch nicht über das Religiöse. Natürlich, sie kreuzen im Einwohnermeldeamt unter Religionszugehörigkeit „jüdisch" an, während sie in Israel in ihrer Identi-

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tätskarte unter Nationalität „Jude" stehen haben. Da haben Sie schon die Unterschiede. Es gab auch vor Jahren die Diskussion, ob sich die Juden als nationale Minderheit definieren sollten. Das wurde natürlich auch stark abgelehnt. Der Begriff der ethnischen Identität hat einen gewissen breiteren Spielraum, allerdings auch in einem Kontext, wie in Amerika, der anders aussieht und von vielen ethnischen Gruppen geprägt ist. Ich denke, dass in einem Europa, das nicht nur religiös, sondern auch ethnisch immer vielfältiger wird, dass hier sich der Begriff - vielleicht wird es einmal auch einen neuen Begriff geben - der „kulturellen Minderheit" neben dem des Religiösen abzeichnen muß. Ich glaube, das Religiöse hält sich deswegen, weil es sozusagen das einzige offiziell Tragbare ist.

N.N.:

Ich bin keine Wissenschaftlerin, sondern spreche aus meinem persönlichen Empfinden heraus. Für mich ist ein großer Bestandteil der Kultur der Juden, dass sie immer wieder versucht haben, zum Dialog zu kommen, sowohl auf nationaler Grundlage, als auch auf religiöser Grundlage. Das ist für mich ein Erlebnis, denn wir Christen und Juden haben die gleiche Bibel, die hebräische Bibel, die ich so nenne. Das sogenannte „Alte Testament" ist maßgebend auch für die Juden, und wir haben die wichtigsten Dinge aus dieser Bibel übernommen, z.B. das Wort: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst." Ich bin dankbar all den Juden in Deutschland, die wirklich ehrlich auf die Deutschen zugegangen sind und einen ganz ehrlichen Dialog gesucht haben. Ich denke da z.B. an Professor Pinchas Lapide, der vor ein oder zwei Jahren gestorben ist, und seine Frau.

N.N.:

Sie haben im Grunde nur von gewissen Tendenzen der jüdischen Hochkultur in Deutschland gesprochen. Wie verhält es sich aber

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mit der jüdischen Alltagskultur, wie sie sich seit dem Mittelalter herausgebildet hat?

N.N.:

Der Diskussionsleiter hat eben schon eine Nuancierung der Fragestellung angeregt, indem er sagte: Haben wir eigentlich die jüdische Kultur deutscher Juden geprüft? Ich frage mich, ob wir noch einen Schritt weitergehen und als unsere Fragestellung formulieren sollten „die Kultur deutscher Juden." Aus folgendem Grunde: Wir hörten eben, dass Ignatz Bubis zitiert wurde. Er sagte, es gebe eigentlich keine jüdische Kultur. Ich erinnere mich an die Aussage eines jüdischen Historikers, dessen Name mir entfallen ist, der sagte: Eine eigene Kultur haben die Juden nicht. Sie haben aber jedes Mal jeweils die Kultur ihrer Umgebung mitgetragen, in der sie lebten. Der Vortragende erwähnte ein wichtiges Element, das auch in diese Richtung geht, indem er sagte: Die Juden in Deutschland hatten jüdisches Erbe und lebten in der deutschen Geisteswelt. Die Frage, die ich mir stelle, und deswegen die Nuancierung der Fragestellung: Ist es nicht ein ganz wichtiges Charakteristikum, Positivum möchte ich sogar sagen, dass Juden in Deutschland eine geistige Symbiose herstellten oder in sich trugen von jüdischer Tradition und deutschem Geistesleben, jüdischem Geistesleben und deutscher Tradition, etwas, was im übertragenen Sinnen auch für andere ausländische Gemeinden etwa in Deutschland heute gilt: die Symbiose zweier Kulturen?

Iring Fetscher:

Ignatz Bubis wollte - so nehme ich an - auf den deutlichen Unterschied zwischen dem Verhältnis deutscher Juden zur nichtjüdischen Kultur und dem der Juden Russisch Polens und Galiziens zur polnischen und russischen bzw. ukrainischen Mehrheitskultur hinweisen. Ein erheblicher Teil der dem Bürgertum ange-

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hörenden deutschen Juden empfand sich nicht nur als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", sondern auch als zu dieser deutschen Kultur Zugehöriger, einer Kultur, zu der nicht wenige Juden wie Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Berthold Auerbach wesentlich beigetragen hatten. Den im „Ansiedlungsrayon" lebenden Juden war eine ähnliche Haltung gegenüber der polnischen, ukrainischen oder russischen Kultur nicht möglich. Sie waren rechtlich „ausgegrenzt" und durften zumeist ihre ländlichen und kleinstädtischen Wohngebiete nicht verlassen. So entstand hier eine eigenartige jüdische Kultur, die so gut wie vollständig durch die nationalsozialistische Judenverfolgung ausgelöscht worden ist. Einzelne jüdische Familien konnten sich - auf Grund zaristischer Sondergenehmigungen - aus diesen ländlichen Gebieten entfernen. Die Eltern Rosa Luxemburgs z.B. erhielten die Erlaubnis, sich nach Warschau zu begeben, wo Rosa Luxemburg ein russisches Gymnasium besuchte. Als ich vor zwanzig Jahren in Tel Aviv ein Seminar über die „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" abhielt, wurde von einigen Studenten gegen Rosa Luxemburg anklagend eingewandt, sie habe es nicht für notwendig gehalten, Jiddisch zu sprechen. Um für sie Verständnis zu wecken, musste ich zugeben, dass die meisten marxistischen Sozialisten wenig Verständnis für das Bedürfnis - namentlich kleiner ethnischer Gemeinschaften - nach Bewahrung ihrer kulturellen Tradition hatten. Sie waren davon überzeugt, dass davon in einer emanzipierten Weltgesellschaft - nach der großen proletarischen Revolution - nichts mehr übrig bleiben werde. Rosa Luxemburg empfand die jiddische Kultur als Kennzeichen sozialer Marginalisierung und historischer Rückständigkeit. Sie hatte auch kaum Verständnis für polnische nationale Unabhängigkeitsbestrebungen im Rahmen des zaristischen Russland.

Ignatz Bubis hat darauf hingewiesen, wie unterschiedlich das Verhältnis deutscher Juden im Vorkriegsdeutschland und polnischer bzw. ukrainischer und galizischer Juden zu ihrer jeweiligen Umwelt war.

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Michael Brenner hat einen Abriss der Geschichte der Bedeutung der jüdischen Kultur für in Deutschland lebende Juden gegeben. Während Moses Mendelssohn seinen Zeitgenossen die jüdische Tradition in deutscher Sprache und hebräischen Lettern nahebringen wollte, versuchte rund hundert Jahre später Franz Rosenzweig kulturell weithin assimilierten Juden in der Weimarer Republik ihre kulturellen Wurzeln aufzuzeigen. Dass er dabei einen Lernprozess in Gang zu setzen suchte, an dem Lehrende und Lernende zugleich neu anfangen mussten, ist ein Indiz für den fortgeschrittenen Zustand der Assimilation an die deutsche Umwelt. Der fatale Erfolg der „Judenzählung" im deutschen Heer und die demagogische Verstärkung des Antisemitismus dürften ein Gefühl des Scheiterns jener viel beschworenen „jüdisch-deutschen Symbiose" ausgelöst haben. Zugleich tauchte eine Erkenntnis auf, die uns heute - ganz allgemein - besser vertraut ist - die Erkenntnis nämlich, dass ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Identität in einem politischen Gemeinwesen nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert und befreiend ist. Die ironisch von Heinrich Heine apostrophierte „Eintrittskarte in die europäische Kultur", die Konversion zum Christentum, wird in einer Gesellschaft, in der nur noch eine starke Minderheit sich zum Christentum bekennt, vollends sinnlos und überflüssig.

Heinrich Potthoff:

Mich hätte es natürlich auch gereizt, noch ein paar Hinweise zu Weimar zu geben, weil ich ein Interpretationsraster heranzuziehen versucht hätte, dass nach dem Zerfall der Klammer des Kaiserreichs, dieser ganzen Symbolik, sich diese Gesellschaft in der Republik natürlich insgesamt viel stärker segmentiert hat. Nur anknüpfend an das, was Herr Fetscher zum Schluss sagte, wollte ich auch eine kleine Anmerkung machen zu dem Begriff der ethnic identity, die meines Erachtens auf ein gefährlich abschüssiges Gleis führt. Wenn Sie sich die Entwicklung in Europa und

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weltweit nach dem Zerfall der Sowjetunion anschauen, zeigt sich genau das Problem, dass Konfliktsituationen daraus entstehen, weil man die eigene Identität, die eigene Wertigkeit, nur aus der Ethnie bezieht. Ich denke, man muss begrifflich aufpassen, dass man etwas anders operiert, und ich würde sehr viel eher dazu neigen, am Begriff der Multicultural Society anzuknüpfen, wie ihn Trudeau einmal für Kanada verwandt hat. Ich würde also viel stärker abheben auf einen sozio-kulturellen Zusammenhang, der mit bestimmten Inhalten und gewissen verbindenden Werten verknüpft ist und der eigenen kulturellen Besonderheit Raum lässt. Das, denke ich, wäre, wenn Sie Ihren Vortrag weiterführen, ein fruchtbarer Anklang für einen Epilog.

Michael Brenner:

Ich will von hinten beginnen. Ich kann Ihnen nur zustimmen. Ich denke, dass man verschiedene Begriffe verbindet mit diesem englischen Begriff, den man auch nur als ethnisch ins Deutsche übersetzen kann. In Europa ist das in letzter Zeit durch ethnic cleansing und durch diese Dinge sehr stark vorbesetzt. Das ist natürlich ein ganz anderer Bezug in einer tatsächlich multikulturellen Gesellschaft wie der amerikanischen, wo sich diese Gruppen in ganz anderem Sinne, nicht als abgrenzend, sondern als auf ihre eigene Tradition besinnend der Sphärenterminologie von Rosenzweig bedienen. Ich stimme mit dem völlig überein. Diese Idee des Multikulturellen wäre wahrscheinlich die logische Fortsetzung dessen, was den Juden um Rosenzweig vorgeschwebt hat. Dass die Weimarer Republik in einer Art neuartigem Pluralismus Bedingungen schuf, die vorher nicht in diesem Maße vorhanden waren, ist klar, allerdings wahrscheinlich auch Bedingungen, die wirklich nur für die erste Hälfte der Weimarer Republik in diesem Ausmaß zutrafen, indem es auch noch ganz andere Kulturen, auch nichtdeutsche Kulturen gab, wie etwa die sehr stark russische Kulturlandschaft, in der sich auch die ostjüdische Kultur ausprägen konnte. Wir vergessen z.B. meist, wenn

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wir von hebräischer Kultur sprechen, dass das Zentrum dieser Kultur in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und dann noch, eingeschränkt, in Bad Homburg war, wo einige der größten hebräischen Schriftsteller lebten. Fast alles, was auf diesem Gebiet Rang und Namen hatte, war damals in Deutschland, wie natürlich auch viele russische nichtjüdische und Russisch schreibende Schriftsteller.

Aber das führt mich zu der Frage oder eher Feststellung von vorher, ob man von einer jüdischen Kultur in Deutschland sprechen kann oder ob es überhaupt eine jüdische Kultur gibt. Diese Frage ist für mich eigentlich keine Frage. Was ist denn eine zumindest jiddische oder hebräische Kultur in Osteuropa? Ist das keine jüdische Kultur? Aber warum nicht auch in Deutschland? Wenn sie deutschsprachig ist, kann sie dann keine jüdische Kultur sein? Ist eine Wissenschaft des Judentums, die sich ganz bewußt so entwickelt und verstanden hat, ist eine Kunst, die sich z.B. an rituellen jüdischen Gegenständen orientiert, ist eine Literatur, die meinetwegen deutschsprachig ist, sich aber auch ganz gezielt als jüdisch versteht, keine jüdische Kultur? Ich denke, dazu gibt es eigentlich in der Forschung keine Fragen. Die Frage ist, wo man die Grenzen setzt, wie man sie definiert. Und da war natürlich die Frage vorhin durchaus berechtigt. Man muß immer wieder versuchen zu definieren. Vielleicht hat Scholem das wie Vieles etwas harsch ausgeprochen. Er sagte: Zunächst hat man die Juden als Juden ermordet, und dann hat man versucht, ihnen nachträglich auch noch ihr Judentum abzusprechen, indem man immer von dieser Symbiose sprach, als ob es gar keine Eigenständigkeit gegeben hätte. Es klingt so, als ob es eine eigenständige jüdische Kultur gar nicht geben durfte oder sollte. Waren die Juden denn deswegen weniger deutsch? So will ich ein wenig polemisch fragen. Ich denke: nein, so wie Rosenzweig das formuliert hat. Diese Orientierung muß sie nicht weniger deutsch machen, sie ist natürlich eine Frage der Definition. Ist ein deutsch-türkischer Schriftsteller, der nun auch auf Türkisch einen Roman verfasst, deswegen weniger deutsch als jemand,

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der vor drei oder vielen Generationen nach Deutschland eingewandert ist? Ist ein deutscher Jude, der 1850 aus Posen kam, nun weniger deutsch als einer, der seine Vorfahren bis ins Mittelalter zurückverfolgen kann? Es hat viel mit diesen Begriffen zu tun bei dieser unseligen Debatte anlässlich der Formulierung des Staatsbürgerrechtes. Das war ja immer wieder zu lesen. Vieles ist hier wieder zurückgekommen. Es hat wahrscheinlich auch viel damit zu tun, dass dieser Emanzipationsprozess in Deutschland ein so langer und schwieriger Prozess war, der über hundert Jahre dauerte, etwa im Gegensatz zu Frankreich, wo im Zuge der Revolution 1790 und 1791 die Juden gleichberechtigte Bürger wurden.

Es gab eine andere Frage, die auftauchte, nach der Elite, die wir hier behandelt haben. Wie sah es mit anderen aus? Man muss dazu sagen, obwohl ich vorhin selber differenziert habe: Es gab zwar diese und jene Gruppen, doch die deutschen Juden um 1930 waren schon eine sehr stark bürgerlich-städtisch geprägte Gesellschaft. Man muss sich vor Augen halten, dass fast ein Drittel aller deutschen Juden allein in Berlin lebten, 170.000 nur eingetragene Gemeindemitglieder, dass in den sechs oder sieben größten jüdischen Gemeinden über die Hälfte der deutschen Juden vereint war. Natürlich gab es noch Überreste des Landjudentums der kleinen Gemeinden, wahrscheinlich aber doch nur noch Überreste. Und die Tendenz war eindeutig, schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entweder Zuzug in größere Städte oder Auswanderung nach Amerika hieß es damals. Das bedeutete nicht immer, aber meistens, Aufstieg in ein Bürgertum, nicht immer in das obere Bürgertum, aber in bürgerliche Schichten. Es hielten sich natürlich auf dem Lande noch einige - Hausierer gab es nur noch ganz wenige. Das war vorbei -Viehhändler in den 20er Jahren aus den hessischen, bayerischen und badischen Kleingemeinden, die in nicht unerheblichem Ausmaß Juden waren. Was nicht heißt, dass die Juden in relativ hohem Prozentsatz in diesen Gegenden Viehhändler waren. Dort gab es eine Kultur, die tatsächlich anders war.

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Diese Kultur kann man unter dem Stichwort Renaissance gar nicht zusammenfassen. Das waren ja eher die Kontinuitäten, die diese prägte. Aber ich finde es ganz wichtig, dass man auch darauf hinweist. Übrigens ist die großgeschriebene Kultur ja auch nicht immer wirklich Hochkultur. Es gab z.B. in der deutsch-jüdischen Literatur unzählige Fortsetzungsromane in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften, die genauso dazugehörten, die wir nur heute nicht mehr kennen. Es gab natürlich nicht nur diese Musikleistung, von der ich vorhin sprach, die an Brecht, Hindemith, Kurt Weill anklang, sondern die an die traditionellen jüdischen kantoralen Töne anklang usw. Es gab natürlich nicht nur die Elitekultur.

Schließlich noch zu der Frage, inwieweit die deutsche jüdische Kultur in Israel fortgesetzt wurde. In jeder jüdischen Gemeinde gibt es immer große Auseinandersetzungen. Sie wissen, zwei Juden - drei Meinungen. Auch in Israel und Palästina gab es damals diesen bekannten Spruch, weil man ja wusste, die deutschen Juden waren nicht in ihrer Mehrzahl große Zionisten. Scholem, der 1923 emigrierte, war einer der ganz wenigen Zionisten, die auch tatsächlich emigrierten. Dann sagte man, als die deutschen Juden in den 30er Jahren kamen: Kommen Sie aus Deutschland oder kommen Sie aus Überzeugung? Das fragten natürlich die osteuropäischen Juden, die viel mehr aus Überzeugung kamen. Die deutschen Juden kamen, weil sie kommen mußten. Sie hielten dort teilweise und unter sehr schwierigen Bedingungen, meistens im privaten Rahmen, ihre Kultur aufrecht, weil die deutsche Sprache in den 30er, 40er Jahren und darüber hinaus in Israel nicht gerade sehr gut angesehen war in der Öffentlichkeit. Ich erinnere z.B. an einen Anschlag auf Arnold Zweigs deutschsprachige Zeitung in Israel, die er dann schließen musste. Das gab es natürlich. Deswegen ist es auch sehr schwierig, von einer Fortsetzung dieser Kultur in Israel zu sprechen.

Ich will abschließend nur noch eins klarstellen. Natürlich ging es mir um diese jüdische Kultur, wie auch immer man sie

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definiert, die es wohl auch in Deutschland gab. Daneben gab es eine andere Kultur, die die deutschen Juden prägte. Da stimme ich mit Ihnen auch überein. Natürlich gab es, und das ist auch unbestritten und deswegen habe ich darüber auch gar nicht sprechen wollen, die vielen Liebermanns und wie immer sie hießen, Schriftsteller, Maler, Musiker, die wir alle kennen. Wenn man mal genau an der Oberfläche kratzt, könnte man von Liebermann bis hin zu vielen anderen - ich habe ja Kerr und Jacobsohn erwähnt - auch Beispiele von Aussagen finden, die sich so im Kaiserreich wahrscheinlich nicht gefunden hätten, die von einer Art von Skepsis zeugen, wie sie dann 1933 zu Recht herausbrach. Max Liebermann schreibt etwa in einem Brief an den Bürgermeister von Tel Aviv Meir Dizengov und den hebräischen Nationaldichter Bialik 1933, er sei nun aus seinem Traum aufgewacht, den er zu lange geträumt habe, dem der deutsch-jüdischen Assimilation.

Dieter Dowe:

Vielen Dank, Herr Brenner. Ich will darauf verzichten, die Ergebnisse dieses Gesprächs zusammenzufassen. Sie haben eben darauf hingewiesen, dass die Renaissance des Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht Ausdruck einer deutsch-jüdischen Symbiose werden sollte und sein sollte, aber doch Ausdruck eines bewußten Zusammenlebens, einer bewußten Begegnung, und um diese bewußte Begegnung sollte es uns auch weiterhin gehen. Auch hier hat sich bei Ihren Ausführungen gezeigt, wie wichtig der Satz ist: Nur, wer weiß, woher er kommt, weiß, wer er ist, und wird daraus die Kraft zur schöpferischen Gestaltung der Lebensverhältnisse gewinnen können. Das heißt natürlich auch Anerkennung der Verschiedenheit, der Unterschiedlichkeit. Es gibt in der Tat unterschiedliche Welten auch im Judentum in Deutschland wie in Europa. An diesem Problem werden wir diskutierend und in Gesprächen weiterarbeiten in unserem Gesprächskreis.

[Seite der Druckausg.: 45-47]

HINWEIS:
Auf den Seiten 45 - 47 der Druckausgabe ist eine Übersicht zu den bisher erschienenen Ausgaben der
Reihe "Gesprächskreis Geschichte" abgedruckt.
In der Online-Ausgabe ist diese Reihenübersicht nicht enthalten.
Bitte benutzen Sie den
LINK auf die Reihen-Abfrage im Katalog der DIGITALEN BIBLIOTHEK der FES
um sich über den aktuellen Stand der Reihe "Gesprächskreis Geschichte" zu informieren.


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