FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT: ANHANG: DOKUMENTE
[16.]
EV Nr. 76 v. 1.4.1930 Die Erklärung des Reichskanzlers Hermann Müller am 13. März, daß die Republik gesichert sei, sei hundertprozentig wahr, wenn man unter Republik die Abwesenheit der Monarchie verstehe. Aber es gehe nicht um einen monarchenlosen Staat, sondern um die Demokratie und damit den Inhalt des republikanischen Staates. Wer ist der Träger des Abwehrkampfes? Das Reichsbanner ist gewiß sehr stark daran beteiligt. Aber die wichtigste Aufgabe liegt bei den Parteien. Der Sozialdemokratischen Partei Württembergs kann man in dieser Hinsicht kaum einen Vorwurf machen. Sie hat getan, was möglich war. Die nationale Rechte in Deutschland hat den innerpolitischen Kampf immer mit außenpolitischen Parolen geführt; in Österreich hat man diese Maskierung der Klassengegensätze nicht mehr nötig gehabt. In Hugenberg stellen sich uns die antirepublikanischen Wirtschaftskreise entgegen, die aus wirtschaftsegoistischen Gründen die Arbeiterschaft entrechten wollen. Seldte [Franz Seldte (1882-1947). Im Dez. 1918 Begründer des deutschnationalen Frontkämpferbundes „Stahlhelm", 1931 Mitinitiator der „Harzburger Front". 1933-45 Reichsarbeitsminister.] ist der Repräsentant der restaurationsbedürftigen Militaristen des Vorkriegsdeutschland. Hitler dagegen ist ein moderner Faktor im Klassenkampf des Großbesitzes. Die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland ist aus ihrem unklaren Programm, das ein permanenter geistiger Diebstahl an allen Wirtschaftstheoretikern ist, überhaupt nicht in ihrer historischen Stellung zu verstehen. Das Hakenkreuz will die nationale Idee zur Verkleidung klassenmäßiger Ziele, obwohl dicht daneben stets der nationale Verrat steht, wie das Beispiel Südtirol zeigt. Die chauvinistischen Führer selbst empfinden in allen Ländern niemals Nationalhaß. Sie betrachten die Sache viel materieller und nüchterner, selbst sportlicher, als die Nachläufer. Die Massen sind für sie nur Material. Der gleiche Schwindel wie mit der nationalen Idee wird mit der Rassenidee getrieben, die heute wissenschaftlich erledigt ist. Die Entwicklung drängt auch in der Agitation die nationale Idee zugunsten der sozialen zurück. Auch der Kampf gegen die Demokratie vollzieht sich heute zum großen Teil unter sozialer Phraseologie. Die Nationalsozialisten geben sich schroff antikapitalistisch. Die Unterscheidung zwischen schaffendem und raffendem Kapital ist unmöglich. Wer von Kirdorf [Emil Kirdorf (1847-1938), Unternehmer. 1892-26 Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks AG, gründete 1926 die Vereinigten Stahlwerke AG. - Kirdorf unterstützte bereits vor 1929 Hitler und die NSDAP.] Geld nimmt, nimmt es indirekt auch von den jüdischen" Großbanken. Die jüdische Großbourgeoisie hat mit dem Nationalismus längst Frieden geschlossen. Der Stoß der Nationalsozialisten richtet sich nicht gegen das Kapital, sondern in erster Linie gegen die Sozialdemokratie und die sozial empfindenden linken Schichten des Bürgertums. Daß er sich nicht gegen die Kommunisten richtet, wissen wir aus Erfahrung. Der Weg der leider ziemlich zahlreichen proletarischen Hakenkreuzler geht über die Kommunisten, die in Wirklichkeit nur rotlackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten sind. Beiden ist gemeinsam der Haß gegen die Demokratie und die Vorliebe für die Gewalt. Die Kommunisten zumal, die nur in ökonomisch und kulturell zurückgebliebenen Ländern Fortschritte machen konnten, sind die stehenden Heere der sowjetrussischen Außenpolitik. Sie sind solange nicht gefährlich gewesen, als sie den Linkskurs á la Thälmann [Ernst Thälmann (1886-1944). 1903 Eintritt in die SPD, 1918 USPD, 1920 KPD. Seit 1922/23 einer der Führer der linken Opposition. Seit 1925 nach der Absetzung der Ruth-Fischer-Maslow-Gruppe Parteivorsitzender. Am 3.3.1933 verhaftet, im August 1944 in Buchenwald erschossen.] und Neumann [Heinz Neumann (1902-?). 1920 Eintritt in die KPD, seit 1922 hauptamtlicher Funktionär. Seit 1925 „einer der aktivsten Streiter für die Bolschewisierung der KPD" (H. Weber). 1930 MdR, im Oktober 1932 aller Funktionen enthoben. Ab 1935 in Moskau lebend, 1937 durch den NKWD verhaftet, dann verschwunden.] hielten. Die jetzt vollzogene Schwenkung soll die sozialdemokratische Führerschaft von den sozialdemokratischen Massen isolieren. Das wird nicht gelingen, aber in Perioden wirtschaftlicher Depression ist schon der Versuch peinlich, wenn auch weniger für die Sozialdemokratie, als für die Republik. Faschismus und Kommunismus haben es verstanden, den Aktivismus der Jugend für sich einzuspannen. Das republikanische Parteienwesen hat zu wenig Platz für die Betätigung des jugendlichen Elans. Die Generation, die 1918 auf den Höhepunkt ihres politischen Schaffens gelangte, hat sich allzu häuslich eingerichtet. Viele der besten Jungen in Deutschland sind heute politisch heimatlos. Der überparteiliche Charakter des Reichsbanners darf uns auch nicht hindern auszusprechen, daß das süddeutsche Zentrum bereits sehr stark von den Ideengängen Seipels [Ignaz Seipel (1876-1932), österreichischer Politiker. 1921-29 Vors. der Christlichsozialen Partei, Mai 1922 - November 1924, Oktober 1926 - April 1929 Bundeskanzler. Seipel war ein Verfechter eines an berufsständischen Vorstellungen orientierten Gesellschaftskurses, er bekämpfte stark die österreichischen Austromarx isten, u.a. durch die Förderung von Heimwehren.] angesteckt ist. Eine gleichfalls gefährliche Taktik bahnt sich auch in dem Bündnis Brüning [Heinrich Brüning (1885-1970), 1924 MdR (Zentrum), 1929 Fraktionsvorsitzender. März 1930-Mai 1932 Reichskanzler. 1934 Emigration in die USA, später England. Vgl. H. Graml: Heinrich Brüning, in: Benz/Graml (Hg.), Biographisches Lexikon, S. 47f.] -Treviranus [Gottfried Reinhold Treviranus (1891-1971), 1912-18 Marineoffizier, 1924 MdR (DNVP, ab 1930/31 Konservative Volkspartei. Treviranus trat im März 1930 in das 1. Kabinett Brüning als Reichsminister für die besetzten Gebiete ein, ab September 1930 Reichskommissar für die Osthilfe, Oktober 1931-Mai 1932 Reichsverkehrsminister. 1934 Emigration, 1949 Rückkehr nach Deutschland. Vgl. I. Geiss: Treviranus, in: Benz/Graml (Hg.), Biographisches Lexikon, S. 345f.] an mit den Phantasten von Torydemokraten" und christlichem Konservativismus. Die Parteienkrise im Bürgertum bedeutet die Verdrängung des liberalen Gedankens und die Konzentrierung des Bürgertums dort, wo die klassenpolitischen Fragen am klarsten durchbrechen. Das Bürgertum darf aber nicht vergessen, daß der Staat, der aus dieser Entwicklung entstehen könnte, die Obrigkeitsrepublik und damit bald auch die Staatsferne der deutschen Arbeiterschaft bedeuten würde. In Deutschland kranken wir seit zehn Jahren daran, daß der Republik die Ruten und Beile" fehlen, daß vom Kapp-Putsch angefangen eine Reihe schwerer Verfassungsbrüche ungesühnt geblieben sind. Das Wort Clemenceaus [Georges Clemenceau (1841-1929). 1906-09, 1917-20 französischer Ministerpräsident.] sollte in allen Fraktionszimmern aufgehängt werden, daß es kein besseres Mittel gibt, den Gegner zu immer neuen unverschämten Forderungen zu veranlassen, als die Politik unaufhörlicher Zugeständnisse. Die Klassengegensätze haben sich verschärft. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß der gute Wille der republikanischen Parteien über diese Tatsache weghelfen kann. Finanzreform, Arbeitslosenversicherung, sind klassenpolitische Fragen, die mit der Reichsbannerideologie nichts zu tun haben. Die große Einstimmigkeit, mit der die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Beschluß faßte, der zum Rücktritt der Regierung Müller führte, beweist, daß das klassenpolitische Moment sehr stark in den Vordergrund gerückt ist. Nun muß es das Ziel und die Aufgabe der Sozialdemokratie sein, auch in der Opposition ihre Ansprüche an die Staatsmacht zur Geltung zu bringen. Es wird jetzt wieder viel von der Staatskrise und von der Krise des Parlaments gesprochen. In Wahrheit handelt es sich um eine Krise der parlamentarischen Parteien. Die schlimmsten Feinde des Parlaments sind leider viele Parlamentarier in allen Parteien. Ein Parlament, das sich nicht als Exekutivorgan des Volkswillens fühlt, gibt sich selbst auf. Wir leiden nicht an einem Zuviel, sondern an einem Zuwenig an Demokratie. Solange Wehrmacht, Wirtschaft und gewisse früher privilegierte Volksschichten nicht unter den Buchstaben der Verfassung gezwungen sind, wird die Demokratie nicht zu ihrer vollen Wirkung kommen können. Wir sind in Vorgefechten von entscheidender Bedeutung. Sollten die andern den Staat zu ihrem Obrigkeitsstaat machen und damit die Arbeiterschaft vom Staat wegdrängen, oder wollen wir den Staat zum sozialen Volksstaat ausbauen? Um diese Frage geht es. Es ist bezeichnend, daß es gerade in einer Frage wie der Arbeitslosenversicherung nicht zu einem Entgegenkommen des Besitzes kam. Man sollte endlich aufhören, die deutsche Arbeiterklasse staatspolitisch erziehen zu wollen. Sie hat in der Vergangenheit hundertmal mehr staatspolitische Einsicht bewiesen als viele Gutsbesitzer. Für uns gilt es heute, das Volk wachzurufen, ihm zu zeigen, was die Stunde geschlagen hat. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000 |