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Arno Lustiger
Jüdische Kultur in Ostmitteleuropa am Beispiel Polens



A. Kurzer geschichtlicher Abriß

Im Jahre 1939 gab es in Polen 3.460.000 polnische Bürger jüdischer Konfession. Etwa 80% der aschkenasischen Juden stammten aus Polen. Von den 16-17 Millionen Juden vor dem Kriege stammten 13 bis 14 Millionen aus Osteuropa, die meisten von ihnen aus den Gebieten des früheren Königreichs Polen-Litauen. Kein Land mit Ausnahme Babylons hat eine größere Rolle in der Geschichte der jüdischen Diaspora als Polen gespielt. Viele der seit dem 13. Jahrhundert in Mittel- und Westeuropa verfolgten Juden fanden Zuflucht in Polen. Es sei an die Verfolgungen im Zusammenhang mit dem ersten und zweiten Kreuzzug von 1096 und 1146 und an die Pestepidemie („Schwarzer Tod") von 1348-1350 erinnert. Die Juden in Polen wurden durch weitgehende Privilegien der polnischen Fürsten und Könige geschützt, wie durch das Statut des Königs Kasimir des Großen von 1334, das den Juden eine eigene Gerichtsbarkeit, Schutz von Leben und Eigentum, Schutz der Synagogen und Friedhöfe, Handelsfreiheit und Verbot der Blutbeschuldigung sicherte.

Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 wurde Polen das größte geistige Zentrum des Judentums. In hebräischen Druckereien in Krakau und Lublin wurden bereits ab 1534 jiddische Bücher, Bibelübersetzungen und Talmudausgaben gedruckt. 1536 druckte Chaim Schwarz in Lublin einen Machsor (Gebetbuch für die Feiertage) mit polnischer Übersetzung. 1581 wurde der Waad arba arzot, der Rat der vier Provinzen als Vertretung der Juden Polens, gegründet. Während des Kosaken-Aufstandes unter Bogdan Chmielnicki 1648-1649 wurden Hunderte von Gemeinden in Podolien, Wolhynien und in der Ukraine zerstört und über 100.000 Juden massakriert. Durch die drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 wurden die Juden Polens russische, preußische oder österreichische Untertanen. Bis dahin haben sich die mächtigsten Kräfte in Polen, die Kirche und die Krone, radikal in ihrer Beziehung zu den Juden unterschieden; die Kirche verbreitete Hass, Diskriminierung und Gewalt,

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die Krone aber manifestierte Toleranz und Schutz für die Juden, die die relative Freiheit und Autonomie zu schätzen wußten.

Verglichen mit den anderen Ländern Europas ging es den Juden Polens gut. Deshalb beteiligten sie sich an allen Aufständen zur Wiedererlangung der Souveränität Polens, so 1794 unter Kosciuszko, im November-Aufstand 1830, im Januar-Aufstand 1863 und in der Revolution von 1905, was mit großen Opfern an Leben und Besitz verbunden war. Bereits Jahrhunderte vorher, in der polnischen Adelsrepublik, waren die Juden an der militärischen Verteidigung des Landes, zusammen mit anderen Bürgern, aktiv beteiligt. An den Aufständen war die legendäre Gestalt des polnischen Judentums Oberst Berek Joselewicz (1770-1809) beteiligt, der ein jüdisches Reiterregiment befehligte und im Kampf fiel. Einer der populärsten polnischen Patrioten während der Aufstände war der Warschauer Rabbiner Ber Meisels (1798-1870). Auch im 1. Weltkrieg beteiligten sich viele jüdische Freiwillige in den vom späteren Marschall Pilsudski geführten polnischen Legionen, die innerhalb des österreichischen Heeres kämpften.

Als nach 150jähriger Fremdherrschaft Polen im November 1918 die Unabhängigkeit erlangte, erschütterten mehrere Pogrome, auch von den Truppen des Generals Haller inszeniert, die Hoffnung der Juden auf ein demokratisches Polen. Aus diesem Grunde mußte die polnische Delegation bei der Friedenskonferenz in Versailles am 28. Juni 1919 ein Zusatzabkommen unterzeichnen, das den Schutz von Minderheiten in Polen garantierte. Über drei Millionen polnische Juden wurden wieder Bürger des gemeinsamen Staates, für dessen Unabhängigkeit sie große Opfer brachten. In den ersten Parlamentswahlen 1919 wurden elf Juden als Sejm-Abgeordnete gewählt. Zusammen mit ukrainischen und deutschen Abgeordneten bildeten die Juden einen Minoritäten-Block im Parlament. Die nationalistischen Führer der „Endecja", die Minister Roman Dmowski und Wladyslaw Grabski, entfachten eine antisemitische Propaganda mit Boykottaufrufen, deren Ziel es war, die jüdischen Bürger wirtschaftlich zu schädigen, um sie zur Emigration zu zwingen. Die darauffolgende Auswanderungswelle nach Palästina wird als „Grabski-Alija" bezeichnet.

Nach dem Staatsstreich von Marschall Pilsudski im Mai 1926 stabilisierte sich die chaotische, die Juden gefährdende politische Lage, und es kam zu einer freundlicheren Einstellung der neuen Regierung

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gegenüber den Juden. Diese Herrschaft der „starken Hand", die eine für die Juden akzeptable Lage schuf, dauerte bis zum Tode Pilsudskis 1935.

Die schwere wirtschaftliche Lage Polens, die in der Verarmung von einer Million Juden gipfelte, minderte nicht die kreativen Kräfte der Juden, die jedoch durch die Zersplitterung der jüdischen Gesellschaft gebremst wurden. Von 1935 bis zum Kriegsbeginn 1939 kam es in Polen wegen des Fehlens allgemein anerkannter Führungspersönlichkeiten zu Zerfallserscheinungen der Gesellschaft und des Staates. Der Antisemitismus nahm, auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten, zu. Trotz der formellen Gleichberechtigung aller Bürger gab es eine bedeutende Diskriminierung auf vielen Gebieten. Juden waren aus allen staatlichen Behörden und Institutionen ausgeschlossen; ein Jude konnte kein Post-, Bahn-, Finanz-, Polizei- oder Zollbeamter, nicht einmal ein städtischer Straßenkehrer werden. Die Polen wollten nicht einsehen, daß ihr Staat ein Nationalitätengebilde war, in welchem nur 65% der Bevölkerung ethnische Polen waren, und haben deshalb nie Versuche unternommen, die Verpflichtungen aus den Versailler Verträgen von 1919 und aus der Verfassung von 1921 gegenüber ihren Minderheiten, den Ukrainern, Juden und Deutschen, einzuhalten. Diese Situation verhinderte eine Anpassung und Akkulturation der Juden und war der Grund für die relativ bedeutende Beteiligung der Juden am Sozialismus und Zionismus. Die Orthodoxie war eine der führenden Strömungen unter den polnischen Juden, die trotz der widrigen Umstände mit der Regierung kooperierte. 1935-1936 gab es eine Pogromwelle in mehreren Städten, die von der Polizei zögerlich beendet wurde. Als im Zusammenhang mit der aggressiven Politik Hitlers die Kriegsgefahr, deren erstes Opfer Polen wäre, zunahm, besannen sich die verantwortlichen Kräfte der Gesellschaft auf die wirklichen nationalen Prioritäten. Bis dahin phantasierten manche Regierungsmitglieder von polnischen Überseekolonien, in welche sie die Juden zwangsweise verschicken wollten.

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B. Die soziale und politische Struktur des polnischen Judentums



Das religiöse Judentum und die Wohlfahrtseinrichtungen

Die seit Jahrhunderten bestehende jüdische Selbstverwaltung auf den Gebieten der Religionsausübung, des Schulwesens und der Gerichtsbarkeit wurde im unabhängigen Polen fortgesetzt und weiter ausgebaut. Mit dem Dekret des Staatspräsidenten vom Jahre 1927 wurden die Gemeinden als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt, und sie wurden berechtigt, auch auf dem Gebiete der Wohlfahrt tätig zu sein. Sie durften für diese Zwecke Geld sammeln wie auch Steuern und Beiträge eintreiben. Es gab mehrere Hundert Gemeinden mit Tausenden von Betstuben, Synagogen, Ritualbädern, Friedhöfen sowie Bibel- und Talmudschulen (Cheders bezw. Jeschiwes). Die größte von ihnen war die weltberühmte Talmud-Hochschule „Jeschiwas Chochmej Lublin". Die Gemeinden finanzierten das Kultuspersonal, wie Rabbiner, Gerichtsassessoren (Dajanim), Kantoren, Aufsichtsbeamte für Kaschrut , d.h. für die Einhaltung der rituellen Speisegesetze etc. Der Chassidismus war ein Lichtstrahl der Freude im Leben der Abertausende verarmter Handwerker und Händler. Die Chassidim scharten sich um mehrere Wunderrabbi-Dynastien. Der Rebbe von Kock, Menachem Mendel (1787-1859), und der Gerer Rebbe Meir Alter (1789-1866), der Rabbi von Góra Kalwaria waren die bekanntesten von vielen anderen. Jeder hielt einen veritablen Hof für die Tausende seiner Anhänger. Andere residierten in Mir, Wolozyn, Grodno, Pinsk und anderen Orten. Ihre Talmudschulen waren berühmt und haben die ganze Welt mit Kultuspersonal versorgt. An den Wahlen der Organe der Jüdischen Gemeinden haben sich auch sekuläre Parteien, wie der Bund beteiligt. Außerdem setzten die vielen, seit dem Mittelalter wirkenden jüdischen religiösen und karitativen Vereine und Institutionen ihre Aktivitäten in verstärkten Maße fort.

Die von religiösen Juden geschaffenen Institutionen hatten meist hebräische Namen. „Linas Hazedek" (Anständige Unterkunft) bot erwerbslosen, obdachlosen und durchreisenden Juden Übernachtungsmöglichkeiten. „Jessojmim Hojs" wurden Waisenhäuser genannt. „Bejs Lechem" verteilte, meist vor den Feiertagen, Lebensmittel an Bedürftige. „Mojschew Sikejnim" waren Altenheime.

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„Hachnossas Kalo" stattete arme Bräute mit der Aussteuer aus. „Chewra Kadischa" war die Begräbnis-Bruderschaft. „Talmud Tora" unterhielt Bibel- und Talmud-Schulen. „Schomrej Schabos" kümmerte sich um die Einhaltung der Sabbat-Ruhe. Die jüdischen Handwerker hatten eigene Zünfte mit Obermeistern und Vorständen und Fahnen, die mit hebräischen Buchstaben bestickt waren. Manche Zünfte unterhielten Betstuben und sogar Synagogen. Aber auch außerhalb der Gemeinden wirkten zahlreiche Wohlfahrtsinstitutionen. „Towarzystwo Obrony Zdrowia TOZ"-Verein für Gesundheitsschutz - versorgte medizinisch die ärmeren Schichten der Gesellschaft. „Centrala Opieki Spolecznej CENTOS" - Zentrale für Sozial-Wohlfahrt - unterhielt in ganz Polen zahlreiche Einrichtungen. Die säkularen Teile der Gesellschaft entwickelten im Vorkriegspolen Aktivitäten in einem Umfang, der ihresgleichen in der ganzen Welt suchte. Die polnischen Juden schufen eine politische Organisations- und Parteienstruktur mit einem breiten ideologischen Spektrum. Hier sollen die wichtigsten Parteien und Organisationen vorgestellt werden.

Die jüdische Arbeiterbewegung

Die Wiege der jüdischen Arbeiterbewegung stand in den annektierten polnischen Provinzen des Zarenreiches mit dem geistigen Zentrum Wilna und mit den jüdischen Textilindustriegebieten in Lodz und Bialystok. Während einer konspirativen Konferenz vom 7. bis 9. Oktober 1897 wurde der „Allgemeine Jiddische Arbeiterbund in Lite, Pojln un Rußland", kurz Bund genannt, gegründet. Der Bund war sowohl politische Partei als auch Gewerkschaftsbund mit einem Bildungs- und Sozialwerk und mit zahlreichen Einrichtungen, Sanatorien, kulturellen und genossenschaftlichen Organisationen. Die Gewerkschaften des Bundes zählten 1939 über 100.000 Mitglieder. Der Bund kämpfte für die Interessen der jüdischen Arbeiter, für die nationale und kulturelle Autonomie der Juden und entwickelte einen demokratischen Sozialismus. Eines der Postulate des Bundes war „Do´igkejt", ein jiddisch-bundistisches Kunstwort, was „Hiersein und Bleiben" bedeutet, also eine Absage an Palästina. Die Pflege der jiddischen Kultur und Literatur, der Sprache der jüdischen Massen, war einer der Punkte des bundistischen Programms. Aus diesem Grunde

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hat der Bund ein Netz von jiddischsprachigen Schulen und Organisationen geschaffen. Während der Pogrome in der Ukraine formierte der Bund mehrere Selbstschutz-Organisationen. In dieser Tradition wurde in Polen eine Bundmiliz nach dem Muster des Reichsbanners in Deutschland ins Leben gerufen. Die bundistische Jugend wurde in der Organisation „Zukunft" erzogen, die Kinder im „Skif" - „Sozialistischer Kinder Farband". Im Warschauer Ghetto-Aufstand kämpften auch Bundisten in vier eigenen Kampfgruppen. Der Bundist Marek Edelman ist das einzige noch lebende Mitglied des Stabes der Jüdischen Kampforganisation.

Zu den bedeutendsten Führern des Bundes gehörten Henryk Erlich und Wiktor Alter. Der 1882 geborene Erlich wurde nach Studien in Warschau, Berlin und St. Petersburg als Führer des Bundes zu Gefängnisstrafen und Verbannung verurteilt. Im August 1917 wurde Erlich Mitglied des Provisorischen Rates der Russischen Republik, der nach dem Oktober-Putsch liquidiert wurde. Im Oktober 1918 kam Erlich nach Warschau zurück, um den Bund im unabhängig gewordenen Polen zu leiten. Erlich wirkte 20 Jahre lang als Führer des Bundes in Polen. Er war auch Parlamentsabgeordneter, Stadtrat in Warschau und Exekutivmitglied der Sozialistischen Arbeiter-Internationale.

Wiktor Alter wurde 1890 in Westpolen geboren. 1906 mußte Alter Polen verlassen, 1912 kehrte er nach Warschau zurück und wurde wegen revolutionärer Tätigkeit nach Sibirien verbannt. Während der Konferenz russischer Sozialisten im Juli 1918 wurde er als ZK-Mitglied des Bundes von der Tscheka verhaftet. Nach der Entlassung kehrte er nach Polen zurück. Alters Aktivitäten konzentrierten sich auf die gewerkschaftliche Arbeit und auf die Verteidigung der Interessen der jüdischen Arbeiter, aber auch der Tausende fast rechtlosen Heimarbeiter. Er war Mitglied des Magistrats von Warschau, dem er ununterbrochen von 1919 bis 1939 angehörte. 1937 besuchte Alter die jüdischen Freiwilligen im spanischen Bürgerkrieg, von denen manche in der eigenen jüdischen Einheit „Botwin" kämpften, die eine Frontzeitung in jiddischer Sprache herausgab. Erlich und Alter wurden im Oktober 1939 in Ostpolen vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und zeitweilig befreit, um 1941 ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee zu gründen. Später wurden sie noch einmal verhaftet und dann umgebracht. Nach 1945 wurde der Bund in Polen wiedergegründet,

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aber später wegen ideologischer Differenzen mit den Kommunisten aufgelöst.

Die zionistischen Sozialisten mehrerer Richtungen waren Teil der jüdischen Arbeiterbewegung und zählten zu einer maßgebenden Gruppierung in Polen. Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten mehrere Organisationen den Zionismus mit der sozialistisch-marxistischen Ideologie zu vereinen. Auf der Konferenz von Poltawa 1906 vereinigten sich unter Ber Borochows (1881-1917) Führung verschiedene Gruppen zur Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Poale Zion. 1907 wurde in Den Haag der Weltverband der Poale Zion gegründet. Beim Weltkongreß in Wien 1920 spaltete sich die Partei
in die kommunistisch und internationalistisch orientierte „Linke (Lewica) Poale Zion", die aus der Zionistischen Weltorganisation ausschied, und die „Rechte Poale Zion" (Prawica), die ein sozialistisches Palästina weiterhin als Ziel ansah.

Die Zionisten und Antizionisten

Daneben gab es noch andere linkszionistische Parteien, denen auch Jugendorganisationen angehörten. Zu ihnen zählten „Haschomer
Hazair", „Dror", „Gordonia" und „Hitachdut", die aus der Partei „Hechalutz" hevorging. Die bürgerlichen Teile der Gesellschaft nannten sich Allgemeine Zionisten, ihre Jugendorganisation hieß „Hanoar Hazioni". In der „Wizo" waren zionistische Frauen organisiert. Die zionistischen Fonds „Keren Kajemet" und „Keren Hajessod" sammelten Gelder für den Bodenkauf und den Aufbau in Palästina.

Auf dem rechten Spektrum agierten die Revisionisten mit ihren Organisationen „Betar" und „Brit Hachajal". Ihr Gründer Wladimir Jabotinski (1880-1940) , der während des 1.Weltkrieges die Jüdische Legion im Bestand der britischen Armee gründete, propagierte einen rechtsgerichteten und militanten jüdischen Staat in Palästina. Polnische Zionisten stellten mit Chaim Weizmann (1874-1952), David ben Gurion (1886-1973) und mit vielen anderen die Führung des Weltzionismus, Palästinas und später des Staates Israel. Die führende zionistische Persönlichkeit Polens war Jizchak Grünbaum (1879-1970). Als Parlamentsabgeordneter seit 1919 war er Vorsitzender des Minoritätenblocks des Sejms. 1933 emigrierte er nach Palästina.

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Antizionistisch dagegen war die orthodoxe Partei „Agudas Isroel", die sich auf die religiöse Erziehung konzentrierte und wegen dieses Zweckes die Gemeinden zu erobern versuchte. Sie war im Gegensatz zu den jüdischen Marxisten und Sozialisten des Bundes loyal zu den konservativen Regierungen Polens eingestellt.

Viele Juden waren Mitgründer und Mitglieder der Polnischen Sozialistischen Partei PPS, in welcher es auch eine jüdische Unterorganisation, die „Organizacja Zydowska" gab. Die PPS zählte zu den wenigen politischen Gruppierungen Polens, die die Juden verteidigten. Die „Jiddische Volkspartei" kämpfte für eine national-kulturelle Autonomie für die ihrer Meinung nach autochthone jüdische Bevölkerung Polens.

Am Rande aller erwähnten Gruppen standen die Assimilatoren, die in ihrer Zeitung „Zagiew" (Fackel) für ein Aufgehen der Juden in der polnischen Gesellschaft und Kultur bei Beibehaltung der Religion eintraten.

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C. Die kulturellen Errungenschaften der polnischen Juden
Schulen und Bildung


Schulbildung gehört zu den wichtigsten Postulaten und Konstanten des Judentums. Weil der polnische Staat seine im Minoritätenvertrag von 1919 festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf Schulen für Juden nicht erfüllte, mußten sich jüdische Schulorganisationen dieses Problems annehmen. An der Vielfalt dieser Organisationen kann man entweder die Zerrissenheit der polnischen Juden oder die vielen Facetten des Pluralismus der Juden konstatieren. Hunderttausende von Schülern erhielten eine jüdisch-orthodoxe Erziehung in den teilweise privaten Cheders (Bibelschulen), die wegen ihrer primitiven Lehrmethoden vom nichtreligösen Teil der Gesellschaft stark kritisiert wurden. Nur die der „Agudas Isroel" angehörende Organisation „Chorew" für Jungen und „Bejs Jakow" für Mädchen kümmerte sich um diese Lehranstalten. Sie versuchte mit dem „Cheder Metukan" bessere Lehrmethoden durchzusetzen. Ende der 30er Jahre gab es außer dieser noch weitere vier Organisationen, in denen die Schulen mit unterschiedlichen Lehrplänen, der jeweiligen Ideologie entsprechend, vereint waren. Bereits 1921 wurde die „Zentrale jiddische

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Schulorganisazje" (Zischo) gegründet, die 169 Schulen und Gymnasien mit jiddischer Unterrichtsprache unterhielt. In ihnen wurden die Schüler zu bewußten säkularen, linken Juden und guten polnischen Bürgern erzogen. Ähnliche Ziele hatten die 16 Schulen des „Varein far Schule un Kultur" (Schul-Kult). In den 269 Schulen und Gymnasien des zionistischen Vereins „Tarbut" wurde der Unterricht in hebräischer Sprache erteilt. In den Volksschulen und den 31 Gymnasien des Verbandes „Jawne" wurden neben dem polnischen Curriculum judaistische Fächer in säkularer Orientierung unterrichtet, so auch die Bibel und Hebräisch. Ich war Schüler eines Gymnasiums diesen Typs. Über 180.000 Schüler und Gymnasiasten, die zukünftige Elite des polnischen Judentums, besuchten diese oft auf hohem Niveau stehenden, privat finanzierten Schulen.

Außer den allgemeinbildenden Schulen gab es auch Handwerks- und Berufsschulen, Schulen für landwirtschaftliche Berufe wie auch Schulen für Büro- und Handelsangestellte. Viele von ihnen wurden von der Organisation ORT gegründet und unterhalten. Der Bund und die Zionisten gründeten außerdem Volksuniversitäten als Erwachsenenbildungsstätten.

Einen schwarzen Flecken in der Geschichte Polens der dreißiger Jahre stellt die Behandlung der jüdischen akademischen Jugend durch die Universitäten und die christlichen Kommilitonen dar. An mehreren von ihnen gab es gesonderte, sogen. Ghettobänke für Juden. Viele jüdische Studenten beendeten ihre Studien stehend, weil sie sich weigerten, auf diesen Judenbänken zu sitzen. Es kam auch zu gewaltsamen Angriffen auf jüdische Studenten. An vielen Universitäten gab es außerdem einen numerus clausus oder nullus für jüdische Studenten. Deshalb haben viele Studenten im Ausland studieren müssen. Trotzdem gab es relativ viele jüdische Hochschullehrer, die bedeutende wissenschaftliche Werke hinterließen.

Wissenschaft

Bei einer Konferenz jüdischer Gelehrter im August 1925 in Berlin, wo damals eine starke Diaspora russischer und polnischer Juden lebte, wurde der „Jidischer Wissenschaflecher Institut YIVO" zur Erforschung und Pflege der jiddischen Sprache, Literatur und Kultur ge-

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gründet. Die Zentrale war in Wilna, mit Filialen in Berlin, Warschau und New York. In Wilna wurden in den 15 Jahren ihres Bestehens bedeutende jiddische Philologen und Wissenschaftler ausgebildet, die später in der ganzen jüdischen Welt wirkten. Nur das Yivo-Institut in New York blieb nach dem Holocaust erhalten.

1928 wurde in Warschau eine weitere Anstalt für höhere jüdische Bildung eröffnet, das Institut für judaistische Wissenschaften, dessen Rektor, Professor und Rabbiner Mojzesz Schorr (1874-1941), auch Mitglied des polnischen Senats war. Vor dem Kriege haben Institutsangehörige u.a an der Herausgabe von Enzykopädien in mehreren Sprachen mitgearbeitet. Mehrere Professoren und Absolventen des Instituts, bedeutende Historiker und Philologen, wie Prof. Balaban (1877-1942), Dr. Emanuel Ringelblum (1900-1944) und Dr. Ignacy Schiper (1884-1943) und viele andere wurden während der Schoa ermordet.

Literatur und Bibliotheken

Polen hatte das größte Potential an Lesern und Konsumenten der jiddischen Literatur, Presse und des Theaters in der Welt. Entsprechend reich und vielfältig war die literarische und kulturelle Kreativität und Produktion. Schon im Mittelalter wurden in Polen zahlreiche Editionen der jiddischen Frauenbibel „Zena Urena" gedruckt. Scholem Alejchem (1859-1916), Mendele Mojcher Sforim (1836-1917) und Jitzchok Leib Peretz (1852-1915), die drei Klassiker der jiddischen Literatur, wurden in zahlreichen Editionen nachgedruckt. In Warschau lebten und wirkten die berühmten Schriftsteller Schalom Asch (1880-1957) und die Brüder Israel (1893-1944) und Isaak Baschewis Singer (1904-1991), der Nobelpreisträger für die jiddische Literatur. Mehrere Erzählungen des Letzteren spielen im Club der jiddischen Schriftsteller in Warschau. In Wilna waren viele Dichter und Schriftsteller in der Gruppe „Jung Wilne" vereinigt, wie der Dichter und Partisan Awrom Sutzkewer. Viele der 1952 von stalinistischen Schergen umgebrachten Dichter und Schriftsteller wie Perez Markisch (1895-1952) haben dort gearbeitet. In Lodz wirkte die Gruppe „Jung Jiddisch". Eine Bibliographie der jiddischen Schriftsteller, Dichter und Essayisten Polens würde ein ganzes Buch füllen.

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Neben Russland war Polen auch die Wiege der hebräischen Literatur. Dort wirkten David Frischmann (1959-1922), Micha Josef Berdyczewski (1865-1921), Perez Smolenskin (1840-1885), Hilel Zeitlin (1871-1942) u.a. Der zwölfjährige Julian Klaczko übersetzte Gedichte des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz ins Hebräische. Chaim Nachman Bialik (1873-1934), der eine Zeitlang in Polnisch-Oberschlesien und später in Warschau lebte, war Begründer der modernen hebräischen Dichtung. Jitzchak Katzenelson (1886-1944), der zunächst hebräischer Dichter war, schuf vor seiner Ermordung in Auschwitz das großartige jiddische Gedichtwerk „Dos Lied vunem ojsgehargetn jidischn volk". Der polnisch-jüdische Schriftsteller Schmuel Josef Agnon (1880-1970) war 1966 Nobelpreisträger für die hebräische Literatur. Zahlreiche polnische Juden übersetzten Werke der Weltliteratur ins Hebräische.

Daneben gab es eine bedeutende jüdische Kultur und Literatur in polnischer Sprache. Viele Schriftsteller und Dichter jüdischer Abstammung, wie Julian Tuwim, Antoni Slonimski, Kazimierz Brandys, Adolf Rudnicki, Bruno Schulz, Janusz Korczak, Marian Hemar, Stanislaw Wygodzki u.v.a. gehörten zur Elite der polnischen Literatur. Stanislaw Jerzy Lec verfasste unzählige Aphorismen, die Karl Dedecius kongenial ins Deutsche übertrug. Juden waren außerdem Pioniere des Buch- und Verlagswesens in Polen, die nicht nur die jiddische und hebräische, sondern auch die polnische Literatur mit ihren Ausgaben bereicherten. Die jüdischen Verlegerdynastien, wie Glücksberg, Orgelbrand, Lewenthal, Mortkowicz, Unger und Arzt sind heute nur bibliophilen Antiquaren bekannt. Henryk Natanson war reicher Bankier, Buchhändler und Verleger zugleich.

Im 19. Jahrhundert wurden in Polen zahlreiche jüdische Bibliotheken gegründet. Am ersten jüdischen Bibliotheken-Kongress 1924 in Warschau beteiligten sich 150 Bibliotheken aus 125 Städten. Die Bibliothek an der Großen Tlomackie-Synagoge in Warschau, die zentrale judaistische Bibliothek Polens mit einem eigenen imposanten Gebäude, war der Stolz des polnischen Judentums. Der große Gelehrte und Bibliophile Matatiasz Straszun in Wilna vermachte seine Büchersammlung mit Tausenden von hebräischen und rabbinischen Werken den Juden seiner Stadt. Die Bibliothek des Yivo-Instituts in Wilna enthielt 40.000 Bände, meist jiddische und ethnographische Literatur. Ignatz Bernstein vererbte seine vielbändige ethnografische

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Bibliothek mit Abertausenden von Sprichwörtern aus aller Welt und Tausenden von jiddischen Sprichwörtern der Krakauer Universität. Die mit Hilfe der Stadtverwaltung in Bialystok gegründete Scholem-Alejchem-Bibliothek enthielt 1939 rund 42.000 Bände in jiddischer und 12.000 Bände in polnischer Sprache.

In Polen gab es ca. 700 Leihbüchereien mit polnischen und jiddischen Büchern, die von Organisationen und Privaten unterhalten wurden. Die jüdische Arbeiterbewegung unterhielt mehrere Volksbibliotheken, denn Bildung gehörte zu ihren wichtigsten Postulaten. Fast alle jüdischen Bibliotheken wurden während der deutschen Besatzung zerstört oder geraubt. Von den meisten blieb keine Spur.

Presse

Bereits 1823 erschien die zweisprachige polnisch-deutsche Zeitung „Beobachter an der Weichsel". Sie war ein Kuriosum: Der deutsche Text wurde in hebräischen Lettern gesetzt, um den jiddischsprechenden Lesern entgegenzukommen. 1861 erschien „Jutrzenka" -Morgenröte-, eine jüdische Zeitung in polnischer Sprache. Zur gleichen Zeit wurden die hebräische Zeitung „Hamagid" und später „Kol Mewasser" und die Wochenzeitungen „Hakarmel", „Haboker" und „Hazefira" herausgegeben. Der Bund bracht die illegalen, konspirativ gedruckten Zeitungen „Arbeterstimme" und „Die Stimme vun Bund" heraus. 1908 bzw. 1910 wurden in Warschau die großen jiddischen Tageszeitungen „Heint" und „Moment", die bis 1939 erschienen sind und fünfstellige Auflagen erreichten, gegründet. Daneben gab es Boulevardzeitungen, wie „Heintige Najes", „Warschewer Radio" und „Warschewer Ekspress" und „Unser Ekspress". „Heint" war ein Pressekonzern, der 20 andere jiddische Zeitschriften herausgab, u.a, eine Spezialausgabe für Palästina, weil dort die damalige zionistische „Correctness" den Druck jiddischer Presseorgane nicht zuließ. Es gab auch Spezialzeitungen, wie „Handelsblat", „Sportzeitung, „Przeglad Handlowy", „Junger Historiker", „Literarische Bleter", „Bleter far Geschichte" u.a. In jeder Stadt, in jedem Städtchen gab es eine jiddische Lokalzeitung. Es erschienen auch mehrere hervorragende jüdische Tageszeitungen in polnischer Sprache in relativ hohen Auflagen: „Nasz Przeglad" mit illustrierten Wochenendbeilagen, einer Frauen-

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beilage und der Kinder- und Jugendzeitung „Maly Przeglad", die von Dr. Janusz Korczak (1879-1942) redigiert wurde. In Krakau erschien „Nowy Dziennik", in Lemberg „Chwila". Die meisten Zeitungen waren zionistisch orientiert, die anderen bundistisch oder orthodox.

Theater

Der Beginn des jüdischen Volkstheaters fällt mit den sogen. „Purimspielen" zusammen, die das biblische Esther-Thema zum Inhalt haben. Bereits im 18. Jahrhundert erschienen Stücke jiddischer Dramatiker wie Mendel Lewin Satanower (1749-1823) und Israel Aksenfeld (1797-1866). Mit den Aufführungen der Stücke von Abraham Goldfaden (1840-1908) beginnt die Geschichte des modernen jiddischen Theaters. In jeder größeren Stadt in Polen gab es ein professionelles jiddisches Theater, in kleineren Städten spielten Amateur-Ensembles. Warschau und Wilna waren Zentren des jiddischen Theaters. Der Dramatiker Jakob Gordin (1853-1909) übersetzte Theaterstücke Goethes, Schillers und Lessings ins Jiddische und schrieb selbst viele Dramen. In Warschau wirkte die berühmte jiddische Theater-Dynastie Kaminski. Abraham Isaak Kaminski (1867-1918) gründete mit 20 Jahren eine Theatertruppe. In seinem eigenen Theater spielte er ab 1914 außer Stücken jiddischer Dramatiker auch Stücke von Molière, Schiller und Gorki. Seine Ehefrau Esther Rachel Kaminska (1870-1925), die „Mutter des jiddischen Theaters", wurde die jiddische Duse genannt. Ihre Tochter Ida Kaminska (1899-1978) gründete nach dem 2.Weltkrieg das noch heute bestehende „Jiddische Staatstheater" in Warschau. Vor dem Kriege gab es in Warschau sechs Theater-Ensembles. Ein Beispiel für die Popularität des jiddischen Theaters in Polen: Das Stück „Dybbuk" von An-Ski wurde in Warschau in der Regie von David Herman (1876-1937) 300mal en suite gespielt. Die jiddischen Theater-Ensembles aus Polen gastierten zwischen den Weltkriegen in der ganzen Welt, wo sie Triumphe feierten. Die berühmte „Wilnaer Truppe" gastierte in ganz Europa. Robert Musil, der eine Aufführung dieses Ensembles 1921 in Wien sah, meinte, daß es neben Stanislawskis Theater das beste in Europa war. Neben Tausenden von Amateuren gab es in Polen 350 professionelle jüdische Theater-Schauspieler, die einen eigenen Berufsverband hatten. Scha-

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lom Alejchems dramatisierte Erzählungen waren ein ständiger Bestandteil des jiddischen Theaters und werden noch heute, z.B. als Musical „Anatewka", in der ganzen Welt gespielt.

Musik und Volkskunde

Die heute so populäre instrumentale Klesmermusik hat seit dem 16. Jahrhundert ihren Ursprung in Polen. Hunderte von Klesmer-Ensembles spielten bei Hochzeiten, anderen Familienfeiern und auf den Höfen der polnischen Adligen. Die Chassidim haben eine eigene musikalische Tradition entwickelt. Mit Freude und Inbrunst sangen und tanzten sie ihre Lieder, deren Texte aus dem Gebetbuch und aus der Bibel stammten. Liturgische Gesänge sind überhaupt der Ursprung jüdischer Musik. Zahlreiche Komponisten, die oft auch Kantoren waren, kreierten bedeutende Werke synagogaler Musik. Berühmte polnische Kantoren waren gefeierte Stars in allen Zentren der jüdischen Welt. Der Kantor Gerschon Sierota (1877-1943), der jüdische Caruso, wurde im Warschauer Ghetto ermordet. Mosche Kussewickis (1889-1965) zahlreiche Schallplatten sind heute Sammlerobjekte. Es gab wahre Kantoren-Dynastien, in denen die ganze Familie im Chor sang, z.B. die Malawski-Familie.

Die Ostjuden schufen die schönsten Volkslieder der in der Volkskunde bekannten Literatur. Der Musikologe Joel Engel (1868-1927) gründete in St. Petersburg die Gesellschaft für jüdische Volkslieder. Bereits 1901 erschien dort die erste Sammlung von S. Ginsburg und S. Marek. Weitere Sammlungen mit Hunderten von Volksliedern wurden von Schimon An-Ski, Noach Prylucki, Menachem Kipnis u.a. herausgegeben. Sie bildeten das Repertoire der zahlreichen Chöre, wie des von Mosche Schneur (1885-1942) in Warschau geleiteten großen Volkschores. Die Chöre hießen „Hasomir", „Schir", „Muza". Es gab auch akademische Volkschöre, wie „Kinor" in Lemberg. Der bedeutendste Chor für liturgische Musik war der Chor der Großen Tlomackie-Synagoge unter ihrem Leiter und Komponisten, Pädagogen und Verfasser einer jüdischen Musik-Enzyklopädie Dawid Ajzensztadt (1890-1942). Ein Verband der jüdischen Musikvereine in Polen versorgte die Chöre mit Noten, organisierte Tourneen und musikalische Wettbewerbe. Der Krakauer Tischler Mordechaj Gebirtig

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war ein genialer Komponist und Sänger, dessen Lieder damals, wie auch heute, so populär waren, daß sie für Volkslieder gehalten wurden. Der Violinist und Komponist Leopold Lewandowski schuf sehr populäre Tanzmusik und wurde der „polnische Strauß" genannt. Juliusz Feigenbaum war Gründer der ersten Schallplatten-Fabrik „Syrena-Record" in Polen.

In den Yivo-Instituten wurden von Ethnologen große Sammlungen von Volksliedern, Sprichwörtern, Volksmärchen und anderen Objekten der Volkskunde angelegt. Ignatz Bernstein gab 1908 in Warschau eine Sammlung von 3.993 jiddischen Sprichwörtern mit deutscher Übersetzung und phonetischer Transkription als Auswahl heraus. Daneben erschien als Privatdruck eine Sammlung jiddischer Erotica und Turpia.

Das Jüdische Musikinstitut in Warschau war Zentrum für die Ausbildung von Komponisten, Sängern und Musikern. Außerdem gab es mehrere jüdische Musikschulen, ebenso wie viele Instrumentalmusik-Ensembles. Grzegorz Fitelberg (1879-1953), Sohn eines jüdischen Militärmusikers, war eine der bedeutendsten Gestalten der Musik Polens. Er war Dirigent der Wiener Oper, des Operntheaters in St. Petersburg, des Bolschoj-Theaters in Moskau und später Direktor der Warschauer Philharmonie. Bis 1939 war er Musikdirektor des Radio-Symphonie-Orchesters in Warschau. An diesem Sender wirkte jahrelang der Komponist und Klaviervirtuose Wladyslaw Szpilman, der den Aufstand im Warschauer Ghetto überlebte und noch heute in Warschau lebt. Viele jüdische Pianisten popularisierten die klassische Musik in Polen; jüdische Komponisten und Musiker, wie Szpilman, Petersburski, Wars und Gold schufen populäre Lieder und Schlager, die noch heute jeder Pole kennt. Virtuosen wie Artur Rubinstein trugen Kompositionen von Chopin und Szymanowski in die ganze Welt. Der Beitrag der Juden zur Musik und zur polnischen Kultur überhaupt ist heute in Polen unbekannt.

Kunst

Das Bildverbot der Bibel wirkte der Entwicklung einer jüdischen Kunst entgegen. Deshalb waren z.B. die Synagogen nur spärlich mit Kunst ausgestattet. Nach Jahrhunderten der behinderten Kreativität

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entwickelte sich im Zuge der Aufklärungsbewegung „Haskala" die bildende Kunst unter den Juden explosionsartig. Erst ab Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts besuchten jüdische Künstler polnische Kunstakademien. Der genialste unter ihnen war Maurycy Gottlieb (1856-1879), der mit 23 Jahren unter mysteriösen Umständen starb und ein wunderbares Oeuvre, meist mit jüdischer Thematik, hinterließ. Seine jüngeren Brüder Filip, Leopold und Marcin waren ebenfalls begabte Maler. Die Werke von Maurycy Trebacz (1851-1940), Artur Markowicz (1872-1934), Natan Altman (1889-1929), Leopold Pilichowski (1869-1933), Maurycy Minkowski (1881-1930), Josef Budko (1880-1940) und vielen anderen erreichen heute auf internationalen Auktionen höchste Preise. Der berühmteste Grafiker und Illustrator Polens war Artur Szyk (1894-1951), dessen Arbeiten sich mit der Geschichte der Juden Polens befassten und in großen Auflagen nachgedruckt wurden. Sie alle waren auch in Deutschland bekannt geworden, als nach dem ersten Weltkrieg das Interesse für die bisher unbekannte Literatur, Kunst und Kultur der Ostjuden stark anstieg. Mehrere deutsche Kunstverlage brachten Mappen ihrer Werke mit Originalgrafiken heraus. In Städten wie Wilna, Krakau und Lodz bildeten die jüdischen Künstler die Mehrheit der jeweiligen Kunstszene. Boris Schatz (1867-1932) gründete 1906 in Jerusalem die berühmte erste Kunstakademie des Landes „Bezalel", die Generationen von israelischen Künstlern ausbildete. Zu den Lehrern dort zählten Samuel Hirszenberg, Leopold Gottlieb und Josef Budko. Der
in Drohobycz geborene Künstler, Grafiker und Illustrator Moses Ephraim Lilien (1874-1925) war neben Aubrey Beardsley einer der bedeutendsten Künstler des Jugendstils. Seine Motive waren jüdische Arbeiter, Palästina und das zionistische Aufbauwerk. In den Künstlerkolonien vom Montparnasse in Paris wirkten mehrere berühmte polnisch-jüdische Künstler, wie Mojzesz Kisling, Szymon Mondzain, Mela Muter, Eugeniusz Zak, Isaak Lichtenstein, Zygmunt Menkes, Henryk Berlewi, Jecheskel Kirszenbaum (früher Bauhaus), Henryk Glicenstein, Stanislaw Stückgold u.v.a. Polnisch-jüdische Architekten entwarfen viele bedeutende Projekte, die in die Geschichte der Architektur Polens eingingen. Jüdische Kunstzeitschriften in polnischer und jiddischer Sprache veröffentlichten die Werke der Künstler. Es waren: „Tajfun", „Naje Wintn", „Journal far literatur un kunst", „Stegn".

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Juden hatten einen großen Anteil an der Entwicklung der Fotografie in Polen. Bereits 1885 zeigten Henryk Grochman und Ryszard Szymel ihre Arbeiten in Warschau. Jüdische Fotografen, die sich an ethnografischen und antropologischen Ausflügen beteiligten, dokumentierten das polnisch-jüdische Leben. Marian Fuks fotografierte die Revolution von 1905 in Warschau. Unter den Mitgliedern der Jüdischen Fotografen-Zunft in Warschau gab es viele Pressefotografen, die die jiddischen Tageszeitungen und Illustrierten mit Bildmaterial versorgten. Zu den berühmtesten Fotodokumentaristen der Welt zählt Roman Wishniak, der in Tausenden Fotos die untergegangene Welt der Ostjuden verewigte.

Sport

Die polnischen Juden bildeten eine komplexe Infrastruktur von Sportvereinen, die sich auch erzieherischen Aufgaben widmeten. Auch hier wirkte sich der ideologisch motivierte Partikularismus der Juden stark aus. Jede politische Gruppierung hatte ihre eigenen Sportclubs, Sportplätze und Verbände. Trotzdem beteiligten sich alle Clubs am jährlichen „Tag des jüdischen Sports" am Lag-Baomer-Feiertag. Die Zionisten unterhielten die meisten Verbände mit allen Sportarten. Die Clubs der bürgerlichen Zionisten nannten sich „Makkabi", „Barkochba" oder „Hakoach". Dem Makkabi-Verband gehörten 1936 250 Clubs mit über 30.000 Sportlern an. An der internationalen Makkbiade von 1930 in Antwerpen nahmen 127 jüdische Sportler aus Polen teil. Die Clubs der sozialistischen Zionisten nannten sich „Stern" und „Hapoel", die der bundistischen Jugend „Morgenstern". Alle drei Sportverbände waren Mitglieder des Internationalen Arbeitersportclub-Verbandes. Außerdem gab es jüdische akademische Sportclubs. Mehrmals fanden auch Meisterschaftsspiele des jüdischen Schulsports statt. Mehrere jüdische Sportler waren Landes- oder gar Weltmeister, wie Bukiet im Tischtennis. Der Arbeitersportler Schepsel Rotholz war polnischer Meister im Box-Fliegengewicht und nahm an 15 europäischen Meisterschaften und an der Olympiade 1936 in Berlin teil. In den Sportclubs wurde den Mitgliedern auch die jeweilige Ideologie vermittelt. Der Autor selbst war zeitweise Mitglied einer Fußball-Mannschaft des „Skif - Sozialistischer Kinder-Farband".

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D. Juden und Polen. Fragen und Probleme

Juden leisteten jahrhundertelang wichtige Beiträge zur Entwicklung der Wirtschaft und Kultur, waren Pioniere bedeutender Industrie- und Handelszweige, des Finanz- und Eisenbahnwesens. Sie haben sich auch an der Verteidigung des Landes seit Jahrhunderten aktiv beteiligt. Trotzdem war und ist das Verhältnis von Polen zu ihren jüdischen Mitbürgern und umgekehrt schwer belastet, wenn nicht gar durch gegenseitige Anschuldigungen vergiftet. Mit dieser Frage haben sich schon vor langer Zeit Generationen von jüdischen und polnischen Publizisten, Essayisten und Historikern beschäftigt. Die Beantwortung der Frage, ob Polen ein Paradies oder Hölle für die Juden war, ist sehr schwierig zu beantworten. Der Katalog der gegenseitigen Anklagen hat sich seit Ende des 2. Weltkrieges erheblich vergrößert. Polen wetteifern mit den Juden in der Frage, wer von beiden die größeren Opfer während der deutschen Besatzung brachte. Auch der Anteil der Juden am Kommunismus vor und nach dem Kriege ist eine der Konstanten der Schuldzuweisungen. Die Juden dagegen beklagen den polnischen Antisemitismus sowohl zwischen den beiden Weltkriegen als auch während der Schoa und danach. Die beiderseitigen Anklagepunkte mit kurzen Begründungen könnten ein dickes Buch füllen. Die Diskussion hierüber wird in Zeitungen, Zeitschriften, anderen Medien, Büchern und auf Symposien geführt. Das größte Problem ist, daß es zu wenige Historiker in Polen gibt, die sich an der Erforschung und Bewältigung der jüngeren polnischen Geschichte ohne ideologische oder nationalistische Vorurteile beteiligen. Der Wissensstand der polnischen Öffentlichkeit in Bezug auf die Geschichte der polnischen Juden, ihrer Verdienste und Probleme ist deshalb sehr gering. Um so höher muß man die Forschungen und Veröffentlichungen derjenigen polnischen Publizisten und Historiker schätzen, die sich seit vielen Jahren mit diesen schmerzlichen und problematischen Themen beschäftigen. Zu ihnen zählen: Alina Cala, Wladyslaw Bartoszewski, Jan Karski, Jerzy Tomaszewski, Jozef Gierowski, Jerzy Turowicz, Czeslaw Milosz, der Nobelpreisträger von 1980, Michal Czajkowski u.a. Ihnen und den Tausenden von polnischen „Gerechten der Völker" gehört unsere Verehrung, Hochachtung und Dank. Sie lassen uns, trotz der schlimmsten Erfahrungen der polnischen Juden, weiter an das Gute im Menschen glauben.

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Die tapferen christlichen Helden des polnischen Rettungswiderstandes beschämen die Millionen von Polen, die nach dem Kriege einen Antisemitismus ohne Juden praktizieren. Obwohl weniger als 10% der Juden Polens die Schoa überlebt und kaum Juden in Polen leben, werden die Juden von polnischen Antisemiten für alle Übel des Landes verantwortlich gemacht. In Polen agieren die radikalsten Klerikalfaschisten der katholischen Welt, die sogar eine antisemitische Ahnenforschung betreiben und jeder noch so dummen Instruktion von „Radio Maryja" folgen. Tatsächlich „leben" die polnischen Juden nur in den Hunderttausenden Dokumenten des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau und in den über 200 Gedenkbüchern, deren Autoren, überlebende Amateurhistoriker, nahezu vergeblich versuchen, die untergegangene Welt der polnisch-jüdischen Städte und Schtetls, von Antopol bis Zyrardow, dem Vergessen zu entreißen. Die meist jiddisch oder hebräisch in kleinen Verlagen gedruckten „Pinkassim" sind fast unbekannt geblieben. Die Polen könnten von den Deutschen lernen, wie man mit der eigenen und der jüdischen Geschichte ihres Landes umgehen kann, soll und muß.

Im Jahre 1995 wurde das poetische Werk des jiddischen Dante des 20. Jahrhunderts, Jitzhak Katznelsons „Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk", im Deutschen Bundestag in Bonn von Wolf Biermann, der die Übertragung ins Deutsche besorgte, vorgetragen. Da ich die phonetische Transkription dieses Werkes schuf, wurde ich gebeten, Einführungsworte zu sprechen. Als ich das Publikum auf Jiddisch begrüßte, war es das erste Mal, daß in einem deutschen Parlament jiddische Worte zu hören waren. Ich möchte mit einer Strophe aus dem 15., dem letzten Gesang dieses Werkes, auf Jiddisch schließen:

    es wet a mame nit varwign mer a kind, men wet
    nit starbn schojn bei jidn un nit gebojrn wern mehr,
    nit gesungen wern weln lieder harzike vun jidische vun dichter,
    vun schreiber grojsse, schojn varbei, varbei!
    un jidische teaters weln mer nit sein schojn,
    men wet nit lachn dort, nit losn still a trer,
    un musiker un moler jidische, Barczynski's, sei weln mehr
    in freid un leid nit schafn. nit suchn wegn nei.

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    (In der Nachdichtung von Wolf Biermann)

    Und keine Mame wiegt mehr in den Schlaf. Es wird
    Nicht mehr gestorben bei den Juden und nie mehr geborn
    Gesungen wird auch nie kein Lied mehr, das erfunden ist
    Von einem unsrer großen Dichter, der das Herz tief rührt
    Kein jüdisches Theater wird mehr spielen, in dem der Mensch
    Frei lacht und hat dabei als Trost paar Tränen süß verlorn
    Kein Musiker, kein Musikant, kein Maler wie Barczynski, der
    Mit seinen Werken unsern Geist zu immer neuen Ufern führt



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[Seite der Druckausg.: 27 - 30]

[Auf den Seiten 27 bis 30 der Druckausgabe wird
ein Überblick über die bisher erschienenen Titel der
Reihe "Gesprächskreis Geschichte" gegeben.]


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