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Dieter Dowe

Ferdinand Lassalle (1825 - 1864)
Ein Bürger organisiert die Arbeiterbewegung


„Revolution heißt Umwälzung, und eine Revolution ist somit stets dann eingetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt - auf die Mittel kommt es dabei gar nicht an - ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustandes gesetzt wird."

Wer dächte bei diesem Zitat nicht an die friedliche Revolution 1989 in der DDR! Und doch sind diese Worte 125 Jahre älter. Sie stammen von Ferdinand Lassalle und sind unmittelbar gegen die Revolutionsvorstellungen des um sieben Jahre älteren Karl Marx gerichtet. Lassalle oder Marx - das war in der Sozialdemokratie nicht nur des 19. Jahrhunderts immer wieder die Frage. Ihre Beantwortung hing sehr von den jeweiligen Zeitumständen ab.

Marx schien gegen Ende des 19. Jahrhunderts Lassalle den Rang abgelaufen zu haben, als der Marxismus mit der Annahme des Erfurter Programms 1891 offiziell zur Theorie der Sozialdemokratie wurde. Und doch hat Lassalles Denken und Wirken in vielfältiger Hinsicht die Sozialdemokratie nachhaltig geprägt und ihm einen zentralen Platz in der „Ahnengalerie" der SPD verschafft.

    „Nicht zählen wir den Feind,
    Nicht die Gefahren all’,
    Der Bahn, der kühnen, folgen wir,
    Die uns geführt Lassalle."

So heißt es in einem der früher beliebtesten deutschen Arbeiter-lieder, Jakob Audorfs sogenannter „Arbeiter-Marseillaise". Mit ihr klangen bis zum Beginn der Weimarer Republik die meisten Parteitage der SPD aus. Für Max Kegel war Lassalle ein „hellleuchtender Stern am Himmel unserer Zeit, zu welchem viele Tausende hoffend aufblickten". Und eine bekannte Darstellung der Jahrhundertwende zeigt als Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie in einem gro-

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ßen Porträt Ferdinand Lassalle, eingerahmt von zwei kleineren Porträtmedaillons, die Karl Marx und Friedrich Engels darstellen.

Darin zeigt sich die überragende Rolle, die Lassalle in der sozialdemokratischen Tradition als Begründer der deutschen Sozialdemokratie einnahm und auch heute noch einnimmt.

Diese historische Einstufung als „Erwecker der deutschen Arbeiterbewegung", wie Eduard Bernstein formulierte, verdankt Lassalle der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Dieser ADAV trat am 23. Mai 1863 auf Lassalles Betreiben in Leipzig ins Leben und entwickelte sich zur ersten deutschen Arbeiterpartei.

Entspricht dieses Traditionsverständnis der SPD aber wirklich der realen historischen Entwicklung? In einem bestimmten Sinne kann man diese Frage mit „Ja" beantworten, insofern nämlich mit dem ADAV die Epoche kontinuierlicher Organisation der deutschen Arbeiterbewegung anhob, die selbst durch Phasen der Unterdrückung nur vordergründig unterbrochen wurde. Wenn aber mit diesem Gründermythos die weitverbreitete Vorstellung verbunden wird, als habe Lassalle die deutschen Arbeiter sozusagen aus dem Nichts heraus mit der Willenskraft eines Titanen zusammengeführt und organisiert, so entspricht diese Ansicht keineswegs dem Stand der historischen Forschung seit den 60er Jahren.

Ich werde im folgenden im ersten Teil auf die Jugendjahre Lassalles eingehen und dabei die Entwicklung seines Denkens sowie seine Verbindung mit der Gräfin Hatzfeldt behandeln. Anschließend werde ich im zweiten Teil Lassalles politisches Wirken vorstellen, seine Aktivitäten in der Revolution von 1848, sein Eingreifen in die sich entwickelnde Arbeiterbewegung der 60er Jahre und seinen Einfluß auf die Arbeiterbewegung der Folgezeit. Zum Schluß werde ich, drittens, den Versuch einer Einordnung Lassalles in die Gesamtgeschichte der deutschen Sozialdemokratie vornehmen.

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1. Lassalles Jugend, seine intellektuelle Entwicklung und die Verbindung mit der Gräfin Hatzfeldt

Ferdinand Lassalle wurde vor 175 Jahren, am 11. April 1825, als Sohn eines aufgeklärten, wohlhabenden jüdischen Seidenhändlers in Breslau geboren, wo er nach seinem frühen Tod im Duell am 31. August 1864 auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt wurde.

Schon als Kind entwickelte der junge Ferdinand große Energie, einen stark ausgeprägten Eigensinn und eisernen Willen, der sich über alle Widerstände hinwegzusetzen suchte. Nach zeitgenössischen Beschreibungen war er ungewöhnlich schön, hatte tiefblaue, sprechende Augen, intelligente Gesichtszüge und dunkles, kurzes Lockenhaar.

Nach ersten Jahren an Breslauer Gymnasien schickte Vater Heiman den 16jährigen nach Leipzig auf ein Institut für höhere kaufmännische Bildung, das er aber nach zwei Jahren zum Kummer des Vaters verließ. Denn er wollte, wie er sich ausdrückte, kein „Ladenschwengel" werden. Ihn interessierte die klassische Literatur des Altertums, ihn faszinierte auch die Dichtung eines Heinrich Heine, und er fühlte, ähnlich wie dieser, die Berufung zum demokratischen Dichter. Allerdings fehlte ihm das Talent eines Heine, und seine Dichtung, etwa das Drama „Franz von Sickingen", hatte mehr politisch-agitatorische als poetische Qualität.

An den Universitäten Breslau und Berlin studierte Ferdinand Lassalle klassische Philologie und Philosophie. In der idealistischen Philosophie Hegels fand er das entscheidende Bildungserlebnis, das sein Denken bis zu seinem Lebensende durch und durch prägte. Ganz im Gegensatz zu Karl Marx übernahm Lassalle von Hegel eine ausgesprochen hohe Wertschätzung des Staates, der für Lassalle die Funktion hatte, „die [...] Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen." Für ihn war der Staat die „Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, eine Einheit, welche die Kräfte aller einzelnen [...] millionenfach vermehrt". Diese durch und durch positive Staatsauffassung hat Lassalle der späteren deutschen Sozialdemokratie vererbt, die erst in den letzten Jahren beginnt, die Eigenverantwortlichkeit des Individuums stärker herauszustellen.

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Lassalle ließ sich auch nicht von den materialistischen Argumenten eines Ludwig Feuerbach oder eines Karl Marx an seiner tief verwurzelten Anschauung irre machen, daß letztlich die Ideen es sind, die den Verlauf der Weltgeschichte bestimmen. Er war der festen Überzeugung, der große Mensch müsse den Ideen nur seine Hand leihen, um ihre Durchsetzung zu beschleunigen bzw., wenn sich die Verhältnisse so weit entwickelt hätten, um sie in die Realität umzusetzen.

In dieser Möglichkeit, die Schnelligkeit und die Form der geschichtlichen Entwicklung hin zur Freiheit zu beeinflussen, sah Lassalle den subjektiven Freiheitsraum des Menschen. Er stellte sich diesen Prozeß der Verwirklichung der Freiheit nicht als ruhigen, kontinuierlichen Übergang vor, sondern als ruckartig erfolgende Entwicklung mit deutlich feststellbaren Wendepunkten, nämlich Revolutionen. Diese Revolutionen engte Lassalle aber, anders als sein zeitweiliger Mitstreiter und späterer Antipode Marx, nicht auf gewaltsame Aktionen ein, wie das zu Anfang angeführte Zitat belegt.

In einem ähnlichen Sinne schrieb er - daran knüpfte später Karl Kautsky gegen Lenin an: „Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den tatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und konsequente Durchführung geben."

Bereits als Student begann Lassalle die Arbeit an seinem philosophischen Hauptwerk über die Philosophie des griechischen Philosophen Heraklit. Nach Studien in Düsseldorf und Paris, wo er die Freundschaft Heinrich Heines erwarb, kehrte er zur Berliner Universität zurück, wo sich ihm glänzende wissenschaftliche Aussichten eröffneten. Der berühmte Alexander von Humboldt nannte ihn wegen seiner Geistesgaben oft ein „Wunderkind". Ähnlich begeistert hatte sich schon Heinrich Heine ausgedrückt: „Ich habe noch bei Niemand so viel Passion und Verstandesklarheit vereinigt im Handeln gefunden." Heine hatte also die ungeheure Tatkraft Lassalles frühzeitig erkannt.

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In Berlin traf der Zwanzigjährige auf die doppelt so alte Sophie Gräfin Hatzfeldt, „eine schöne und imposante Erscheinung", die mit einem Schlage Lassalles Leben veränderte. Mit 16 war sie in einer Standesheirat mit ihrem viel älteren Vetter, dem reichen und mächtigen Fürsten Hatzfeldt, verheiratet worden. Er nahm sich das Recht heraus, sie mit seinen Mätressen zu betrügen und sie immer wieder zu demütigen, bis sie sich leidenschaftlich widersetzte. Sie verweigerte sich ihm und ging an die Öffentlichkeit, statt sich nach den Konventionen der Zeit ihrem Mann und Gebieter unterzuordnen und still zu dulden. Der Fürst verstieß sie daraufhin, verhinderte jeden weiteren Kontakt mit ihren Kindern (außer einem) und entzog ihr schließlich die Alimente. Nicht einmal die eigenen Verwandten halfen Sophie. Da bot ihr Ferdinand Lassalle seine Unterstützung an.

Über sein Motiv berichtete er später: „Wo alle Menschenrechte beleidigt werden, wo selbst die Stimme des Blutes schweigt, und der hilflose Mensch verlassen wird von seinen geborenen Beschützern, da erhebt sich mit Recht der erste und letzte Verwandte des Menschen, der Mensch."

Mit der ganzen Kraft eines jungen Mannes stürzte Lassalle sich nun in juristische Studien, um als Anwalt in 9 Jahre dauernden Prozessen, die mit allen Tricks und Finten und mit viel schmutziger Wäsche geführt wurden, die Gräfin und schließlich auch sich selbst vor 36 Gerichten zu vertreten. Dabei wurde Lassalle außer von seinem ausgeprägten Rechtsgefühl und seiner Abneigung gegen das feudale Herrentum durchaus auch durch intimere Beweggründe bestimmt. Ob sich zwischen der Gräfin und Lassalle eine Liebesbeziehung entwickelte, muß offen bleiben. Vieles spricht allerdings dafür.

Auch nach dem Abschluß der in ganz Deutschland Aufsehen erregenden Prozesse blieb die Gräfin an Lassalles Seite und nahm in den 1860er Jahren erheblichen Einfluß auf die entstehende Arbeiterbewegung. Sophies Apanage und das von Lassalle erstrittene Erfolgshonorar ermöglichten ihm, der schon immer zu Luxus und Verschwendung geneigt hatte, ab 1854 eine aufwendige Lebensführung. Sein geradezu aristokratischer Lebensstil an der Seite der Gräfin wurde ein Stein des Anstoßes für manchen Lassalle-kritischen Arbeiter.

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2. Lassalles politisches Wirken:
Revolution von 1848/49 und Arbeiterbewegung der 60er Jahre


Schon als Achtzehnjähriger hatte sich Lassalle der Idee der sozialen Demokratie, der Aufhebung individueller Sonderrechte und der radikalen Verwirklichung des Gleichheitsprinzips verschrieben. Diese Idee verfocht er bis zu seinem Tode, für sie erlitt er persönliche Verunglimpfungen, für sie opferte er seine gerade erst begonnene wissenschaftliche Karriere.

Während der Revolution von 1848/49 war Lassalle bis zu seiner Verhaftung einer der Führer der Volksbewegung in Düsseldorf. Im sog. Volksklub und in öffentlichen Volksversammlungen kämpfte man für eine demokratische und soziale Ausgestaltung der preußischen und der deutschen Verfassung. Dabei trat Lassalle auch in persönlichen Kontakt zu Karl Marx und Friedrich Engels, die vom nahen Köln aus die demokratische und auch die entstehende Arbeiterbewegung des Rheinlandes stark prägten.

Lassalle rechnete sich selbst zu den Mitstreitern von Marx und Engels in der demokratischen Bewegung. Er blieb auch nach der Niederschlagung der Revolution eine der wenigen Vertrauenspersonen von Marx in Deutschland, nachdem fast alle Gesinnungsgenossen inhaftiert, geflohen oder emigriert waren.

Unter dem Einfluß sachlicher und persönlicher Differenzen verschlechterte sich das Klima zwischen Marx und Lassalle in den nächsten Jahren allerdings zusehends. Es wurde erst recht frostig, als Lassalle nach eigenen Vorstellungen an die Organisation der Arbeiterbewegung heranging und dadurch zu Marx in Konkurrenz trat.

Wie die meisten radikalen Revolutionäre von 1848/49, auch wie Marx und Engels, wartete Lassalle nach der Niederschlagung der Revolution und dem Sieg der Reaktion sehnlichst auf das Heranreifen einer neuen revolutionären Situation. Diese sollte endlich der europäischen Demokratie im Zusammenhang mit den nationalen Einigungsbewegungen den Sieg bringen. Diese Hoffnung knüpfte er besonders an den italienisch-österreichischen Konflikt von 1859 und an die

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preußische Verfassungskrise von 1862. Letztere bewog ihn zu einer intensiven demokratischen Agitation in Verbindung mit dem Nationalverein und dem linken Flügel der bürgerlich-liberalen Deutschen Fortschrittspartei.

Bald erkannte er aber im Gegensatz zu Marx, daß mit der Fortschrittspartei wie überhaupt mit dem bürgerlichen Liberalismus keine Schlacht für die Einführung einer demokratisch-sozialen Republik geschlagen werden konnte. Er war vielmehr fest überzeugt, daß Bismarck das liberale Bürgertum wie Teig in seiner Hand kneten konnte. Aus diesem Grunde sah sich Lassalle nach anderen Bundesgenossen zur Durchsetzung seiner Ideen um und fand sie schließlich in der Arbeiterschaft.

Hier sind eine kurze definitorische Zwischenbemerkung und ein Rückblick auf die Zeit vor der Revolution von 1848/49 erforderlich, um Mißverständnisse zu vermeiden:

Was verstand man um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter „Arbeiterschaft"? Der Begriff „Arbeiter" meinte nur zu einem ganz geringen Teil Fabrik- und Industriearbeiter, da im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die Fabrikindustrie in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte. Als Arbeiter verstanden sich damals - läßt man einmal die Landarbeiter außen vor - vor allem Angehörige handwerklich geprägter Schichten. Dazu zählten also a) Handwerksgesellen, b) Kleinmeister, die zwar nach außen hin formal als selbständig erschienen, aber in Wirklichkeit nur kümmerlich ihre Existenz fristeten und von Verlegern und Kaufleuten abhängig waren, c) Heimgewerbetreibende vor allem im Textilbereich, die in Krisenzeiten gelegentlich bis an die Grenze des Verhungerns gerieten. Gegenüber diesen Gruppen waren die in der Regel aus dem Handwerk hervorgegangenen Fabrikarbeiter in einer vergleichbar günstigeren sozialen Position.

Alles in allem rekrutierte sich die entstehende Arbeiterschaft aus recht heterogenen Elementen. Erst allmählich erkannten diese, daß es neben den trennenden Aspekten der verschiedenen Berufe viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. An erster Stelle ist hier die gemeinsame Erfahrung der Abhängigkeit im sich mehr und mehr durch-

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setzenden kapitalistischen Produktionsprozeß zu nennen, ebenso die Gleichheit ihrer Lebensrisiken - Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit. Zu dieser Erfahrung der Gemeinsamkeit bedurfte es natürlich einer gewissen Einsicht in die verzwickten Zusammenhänge, die der einzelne nur schwer allein und von sich aus erlangen konnte. Vereinigung, im zeitgenössischen Sprachgebrauch „Assoziation", war also das Gebot der Zeit.

So entwickelten sich bereits vor der Revolution von 1848/49 frühe berufsbezogene Hilfskassen auf Ortsebene, die in der Tradition der Zünfte standen, sodann einzelne Arbeiterbildungsvereine, die den städtischen Handwerkern bzw. Arbeitern aller Berufszweige Lesen, Schreiben, Rechnen, technisches Zeichen und dergleichen beibringen wollten. Bewußtseinsprägende und auch solidaritätsstiftende Funktion über die Ortsebene hinaus besaß das Gesellenwandern. Auf ihrer Wanderschaft kamen viele Gesellen auch ins Ausland. Zusammen mit demokratischen Intellektuellen, die aus politischen Gründen aus Deutschland geflohen waren, gründeten sie seit den 1830er Jahren in England, Frankreich und der Schweiz radikale Geheimbünde, vor allem den Bund der Gerechten und den Bund der Kommunisten, als dessen Programm Marx und Engels das berühmte Kommunistische Manifest verfassten.

In der Revolution erkämpften sich die Deutschen neben der Redefreiheit, der Presse- und Versammlungsfreiheit auch das Recht, sich ungehindert öffentlich zu Vereinen und Verbänden zusammenzuschließen. Nun konnten sich auch innerhalb Deutschlands Arbeiter organisieren. So entstanden Tausende von Volks- und Arbeitervereinen mit zum Teil beträchtlichen Mitgliederzahlen. Es gab auch schon erste Zusammenschlüsse im nationalen Ausmaß: Neben zwei frühen Gewerkschaftsverbänden, denen der Zigarrenarbeiter und der Buchdrucker, bildete sich auch ein Verband von Arbeitervereinen, die sog. „Arbeiterverbrüderung", die immerhin über 15.000 Mitglieder aufwies. Auf die „Arbeiterverbrüderung" geht übrigens das bekannte Symbol der verschlungenen Hände zurück, das die SED später verwandte.

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Dieser erste nationale Arbeiterverband der Revolutionszeit war föderalistisch aufgebaut und wollte seine politischen und sozialen Forderungen öffentlich und legal Schritt für Schritt im Rahmen des kapitalistischen Systems durchsetzen.

Im Mittelpunkt des Programms der „Arbeiterverbrüderung" standen die Forderungen nach Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, im wirtschaftlich-sozialen Bereich vor allem die Gründung von Genossenschaften mit staatlichen Krediten. Unter den Programmpunkten sind viele Forderungen zu finden, die für uns heute selbstverständlich sind, aber in der damaligen Zeit durchaus revolutionär waren, u.a. Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts, Einführung der progressiven Einkommenssteuer, Sorge für Arbeitsunfähige, volle Freizügigkeit angesichts sozialer und regionaler Reglementierungen, das Koalitionsrecht, also das Recht, sich zur Vertretung gemeinsamer wirtschaftlicher Forderungen zusammenzuschließen. Alle diese Forderungen sollten mit Hilfe des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durchgesetzt werden, das allerdings nur indirekt ausgeübt werden sollte und, wohlgemerkt, die Frauen noch ausschloß. Die Frauen wurden erst 1875 im Gothaer Programm der vereinigten Sozialdemokratie in die Wahlrechtsforderung einbezogen.

Wenn in Erinnerungen und meist in der frühen sozialdemokratischen Geschichtsschreibung die Zeit nach der Niederschlagung der Revolution als eine Zeit der „Friedhofsruhe" charakterisiert worden ist, so beruht dies auf einer sehr vordergründigen Sicht der Dinge. Denn es gibt zahlreiche personelle, programmatische und zum Teil sogar auch organisatorische Verbindungen von der Revolutionszeit zu den 1860er Jahren.

Das im gesellschaftlichen Topf während der Revolution über-kochende Wasser war längst nicht erkaltet. Es konnte auch nicht durch den Deckel der Unterdrückung auf Dauer am Überschwappen gehindert werden. Denn die Energiequelle, nämlich die Unzufriedenheit mit der behördlichen Bevormundung und mit den negativen Effekten des zeitgenössischen Kapitalismus, nahm an Intensität zu. Daran konnten auch die spärlichen sozialpolitischen Anstrengungen etwa des preußischen Staates nichts ändern, der wie in der Bismarck-Zeit

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die Arbeiter mit Zuckerbrot und Peitsche an der Kandare halten wollte.

Trotz behördlichen Verbots gab es eben viele Momente von Kontinuität, besonders am Rhein und in Mitteldeutschland, weniger hier in Bayern: informelle Kontakte, Treffen, Sammlungen zugunsten Verfolgter, Ausflüge zu symbolträchtigen Orten der Revolution und Essen an Gedenktagen der 48er Bewegung, Tarnorganisationen wie Gesangvereine, Lesezirkel usw. Ganz abgesehen davon brachte das Jahr 1857 die erste große Streikwelle der deutschen Geschichte. Es gab also vieles, an das Ferdinand Lassalle anknüpfen konnte, als er Anfang der 60er Jahre nach einem Bundesgenossen für die Verwirklichung seiner Ideen suchte.

Wir kommen also nun zu Lassalles Eingreifen in die sich bereits entwickelnde Arbeiterbewegung. Wie gesagt: Das liberale Bürgertum schien in den Augen Lassalles jeglichen revolutionären Elan verloren zu haben. Eine wirklich revolutionsbereite Partei gab es seiner Ansicht nach nicht, also mußte er sie schaffen. Daher entschloß er sich, zu versuchen, die Arbeiterschaft für eine neue, eine sozial-demokratische Partei zu gewinnen. Dies war leichter gedacht als getan. Zwar wehte seit der Übernahme der Regentschaft durch den späteren deutschen Kaiser Wilhelm I. 1858 in Preußen politisch ein etwas freierer Wind. Aber die neuen politischen Möglichkeiten hatten die Liberalen schon für ihre Interessen genutzt. Sie wollten nämlich die Lösung der nationalen Frage, die Überwindung der politischen Zersplitterung Deutschlands und die Erringung der deutschen Einheit, endlich wieder auf die Tagesordnung setzen.

Weil das ohne die Gewinnung eines Massenanhangs kaum möglich schien, riefen die Liberalen eine Menge Bildungsvereine für Arbeiter ins Leben oder suchten ohne ihr Zutun entstehende Arbeitervereine zu beeinflussen. Die Liberalen waren der Meinung, die Arbeiter seien noch nicht reif für selbständiges politisches Handeln. Sie müßten vorher eben noch eine Menge lernen. Daher waren sie nicht bereit, den Arbeitern gleichberechtigte Mitsprache in politischen Angelegenheiten zuzugestehen.

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Gegen eine solche politische Gängelung durch die bürgerlich bestimmten Vereinsführungen suchten sich in einigen Vereinen selbstbewußte Arbeiter zu wehren. Sie entwickelten daher im Verlaufe des Jahres 1862 eine Initiative zur Abhaltung eines Arbeiterkongresses. Das Besondere daran war, daß der Kongreß nicht von den Vereinen beschickt werden sollte, die ja in der Hand der Liberalen waren. Man wollte sich vielmehr basisdemokratisch von allgemeinen Arbeiterversammlungen der einzelnen Orte Mandate für die Vertretung auf dem Kongreß ausstellen lassen. So hoffte man wirklich unabhängig von den Liberalen spezifische Arbeiterinteressen beraten und vertreten zu können.

Dagegen setzten sich die Liberalen erfolgreich zur Wehr, und die Kongreßinitiative drohte totzulaufen. In dieser ausweglos scheinenden Situation wandte sich eine Oppositionsgruppe des Leipziger Arbeiterbildungsvereins hilfesuchend an Lassalle; denn er hatte kurz zuvor in seiner später als „Arbeiterprogramm" bezeichneten Schrift gezeigt, daß er bereit war, sich mit den Liberalen so richtig anzulegen.

Nach einigem Zögern nahm Lassalle mit seinem berühmt gewordenen „Offnen Antwortschreiben" vom März 1863 das Angebot, Führer der Arbeiter zu werden, an. Binnen kurzem brachte er aber die in eine Sackgasse geratene Arbeiterkongreßbewegung nicht etwa zu einem erfolgreichen Abschluß. Nein, ganz im Gegenteil, er funktionierte sie völlig um. Ihm gelang es nämlich, die Leipziger für die Bildung eines politischen Agitationsvereins zur Vertretung von Arbeiterinteressen zu gewinnen, der sich zur ersten modernen deutschen Arbeiterpartei entwickelte. Dieser Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, kurz: ADAV, wurde am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründet, und Lassalle wurde erster Präsident für fünf Jahre mit geradezu diktatorischen Vollmachten.

Wenn der Bürgersohn Lassalle, der Mann mit geradezu aristokratischer Lebensführung, sich zur Durchsetzung einer sozialdemokratischen Republik gerade der Arbeiterschaft zuwandte, so ist das alles andere als selbstverständlich. Dieser Entschluß hing nicht nur mit der kurz skizzierten Situation zusammen, sondern war auch Ausfluß von Lassalles Verständnis vom Wesen und der Bedeutung der Arbeiter-

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schaft. Denn im Gegensatz zu Marx sprach Lassalle in der Regel nicht von Arbeiterklasse und dachte weniger an das Industrieproletariat, sondern bezog alle unteren bzw. ärmeren Gesellschaftsschichten in seinen Arbeiterbegriff mit ein. Dazu gehörten neben Arbeitern, Handwerkern und kleinen Beamten auch alle diejenigen, die keine Vorrechte hatten und nichts besaßen, sowie ebenfalls diejenigen, die sich mit ihrer Arbeit für das Gemeinwohl einsetzten.

Und gerade hierin lag für Lassalle der eigentliche Grund, diese Unterprivilegierten mit seiner Agitation anzusprechen. Denn - so argumentierte er - Grundbesitz und Kapitaleigentum hätten die Feudalklasse der Vergangenheit und die Bourgeoisie der Gegenwart in ihrem sittlichen Kern derartig verdorben, daß sie ausschließlich an ihre eigenen Interessen zu denken in der Lage seien. Die Arbeiter (in Lassalles Sinne) hingegen hätten keinen Besitz und keine Vorrechte, die sie vor anderen zu verteidigen hätten. Ihr Streben nach Verbesserung ihres Loses falle daher zusammen „mit der Entwicklung des gesamten Volkes, mit dem Sieg der Idee, mit den Fortschritten der Kultur, mit dem Lebensprinzip der Geschichte selbst, welches nichts anderes als die Entwicklung der Freiheit ist." Damit hatte Lassalle die Arbeiterschaft mit der von mir zu Beginn angesprochenen Idee des Staates verbunden.

Da die Arbeiter als solche in Lassalles Verständnis keine Sonderinteressen haben, ist ihr Verhältnis zueinander nicht von Konkurrenz, sondern von Solidarität bestimmt. Das bedeutete weniger das Zusammenhalten gegen Besitzende und Inhaber von Privilegien, sondern vor allem umfassende allgemeine Hilfeleistungen füreinander. Dieser Gedanke der Solidarität sollte einer der Grundwerte der Sozialdemokratie werden.

Weil Lassalle davon ausging, daß die Arbeiter die Interessen der gesamten Menschheit verträten, konnte er sich nicht vorstellen, daß die eigene neugewonnene Freiheit zur Verletzung der Freiheit anderer Schichten oder Personen mißbraucht werden könnte. Dieser aufklärerische Optimismus ist, wie wir wissen, im 20. Jahrhundert gründlich widerlegt worden.

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Sie werden in den hier beschriebenen Vorstellungen Lassalles unschwer Entwicklungslinien entdecken, die nach dem Zweiten Weltkrieg bei Kurt Schumacher und 1954 beim Berliner Aktionsprogramm der SPD wieder zum Tragen kamen: „Die Sozialdemokratie ist aus der Partei der Arbeiterklasse [...] zur Partei des Volkes geworden. Die Arbeiterschaft bildet dabei den Kern ihrer Mitglieder und Wähler. Der Kampf und die Arbeit der Sozialdemokratie aber liegen im Interesse aller, die ohne Rücksicht auf engherzig gehütete Vorrechte für soziale Gerechtigkeit, für politische und wirtschaftliche Demokratie, für geistige Freiheit und Toleranz, für nationale Einheit und internationale Zusammenarbeit eintreten."

Welches Mittel schien nun Lassalle geeignet, aus der preußischen reaktionären Gegenwart in das zukünftige Reich der Freiheit überzuleiten? Dieses Mittel war der politische Kampf gegen das reaktionäre preußische Dreiklassenwahlrecht, bei dem ein Großteil der unteren Bevölkerungsschichten unberücksichtigt blieb. An seine Stelle sollte das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht (oder besser: Männerwahlrecht) treten, das zum „prinzipiellen Losungswort und Banner" der neu zu gründenden Arbeiterpartei werden müsse.

Mit Hilfe dieses Wahlrechts - so dachte Lassalle in unverbesserlichem Optimismus, der für die Geschichte der Sozialdemokratie typisch ist - werde über kurz oder lang mit Sicherheit ein Sieg der Demokratie und damit eine Umgestaltung des reaktionären preußischen Klassenstaates zum „reinen" Staat der Arbeiterschaft erfolgen. Dieser Staat werde dann „einen Aufschwung des Geistes, die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte."

Welche große Bedeutung Lassalle dem durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht demokratisierten Staat zuwies, ist aus der Tatsache ersichtlich, daß er die Staatsintervention zum Kernpunkt seiner sozialen Hauptforderung machte: der Gründung von Produktionsgenossenschaften mit Staatskredit, wie sie schon 1848 die „Arbeiterverbrüderung" gefordert hatte. Es spricht manches dafür, daß Lassalle dies eher aus taktischen Gründen verlangte, um den in

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der Arbeiterschaft hoch geschätzten Selbsthilfegenossenschaften des Liberalen Schulze-Delitzsch entgegenzuwirken.

Und wirklich scheint Lassalle damit vorwiegend bei Mitgliedern bestimmter Berufszweige Anklang gefunden zu haben, wie Schuhmachern, Tischlern, Schreinern und Tabakarbeitern. Sie befanden sich in Umstrukturierungsprozessen, betrachteten sich bereits gegenwärtig als Opfer oder künftige Opfer der kapitalistischen Entwicklung und trauten sich eine Sicherung ihrer Existenz aus eigener Kraft, also Selbsthilfe, auf Dauer nicht mehr zu.

Die Produktionsgenossenschaften wurden schon bald von Marx als ökonomisch unhaltbar nachgewiesen. Das Recht der Arbeiter auf staatliche Intervention zu ihren Gunsten wurde in der Sozialdemokratie jedoch zur Selbstverständlichkeit, zumindest im Bereich der So-zialgesetzgebung, wozu die Bismarcksche Politik allerdings erheblich beitrug.

Mit Hilfe der staatlich finanzierten Produktionsgenossenschaften wollte Lassalle das sog. „eherne Lohngesetz" aushebeln und den Arbeitern ihren „vollen Arbeitsertrag" ohne Abzug des Unternehmergewinns garantieren. Nach diesem „Gesetz" zahle der Unternehmer - so Lassalle - dem Arbeiter im Durchschnitt immer nur das Minimum dessen an Lohn, was dieser zur Erhaltung seines Lebens und seiner Arbeitskraft sowie zur Reproduktion der Arbeiterschaft benötige. Selbst wenn der Lohn für eine kurze Zeit steige, sinke er bald wegen des Überangebots an Arbeitskräften wieder auf den ursprünglichen Stand zurück. Veränderlich sei also innerhalb des kapitalistischen Systems jeweils nur die aktuelle Lohnhöhe. Auf die Dauer werde das Existenzminimum, das allerdings von der kulturellen Entwicklung eines Volkes abhängig sei, keineswegs überschritten.

Es ist nicht ganz klar, ob Lassalle dieses „Gesetz" aus propagan-distischen Gründen vertreten hat, weil es bei sozialen Kümmerexistenzen unmittelbar einsichtig zu sein schien. Und in der Tat war die Forderung nach dem „vollen Arbeitsertrag" noch lange nach dem Schwinden von Lassalles Einfluß als Propagandaformel überaus populär. Sicherlich hat das „eherne Lohngesetz" sich hinderlich ausge-

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wirkt auf die Entwicklung der Gewerkschaften in den 60er Jahren. Denn bei einer dauerhaften Fixierung der Lohnhöhe auf dem Existenzminimum hätte eine gewerkschaftliche Betätigung wenig Sinn gemacht.

Ein weiterer kritischer Punkt muß angesprochen werden: Nach Lassalles Willen war der ADAV streng zentralistisch aufgebaut. Alles ging vom Präsidenten aus bzw. lief auf ihn zu. Querverbindungen auf den einzelnen Organisationsebenen gab es nicht, so daß innerparteiliche Konflikte und persönliche Rivalitäten nur schwer ausgetragen werden konnten. Die Mitglieder der Lokalorganisationen waren wegen der Vereinsgesetze rechtlich nur bei der Leipziger Zentrale eingeschrieben.

Gefährlich für die Entwicklung des demokratischen Bewußtseins der Mitglieder war die starke Stellung, die die Statuten dem Präsidenten, also Lassalle, verliehen. Er wurde auf fünf Jahre gewählt und konnte den Verein in allen Angelegenheiten nach außen unbeschränkt vertreten. Der dem Präsidenten beigegebene Vorstand hatte zwar theoretisch erheblichen Einfluß, war aber wegen der Zerstreuung seiner Mitglieder über ganz Deutschland völlig ungeeignet als Kontrollinstanz und hatte kaum praktische Funktionen.

Diese persönliche Diktatur verstand Lassalle nicht etwa als Notlösung wegen der politischen und rechtlichen Lage zur Zeit der Gründung, sondern als Keim der künftigen Gesellschaftsordnung. Lassalle war zwar überzeugter Demokrat; aber man sollte beachten, daß unser Demokratiebegriff, der parlamentarisch geprägt ist, im vorigen Jahrhundert nur eine der beiden Seiten der Demokratie darstellte.

Die andere, auch von Lassalle vertretene Auffassung von Demokratie ging auf die Große Französische Revolution zurück, genauer gesagt: auf die Jakobiner. Diese direkte oder radikale Demokratie favorisierte die direkte Übertragung eines Mandats an einen Konvent oder an eine Einzelperson, die vom Vertrauen des Volkes getragen wird. Dafür hat sich der Begriff „Bonapartismus" eingebürgert.

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Lassalle hielt sich selbst aufgrund seiner wissenschaftlichen Erkenntnis und Einsicht in den Gang der Geschichte für die geeignete Persönlichkeit, die die Interessen des Volkes kenne und sie in dessen Namen durchsetze. Bei dieser Art von Demokratie hat das Volk in der konkreten politischen Praxis kaum Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten. Beide sind theoretisch ja auch nicht nötig, da die Grundlage des Systems eben das Vertrauen der Volksmassen in die Qualifikation und den guten Willen des Führers ist.

Lassalle sprach in diesem Zusammenhang gar von der „Diktatur der Einsicht", die aber zunächst gedacht war als Diktatur, die durch die Einsicht der Geführten dem Diktator übertragen wird. Wie die Wirren innerhalb des ADAV nach Lassalles Tod zeigten, war trotz des zentralistischen Aufbaus und der persönlichen Diktatur des Präsidenten der demokratische Geist in der Mitgliedschaft jedoch nicht ganz verkümmert.

Am 31. August 1864, also nur 15 Monate nach Gründung des ADAV, starb Ferdinand Lassalle. Er erlag den Verwundungen, die er bei einem Duell am Genfer See erlitten hatte. Auslöser war eine Affäre um eine Frau, nicht die Gräfin Hatzfeldt, bzw. damit zusammenhängend eine Beleidigung. Die Einzelheiten sollen uns hier nicht interessieren.

Wichtiger in unserem Zusammenhang ist vielmehr die Frage, wieso ein Mann wie Lassalle, der sein Jahrhundert in die Schranken rief und dem gesamten Bürgertum, dem er entstammte, den Fehdehandschuh hinwarf, sich überhaupt auf ein Duell einlassen konnte. Warum stufte er das Duell nicht als überholtes Relikt einer vergangenen Epoche ein und verhielt sich demgemäß? Eine Antwort auf diese Fragen ist schwer. Es scheint sehr plausibel, daß Lassalle in Standes- und Ehrenangelegenheiten doch noch stärker in seiner frühen Sozialisa-tion befangen war, als seine Prozesse gegen den Fürsten Hatzfeldt und auch seine Arbeiteragitation nahegelegt hätten.

Zwar gelang es Lassalle bis zu seinem Tod nicht, Hunderttausende von Arbeitern hinter die Fahnen seines ADAV zu scharen, wie er ursprünglich erwartet hatte. Bei einem maximalen Mitgliederstand

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von 3.500 blieb sein organisatorisches Ringen in gewisser Weise ein Mißerfolg, weshalb manche Biographen gar den Duelltod als Lösung und Erlösung in auswegloser Lage interpretieren.

Lassalles propagandistische Erfolge waren aber um so größer. Zwar vollzog sich das tägliche Leben in allen Arbeitervereinen weitgehend abseits der Gedankengebäude der Theoretiker wie Lassalle und auch Marx. Aber wichtige Programmpunkte oder besser Propagandaformeln Lassalles wie die staatlich finanzierten Produktionsgenossenschaften, das „eherne Lohngesetz", der „volle Arbeitsertrag" und die „eine reaktionäre Masse" aller anderen Klassen der Arbeiterklasse gegenüber hatten doch wesentliche Mobilisierungsfunktionen auf dem Wege zu einer selbständigen Arbeiterpartei. Und das galt nicht nur für die Anhänger des ADAV.

Diese Propagadaformeln beeinflußten auch den gegnerischen Verband der deutschen Arbeitervereine, der anfänglich von den Liberalen dominiert worden war, in dessen Ringen mit dem ADAV. So trug Lassalle posthum indirekt auch zur Weckung der Eigenständigkeit und des Klassenbewußtseins bei der Konkurrenzorganisation bei, nicht zuletzt auf dem Wege über ehemalige ADAV-Mitglieder, die wegen der zentralistischen Führungsstruktur den ADAV verlassen hatten.

Ihre positiven organisatorischen und politischen Erfahrungen konnten die ehemaligen ADAV-Mitglieder bei der Umgestaltung der liberalen Arbeitervereine und bei der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 in Eisenach einbringen. In dieser Eisenacher Partei waren Wilhelm Liebknecht, der selbst ADAVer gewesen war, und August Bebel die wichtigsten Politiker. Mit der Gründung dieser Partei war auch in dem ehemals von den Liberalen beeinflußten Teil der Arbeiterbewegung die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie eingeläutet worden.

Diese Trennung war letztlich ein Ergebnis der Unfähigkeit des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland, den Arbeitern eine selbständige und angemessene Vertretung ihrer politischen Interessen zuzugestehen. In England etwa ist die Entwicklung anders gelaufen.

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3. Einordnung Lassalles in die Geschichte der Sozialdemokratie

Ferdinand Lassalle war in der Sicht Gustav Mayers der „am ersten Morgengrauen weckende Trommelschläger der deutschen politischen Arbeiterbewegung". Ohne Lassalles Verdienste beschneiden zu wollen, möchte ich dieses Bild etwas verändern: Lassalle kam nicht „am ersten Morgengrauen", sondern etwas später, „in der ersten Morgenröte". Und er „weckte" die Arbeiterbewegung nicht, sondern er rief als Trommelschläger die bereits im Entstehen begriffene deutsche Arbeiterbewegung zur Sammlung und zum Kampf.

Denn der Breslauer Bürgersohn schuf zwar als „Frühvollendeter" mit dem ADAV eine von seinem Denken und Führungswillen geprägte, ja abhängige Arbeiterpartei, stand aber nichtsdestotrotz nicht am Anfang der deutschen Sozialdemokratie. Er stand vielmehr auf den Schultern anderer Theoretiker, vor allem von Karl Marx, zu dem er zeitlebens ein von Anerkennung und Selbstbehauptung bestimmtes, ambivalentes Verhältnis besaß.

Insbesondere aber fußte Lassalle auf beachtlichen Wellen von elementaren Artikulations- und Organisationsbemühungen der Arbeiter selbst, die sich bereits in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, also vor der Revolution von 1848/49, in verschiedenen Formen sozialen Protests geäußert hatten.

Zu dieser Zeit entstanden aber auch schon die ersten lokalen Unterstützungskassen und Arbeiterbildungsvereine als frühe Organisa-tionsversuche, die an die Tradition der alten Handwerkszünfte anknüpften. Direkte politische Aktivitäten erfolgten allerdings wegen behördlicher Unterdrückung nur im Ausland, nur in Geheimbünden.

Erst die Revolution von 1848 brachte den deutschen Arbeitern wie dem ganzen deutschen Volk die Möglichkeit legaler öffentlicher Organisationsbildung. Diese fand ihren Höhepunkt in einer ersten überregionalen politisch-gewerkschaftlichen Organisation, der „Arbeiterverbrüderung", und in den beiden ersten nationalen Gewerkschaftsverbänden der Buchdrucker und der Zigarrenarbeiter.

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Erst neue politische Umstände Ende der 50er Jahre ermöglichten im Kontext der nationalen Bewegung eine erneute Formierung der Arbeiterbewegung. Aus ihren Kreisen wurde ein Angebot an Lassalle gerichtet, Führer der selbständigen deutschen Arbeiterbewegung zu werden. Lassalle, der sich ursprünglich auf dem linken Flügel der Demokratie befunden hatte, kam zu dem Entschluß, dieses Angebot anzunehmen. Dies tat er mit der ihm eigenen Willens- und Gestaltungskraft gemäß eigenen Vorstellungen und Konzeptionen.

Gründer des ADAV war Lassalle also in der Tat, nicht aber Gründer der deutschen Arbeiterbewegung. Dieses Verdienst teilen sich viele zum Teil namenlose Personen.

Unbestreitbar bleibt die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins durch Ferdinand Lassalle ein Vorgang von epochaler Bedeutung. Es mag genügen, aus § 1 der Vereinsstatuten zu zitieren, wo davon die Rede ist, „daß nur durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt werden kann". Hier wird auch der Zweck formuliert, „auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung, für die Herstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken."

Seither ist die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie unauslöschlich Teil der Geschichte der deutschen Demokratie, und der Beitrag der Sozialdemokratie ist wichtiger Teil des langen und nie endenden Kampfes um eine freie und gerechte Ordnung von Staat und Gesellschaft.

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Literaturauswahl

Bernhard Becker, Geschichte der Arbeiter-Agitation Ferdinand Lassalle´s. Nach authentischen Aktenstücken. Mit einer Einleitung zum Nachdruck der 1. Aufl. (von 1874) von Toni Offermann, Berlin/Bonn 1978

Eduard Bernstein, Ferdinand Lassalle und seine Bedeutung für die Arbeiterklasse, Berlin 1919

Eduard Bernstein, Ferdinand Lassalle. Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers, Berlin 1919

Eduard Bernstein (Hrsg.), Ferdinand Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesamtausgabe mit einer biographischen Einleitung, 3 Bände, London 1892-93

Eduard Bernstein (Hrsg.), Gesammelte Reden und Schriften in 12 Bänden, Berlin 1919/20

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Ferdinand Lassalle 1825-1975 (mit Reden von Walter Hesselbach, Willy Brandt und Heinz Kühn), Bonn-Bad Godesberg 1975

Friedrich Jenaczek (Hrsg.), Ferdinand Lassalle. Reden und Schriften. Aus der Arbeiteragitation 1862-1864. Mit einer Lassalle-Chronik, München 1970

Paul Kampffmeyer, Lassalle. Ein Erwecker der Arbeiterkulturbewegung, Berlin 1925

Max Kegel, Ferdinand Lassalle, Stuttgart 1889

Christiane Kling-Mathey, Gräfin Hatzfeldt 1805-1881. Eine Biographie, Bonn 1989

Gustav Mayer (Hrsg.), Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften, 6 Bände, Stuttgart/Berlin 1921-25

[Seite der Druckausg.: 25]

Gustav Mayer, Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928

Franz Mehring (Hrsg.), Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, Band IV, Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, Stuttgart 1902

Susanne Miller u. Hans-Jochen Vogel, Ferdinand Lassalle - Historische Leistung und aktuelle Bedeutung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1987

Wilhelm Mommsen, Bismarck und Lassalle, Berlin 1928

Shlomo Na’man, Lassalle, Hannover 1970

Hermann Oncken, Lassalle. Eine politische Biographie, 4. Auflage, Stuttgart/Berlin 1923

Thilo Ramm, Ferdinand Lassalle als Rechts- und Sozialphilosoph, Meisenheim/Wien 1953

Kurt Schumacher, Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. von Friedrich Holtmeier, Stuttgart 1973

Julius Vahlteich, Ferdinand Lassalle und die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung (1904). Nachdruck mit einer Einleitung von Toni Offermann, Berlin/Bonn 1978

[Seite der Druckausg.: 26 - 29]

HINWEIS:
Auf den Seiten 26 - 29 der Druckausgabe ist eine Übersicht zu den bisher erschienenen Ausgaben der
Reihe "Gesprächskreis Geschichte" abgedruckt.
In der Online-Ausgabe ist diese Reihenübersicht nicht enthalten.
Bitte benutzen Sie den
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um sich über den aktuellen Stand der Reihe "Gesprächskreis Geschichte" zu informieren.


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