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TEILDOKUMENT:


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Günther Wagenlehner
Einführung


Mitte Mai 1999 befand sich eine Delegation des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages in Moskau, um Lösungen für die Probleme bei der Rehabilitierung der nicht verurteilten Inhaftierten der NKWD-Lager zu finden. Nach Verhandlungen in der Staatsduma, in der Präsidialverwaltung und in der Generalstaatsanwaltschaft gab die Deutsche Botschaft einen Empfang. Zu vorgerückter Stunde erhob Generaloberst der Justiz Jurij Djomin, stellvertretender Generalstaatsanwalt und Hauptmilitärstaatsanwalt, sein Glas, um mit mir auf unsere gute Zusammenarbeit anzustoßen.

Der Leiter der deutschen Delegation, Prof. Dr. Rupert Scholz, scherzte, zu Djomin gewandt: „Der Wagenlehner ist eigentlich schon Ihr Mitarbeiter." Entgegnete der Generaloberst trocken: „Nein, wir sind seine Mitarbeiter."

Auch wenn das eine Geste war, so charakterisiert diese Szene doch den Wandel, der sich in Moskau vollzogen hat. Immerhin tat ein Vorgänger des heutigen Hauptmilitärstaatsanwalts 1951 zur Zeit Rudenkos alles, um den wegen eines Lageraufstandes „nur" zu 25 Jahren verurteilten Günther Wagenlehner als abschreckendes Beispiel zum Tode verurteilen zu lassen, was das Oberste Gericht der UdSSR zu seinem Leidwesen nicht getan hat.

Aber die kontinuierlichen Begegnungen mit der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau sowie auch bei Einladungen in Deutschland zeigen auch mittelfristig, welcher Wandel in Moskau seit den ungeordneten und unklaren Anfängen der Rehabilitierung 1991/92 bis zur heutigen konstruktiven Zusammenarbeit eingetreten ist. Heute ist vom Antrag auf Rehabilitierung an das Auswärtige Amt und seiner Weiterleitung über die Deutsche Botschaft Moskau zur russischen Generalstaatsanwaltschaft bis zur Bearbeitung und Entscheidung sowie Rückleitung an die Botschaft und mit Übersetzung an den Antragsteller alles geregelt und durchschaubar.

Das war am Anfang keineswegs so; denn sowohl in Deutschland als auch in Rußland wurden alle von den unerwarteten Möglichkeiten

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einer Rehabilitierung von Deutschen überrascht und vor große Schwierigkeiten gestellt.

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Die ersten Rehabilitierungen

Kaum waren die ersten Nachrichten aus Rußland über die Möglichkeit von Rehabilitierungen über die Grenzen gedrungen, richteten verurteilte deutsche Kriegsgefangene individuelle Anträge an die sowjetische Führung. Als gesetzliche Grundlage gab es zunächst nur den Erlaß des Präsidenten der UdSSR vom 13. August 1991 „Über die Wiederherstellung der Rechte aller Opfer politischer Repressionen der 20er bis 50er Jahre". Dem Inhalt nach galt er nur für Sowjetbürger und keinesfalls für Kriegsverbrechen.

Gleichwohl bezogen sich Militärstaatsanwälte der sowjetischen Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in den ersten Bescheiden über die Rehabilitierung von verurteilten deutschen Kriegsgefangenen im Oktober 1991 auf diesen Präsidentenerlaß vom 13. August 1990. Der erste war Reinhold Soffner, der von der zuständigen Abteilung für Rehabilitierung den offiziellen Bescheid vom 2.9.1991 einige Zeit danach erhielt. Es folgte Hauptmann A.R. Beide waren verurteilt worden als Ic nach §58-6 (Spionage) Strafgesetzbuch der RSFSR von 1926. Im Dezember 1991 wurde Dr. Franz Beer rehabilitiert, der im Jahre 1948 als Diplomat des Deutschen Reiches nach §58-4 (Unterstützung der internationalen Bourgeoisie) zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Er hatte seinen Antrag schon am 27. Juli 1990 an die Regierung der UdSSR gerichtet.

Die Nachricht über die ersten Rehabilitierungen, die sich unter den verurteilten Kriegsgefangenen in Windeseile verbreitete, schlug wie eine Bombe ein. Die Sprecher der Lagergemeinschaften stellten unverzüglich Listen der Spätheimkehrer zusammen, die so wie die einzelnen Vorbilder rehabilitiert werden wollten. Anfang 1992 wurden diese Listen in Sammelbegehren an den Präsidenten der Russischen Föderation oder an andere Führungsorgane geschickt. Sie wurden teilweise zur Neuvorlage wieder zurückgegeben und 1993 über die Botschaften erneut in Einzelanträgen vorgelegt. Später hat sich herausgestellt, daß solche Sammelanträge teilweise die Hauptmilitär

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staatsanwaltschaft als zuständige Instanz nie erreicht haben und daher auch nicht bearbeitet wurden. Andere hatten mehr Glück.

Aus der größeren Gruppe der Zivilverurteilten kamen 1992 die ersten Einzelanträge auf Rehabilitierung. Hier ergriff der Generalarzt der Bundeswehr Dr. Horst Hennig die Initiative, verurteilt im Jahre 1950 zusammen mit anderen Studenten als Widerstandsgruppe gegen die Besatzungsmacht nach §58-10 (antisowjetische Agitation) und §58-6 (Spionage) zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Er nutzte alte Querverbindungen von Bundeswehreinrichtungen mit dem Militärarchiv der russischen Armee. So gelang ihm im September 1992 mit einigen Militärs eine Reise nach Rußland einschließlich des Besuchs in der Lubjanka und in der Generalstaatsanwaltschaft. Seine Rehabilitierung datiert vom 16. Oktober 1992. Dr. Hennig informierte bei dieser Gelegenheit die Redaktion des SPIEGEL, der in seiner Ausgabe 45/1992 einen ausführlichen Bericht über die Probleme der Rehabilitierung brachte. Andere Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung waren vorangegangen.

Mit Hilfe seiner russischen Bekannten gelang Dr. Hennig im Sommer 1993 eine kleine Sensation: die Reise mit einer Delegation von Workuta-Häftlingen über Moskau in das gefürchtete Regime-Lager Workuta. Dort gedachten die Überlebenden am 40. Gedenktag des Aufstandes in Workuta. In Moskau hatte die Delegation ein offenes Gespräch mit Frau G.F. Vesnovskaja, der Abteilungsleiterin für Rehabilitierung in der Generalstaatsanwaltschaft im Generalsrang.

Sie spielte eine Schlüsselrolle für die Rehabilitierung der Deutschen. Am 10. Dezember 1992 unterschrieb sie den Rehabilitierungsbescheid für Joachim Ernst Herzog von Anhalt, der, 1944 aus der KZ-Haft entlassen, vom KGB am 3. September 1945 und im NKWD-Speziallager Buchenwald inhaftiert wurde, wo er im Februar 1947 verstarb.

Im Jahre 1992 war die russische Handhabung der Rehabilitierung von Deutschen nicht klar geregelt. Allerdings ließen sich einige Merkmale erkennen:

  1. Der Antrag mußte über die russische Botschaft oder ein Generalkonsulat geleitet werden oder über das Auswärtige Amt und die Deutsche Botschaft Moskau an die Generalstaatsanwaltschaft.
  2. Die Verurteilung mußte konkret geschildert werden; dann wurden auch die Mitverurteilten desselben Prozesses rehabilitiert.

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  3. Rehabilitiert wurden zunächst nur Verurteilungen nach §58 Strafgesetzbuch wegen sogenannter „Staatsverbrechen", nicht wegen „Kriegsverbrechen".
  4. Die Rehabilitierungen wurden anfangs nach dem Erlaß des Präsidenten der UdSSR vom 13. August 1991 ausgesprochen.

Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland war weder in Bonn noch in Moskau auf diese neue Aufgabe vorbereitet. Die Bearbeitung erfolgte in der Rechtsabteilung. Zunächst mußten Erfahrungen gesammelt werden, bis man sich aufeinander eingespielt hatte.

Nach dem Stand August 1992 waren beim Auswärtigen Amt insgesamt 1.300 Anträge auf Rehabilitierung eingegangen, davon 80 von ehemaligen Kriegsgefangenen. 890 Anträge waren nach Bearbeitung über die Deutsche Botschaft an die zuständigen russischen Stellen weitergeleitet worden. Das Auswärtigen Amt war über 27 ergangene Rehabilitierungs-Bescheide informiert, davon 15 ohne Einschaltung deutscher Stellen.

Inzwischen war am 18. Oktober 1991 das Gesetz über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repression in der Russischen Föderation erlassen worden. Aber es galt in der ersten Fassung nur für Sowjetbürger. Die Änderungen zur Ausweitung der Gültigkeit wurden erst am 22. Dezember 1992 novelliert.

Erst danach erhielt die zuständige Abteilung für Rehabilitierung in der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft die Verwaltung Nr. 5 für die Rehabilitierung von Ausländern mit der entsprechenden personellen Ausweitung. Es dauerte bis 1994, bis diese Unterabteilung ihre volle Kapazität und Ordnung für die Bewältigung ihrer Aufgaben erreicht hatte.

Zum richtigen Verständnis der Zusammenhänge und Verknüpfungen erlauben wir uns jetzt einen kurzen Rückblick auf die Geschichte der Rehabilitierung, getrennt aus russischer und aus deutscher Sicht.

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Rehabilitierung aus russischer Sicht

Solange die Sowjetunion existierte, galt die große Sozialistische Oktober-Revolution 1917 als das bedeutendste revolutionäre Ereignis der Geschichte, und alles, was in ihrem Namen geschah, war gerechtfertigt. Aber nach dem Zerfall der UdSSR im Dezember 1991 traten die

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negativen Seiten der bolschewistischen Machteroberung immer mehr in den Vordergrund.

In seinem Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn im Mai 1995 nannte der Oberst der Justiz Leonid P. Kopalin aus der Generalstaatsanwaltschaft die Sowjetunion „ein Musterbeispiel für ein totalitäres Regime". Sein Urteil über die Oktober-Revolution:

„Heute ist unumstritten, daß seit den ersten Tagen des Sowjetstaates alle seinen Staatsorgane mit Zwang und Willkür arbeiteten. Die Menschenrechte hatten in der Geschichte unseres Vaterlandes nie praktische staatliche Priorität." (Leonid Pawlowitsch Kopalin, Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung, Reihe Gesprächskreis Geschichte, Heft 18, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1995, S. 9)

Das Parlament wurde auseinandergejagt; die Opposition und ihre Medien wurden zerschlagen, die Gesetze abgeschafft. Das dadurch entstandene Machtvakuum wurde mit „revolutionärer Zweckmäßigkeit", „außerordentlichen Maßnahmen" und „Klasseninteressen" der Arbeiter- und Bauernmacht ausgefüllt. Im Dezember 1917 wurde zur Unterdrückung der Konterrevolution die - nach Kopalin - „mächtigste staatliche Repressionsstruktur" geschaffen, die „Gesamtrussische Außerordentliche Kommission", das sogenannte „strafende Schwert der Revolution", später bekannt unter den Abkürzungen OGPU, NKWD, MGB und KGB (ebenda, S. 10).

Im Jahre 1926 wurde ein neues Strafgesetzbuch verabschiedet, das völlig vom revolutionären Geist durchdrungen war. Sein Artikel 1 zu den „Zielen der Strafgesetzgebung der RSFSR" lautet:

  1. „Die Strafgesetzgebung der RSFSR hat zur Aufgabe die Sicherung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern und der in seinem Bereich geltenden Rechtsordnung vor sozialgefährlichen Handlungen (Verbrechen) durch Anwendung der in diesem Gesetzbuch bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes auf die Täter."

Nach russischer heutiger Ansicht war die Sowjetunion seit Lenin ein Unrechtsstaat. Stalin hat dann seit 1934 die Willkür der Repressionsorgane legalisiert und Massenterror gegen ganze Gruppen durchgeführt. Kopalin hält es für unmöglich, die Anzahl der Menschen zu ermitteln, die diesen Repressalien zum Opfer fielen.

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Volkogonov beziffert die Opfer allein für den Zeitraum von 1929-1953 auf 21,5 Millionen. Damit liegt er noch höher als die im „Schwarzbuch des Kommunismus" (deutsche Ausgabe München/ Zürich 1997, S. 16) geschätzte Zahl von 20 Millionen für die Sowjetunion.

Nach dem Tode Stalins und vor allem nach der Geheimrede Nikita Chruschtschows am 24. Februar 1956 vor den Delegierten des 20. Parteikongresses der KPdSU erhob sich intern die Forderung nach Rehabilitierung der unrechtmäßig Repressierten. Tatsächlich wurden nach Feststellung der Generalstaatsanwaltschaft von 1953 bis 1964 mehr als 500.000 Menschen rehabilitiert. Nach Ende des „Tauwetters" unter Chruschtschow seien dann aber bis 1989 in der Sowjetunion nur noch 35.000 Bürger rehabilitiert worden.

Mit der „Perestrojka" Gorbatschows begannen verschiedene Versuche der Rehabilitierung der von Sondergerichten Verurteilten. So wurden zum Beispiel durch ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 16. Januar 1989 alle von Sondergerichten („Trojka des MGB" oder MWD) Verurteilten rehabilitiert, darunter 25.000 Soldaten. Als Einschnitt kann man den Erlaß des Präsidenten der UdSSR vom 13. August 1990 „Über die Wiederherstellung der Rechte aller Opfer politischer Repressionen der 20er bis 50er Jahre" betrachten. An die Generalstaatsanwaltschaft erging die Weisung, alle seit 1920 archivierten Strafakten zu überprüfen. Das war eine unlösbare Aufgabe; denn allein im MWD-Zentralarchiv lagern 25 Millionen Straf-
akten von Prozessen in der Sowjetunion ab 1918.

Überwältigt von der Fülle von Informationen über Willkür und Unrecht wurde in der RSFSR am 18. Oktober 1991 das Gesetz „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen" verabschiedet. Dieses Gesetz mit seinen späteren Modifikationen regelt zum ersten Male umfassend und detailliert, wer rehabilitiert werden soll und wer nicht, das Rehabilitierungsverfahren und die Folgen der Rehabilitierung.

Vorbehaltlich der späteren Dokumentierung und Kommentierung des Gesetzes (vgl. weiter unten; Teil II 1) sei hier nur erwähnt, daß danach jedermann einen Antrag auf Rehabilitierung eines Opfers politischer Gewalt stellen kann und jeder zu rehabilitieren ist, der ab 25. Oktober 1917 auf dem Hoheitsgebiet Rußlands Opfer politischer Gewalt geworden ist.

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Das Gesetz gilt vor allem für Russen. Und hier gibt es einen wichtigen Unterschied im Verfahren:

  • Gemäß Artikel 7 des Gesetzes vom 18.10.1991 sind alle Anträge von „administrativ repressierten" Personen an die zuständigen Organe des Innenministeriums (MWD) zu richten. Das betrifft die große Gruppe derjenigen, die durch Verwaltungsakte ohne Gerichtsurteil in die Verbannung oder in Lager eingewiesen wurden, Zwangsarbeit verrichten mußten und dergleichen mehr.
  • Gemäß Artikel 8 ist für die Rehabilitierung von Opfern, die von sowjetischen Gerichten und Sondergerichten aller Art verurteilt wurden, die Generalstaatsanwaltschaft zuständig. An diese sind also solche Anträge zu richten - wie übrigens auch von allen Ausländern.

Aus den internen Informationen der zuständigen Organe geht hervor, daß bis 1998 rund 4 Millionen Anträge auf Rehabilitierung an das MWD gestellt wurden, von denen über 3 Millionen bearbeitet und entschieden wurden. Unter den Antragstellern waren etwa 500.000 Rußland-Deutsche, die in der Stalin-Ära drangsaliert, verbannt und verfolgt wurden. Nach Anfangsschwierigkeiten erfolgt die Bearbeitung durch die MWD-Organe jetzt zügig.

In der Generalstaatsanwaltschaft wurde ihr militärischer Teil, die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft, für die Rehabilitierung gemäß Gesetz vom 18. Oktober 1991 für zuständig erklärt. Der damalige Hauptmilitärstaatsanwalt, Generaloberst Valentin Panitschew, zählte in einem Interview mit der Armeezeitung KRASNAJA SWEZDA am 11. Februar 1997 die Rehabilitierung als neue wichtige Aufgabe auf und bezifferte die Zahl der durch die Organe der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft von 1992 bis Januar 1997 Rehabilitierten auf mehr als 400.000 Personen. Von Ausländern war damals noch nicht die Rede.

Im Mai 1997 übernahm das Amt des Hauptmilitärstaatsanwaltes der energische General Jurij G. Djomin, Professor und Dr. der Rechtswissenschaften, in führenden Funktionen des KGB und später Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) bewährt. Er wurde im Dezember 1997 zum Generaloberst der Justiz befördert. Es war gut zu beobachten, wie Djomin im ersten Jahr den Apparat gestrafft hat und nach Bestandsaufnahmen in den wichtigen Bereichen klare Konzeptionen gewann. Ich habe ihn bei meinen Besuchen in Moskau und während seines

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einwöchigen Besuchs in Deutschland kennengelernt und erfahren, daß er die Probleme der Rehabilitierung genau kennt.

Nach dem Stand vom Sommer 1999 muß generell zu Einstellung zur Rehabilitierung in Rußland gesagt werden, daß die ursprüngliche Bereitschaft der Staatsduma, das Unrecht der Stalin-Ära wiedergutzumachen, stark zurückgegangen ist. Das Gesetz vom 18.10.1991 wurde verabschiedet, ohne daß aus den Geheimarchiven der Umfang der Verfolgung bekannt gewesen wäre. Heute wird in den Fraktionen der Kommunisten und Nationalisten offen gesagt, daß man es heute nicht in dieser Form verabschieden würde. Anfangs wurden notwendige Änderungen und Anpassungen des Gesetzes rasch verabschiedet; heute ist die Mehrheit nicht mehr dazu bereit. Schirinowski lehnt rundweg alles ab.

Ende Mai 1999 beklagte der Vorsitzende der Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation für Rehabilitierung, A.N. Jakovlev, daß die Staatsduma für das Jahr 1999 nur 200 Millionen Rubel zur Auszahlung an die Stalin-Opfer bewilligt habe, obwohl nach dem Gesetz ein Betrag von 800 Millionen Rubel ausgezahlt werden müßte.

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Rehabilitierung aus deutscher Sicht

Was aus deutscher Sicht an der Rehabilitierung in Rußland vor allem begriffen werden muß, das ist ihr eigener russischer Charakter. Die russische Rehabilitierung gehört zum russischen Staatssystem, und das hat eigene Traditionen. Die russische Staatsanwaltschaft beging mit Stolz im Jahre 1997 ihr 275. Gedenkjahr; denn sie wurde 1722 begründet.

Verfahren und Begründung der Rehabilitierung in Rußland haben mit dem deutschen Rechtssystem und den deutschen Regeln nicht zu tun. Da läßt sich auch nichts vergleichen oder übertragen. Das ist das erste, was beachtet werden muß, wenn Fehler in der Beurteilung vermieden werden sollen.

So hat der deutsche Heimkehrerverband (VdH) als Interessenvertretung der Kriegsgefangenen ab 1955/56 nie die Rehabilitierung, sondern die Annullierung der von Sowjetgerichten verhängten Urteile gegen die Kriegsgefangenen gefordert.

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Die Bundesregierung war konkret mit dieser Frage befaßt, nachdem das Präsidium des Obersten Sowjets in seiner Erklärung vom 28. 9. 1955 gefordert hatte, daß 749 Schwerstverbrecher nicht von der weiteren Verbüßung der Strafen befreit würden, sondern den beiden deutschen Regierungen zur weiteren Verbüßung übergeben würden. Nun mußten diese Regierungen also entscheiden, wie sie die sowjetischen Urteile zu bewerten haben. Die deutsche Bundesregierung unter Dr. Adenauer faßte am 6. Oktober 1955 einen Grundsatzbeschluß, daß weder die Urteile noch die verhängten Strafen der Sowjetgerichte in Deutschland anerkannt würden, weil sie nicht in rechtsstaatlichen Verfahren zustande gekommen sind. In Deutschland galten die Verurteilten als nicht vorbestraft. Es ist interessant, daß in der DDR am 16. April 1956 für die verurteilten Kriegsgefangenen offiziell eine Amnestie ausgesprochen wurde.

Die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland verband mit dem Beschluß im Oktober 1955, daß ein neues Verfahren eingeleitet werden solle, wenn bei Spätheimkehrern aus der Sowjetunion der Verdacht auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestehe. Dies geschah bei Bewachungspersonal von Konzentrationslagern, das von den Sowjetbehörden bewußt 1955/56 unter die heimkehrenden Kriegsgefangenen gemischt wurde. Später wurde mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren bei Verdacht von NS-Gewaltverbrechen die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg beauftragt.

Der VdH forderte auf seinem 17. Verbandstag in Siegen 1982 erneut die Aufhebung der sowjetischen Gerichtsurteile gegen die deutschen Kriegsgefangenen. VdH-Präsident Kießling brachte diesen Beschluß den Ressorts der Bundesregierung zur Kenntnis und erhielt von Bundesaußenminister Genscher eine wenig hoffnungsvolle Antwort vom 9. März 1983. Im Gegensatz zu den drei Westmächten, schrieb Genscher, könne die Frage der wegen Kriegsverbrechen Verurteilten mit der Sowjetunion vertraglich nicht geregelt werden. Auch zur Zeit bestehe keine Aussicht, mit der Sowjetunion zu einer Vereinbarung in dieser Frage zu gelangen. Und abschließend: „Aus den vorgenannten Gründen halte ich Gespräche mit der sowjetischen Regierung zu diesem Thema leider nicht für erfolgverspechend."

Erst nach dem Amtsantritt Gorbatschows begann sich die Lage in Moskau zu ändern. Bundeskanzler Dr. Kohl, von VdH-Präsident

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Kießling gemahnt, sprach das Thema der verurteilten Deutschen bei seinem ersten Staatsbesuch in Moskau im Oktober 1988 gegenüber Generalsekretär Gorbatschow an. In einem Schreiben vom 28. Juni 1989 an Werner Kießling äußerte sich Helmut Kohl grundsätzlich dazu: „Die Bundesregierung steht bereits seit längerer Zeit mit der sowjetischen Seite im Gespräch, um eine Lösung für das von Ihnen angesprochene Problem der Rehabilitierung von in der Stalin-Zeit willkürlich verurteilten Deutschen zu finden [...] In der Sowjetunion hat die Aufarbeitung der eigenen Geschichte inzwischen begonnen, und es sind sowjetische Opfer der Stalinzeit politisch und rechtlich rehabilitiert worden. Dabei werden auch die schrecklichen Taten in Erinnerung gerufen, die in deutschem Namen an den Völkern der Sowjetunion verübt worden sind. Die so wieder aufgerissenen Wunden machen es der sowjetischen Seite nicht leicht, sich auf den Gedanken einzulassen, daß während der Stalin-Ära, sowohl während des Krieges als auch in der Nachkriegszeit, auch Deutsche - Zivilisten wie Kriegsgefangene - Opfer ungerechtfertigter, willkürlicher staatlicher Übergriffe waren und Anspruch auf Rehabilitierung haben."

Der Bundeskanzler blieb mit Gorbatschow darüber im Gespräch. Mit den konkreten Inhalten befaßte sich die Deutsch-sowjetische Arbeitsgruppe für die Zusammenarbeit in humanitären Fragen. Der VdH-Präsident stellte Anfang Januar 1991 den Antrag, Präsidialrat Dr. Wagenlehner in diese Arbeitsgruppe als Vertreter des VdH aufzunehmen. Der Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister Rudolf Seiters, reagierte positiv und regte am Schluß seines Schreibens vom 7. März 1991 an Werner Kießling an:

„Zur Vorbereitung der nächsten Sitzung wäre es nützlich, wenn Herr Dr. Wagenlehner seine Vorstellungen für eine Lösung der Rehabilitierungsfrage und insbesondere zu Form und Inhalt einer offiziellen sowjetischen Erklärung schriftlich niederlegen und dem Auswärtigen Amt übermitteln könnte."

Dieser Vorschlag wurde im April 1991 übermittelt. Aber es verging noch ein Jahr, bis sich auch die russische Seite bereit zeigte, auch die Verurteilung von Kriegsgefangenen in die Prüfung einer gemeinsamen Erklärung zur Rehabilitierung einzubeziehen. Wenn diese Erklärung einvernehmlich von beiden Seiten erfolgen sollte, so war offensichtlich, daß es sich nicht um eine bloße Annullierung der sowjetischen Urteile handeln konnte; sondern daß wir die russische Rehabi

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litierung mit all ihren Eigentümlichkeiten, Vor- und Nachteilen in Kauf nehmen mußten. Die Alternative wäre eine einseitige deutsche Erklärung gewesen.

Um die Jahreswende 1991/92 trafen aus der Sowjetunion die ersten Bescheide über die Rehabilitierung verurteilter deutscher Kriegsgefangener ein. Die Sowjetunion zerfiel, und ihr Präsident Michail Gorbatschow, der Gesprächspartner des Bundeskanzlers beim Thema Rehabilitierung, trat ab. Aus diesen Gründen hielt es der Präsident des VdH, Werner Kießling, für an der Zeit, das Thema Rehabilitierung in einem öffentlichen Schreiben an den Präsidenten der Russischen Föderation zur Sprache zu bringen. Kießling appellierte in seinem Schreiben vom 16. März 1992 an Präsident Boris Jelzin, eine generelle Erklärung zur Rehabilitierung der verurteilten Deutschen nach dem Vorbild des Dekretes über die Rehabilitierung der Rußland-Deutschen zu verabschieden und verwies auf die Vorarbeiten der „Deutsch-sowjetischen Arbeitsgruppe zur Zusammenarbeit in humanitären Fragen".

Später verlautete aus der russischen Generalstaatsanwaltschaft, daß diese Mahnung gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen sei. Die Texte wurden in der Deutsch-russischen Arbeitsgruppe geprüft und angeglichen. Schließlich konnte eine Lösung gefunden werden, die eine generelle Feststellung, „daß die zu Unrecht Verurteilten und unschuldig Verfolgten moralisch rehabilitiert sind", mit der Möglichkeit einer individuellen Rehabilitierung auf Antrag verbindet.

Am 16. Dezember 1992 wurde der Text dieser „Gemeinsamen Erklärung vom Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und Präsident Boris N. Jelzin über die Rehabilitierung unschuldig Verfolgter" in Moskau verkündet (vgl. weiter unten; Teil II 2). Das Ziel einer gemeinsamen Erklärung beider Seiten war nach vielen Jahren endlich erreicht, und ich habe in Moskau beglückt zugehört. Aber zugleich war mir klar, daß die Möglichkeit individueller Beantragung der Rehabilitierung und der zwangsläufigen Verfahren nach russischen Gesetzen und Regeln zu Schwierigkeiten, Unklarheiten und Rückfragen oder Irritationen führen müssen. So kam es. Die Anfragen häuften sich.

In zahlreichen Veranstaltungen der Friedrich-Ebert-Stiftung war das unübersehbar. So entstand im Gesprächskreis Geschichte die Idee zu dieser Publikation mit den wichtigsten Texten und einem Wegweiser, der den Betroffenen helfen soll. Tausende werden das sehr begrüßen.

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Ich habe den Auftrag gern übernommen, meine Erfahrungen als Orientierungshilfe zu Papier zu bringen.

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Leitfaden durch die Publikation

Nach dieser Einführung wird im I. Teil die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Rußlands vorgestellt, das wichtigste Organ für die Rehabilitierung der Deutschen. Jeder Abschnitt wird kurz kommentiert.

  1. Die Organe der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft von Generaloberst der Justiz Prof. Dr. Jurij G. Djomin
  2. Bestandsaufnahme im November 1997 zur Tätigkeit der Unterabteilung 5 zur Rehabilitierung von Bürgern Deutschlands und Österreichs
  3. Aktuelle Berichte über den Stand der Rehabilitierung von Oberst der Justiz Leonid P. Kopalin mit konkreten Beispielen

Im II. Teil folgen als Dokumentation die wichtigsten Texte zur Rehabilitierung, jeweils kurz kommentiert.

  1. Gesetz der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen" vom 18. Oktober 1991 mit den Ergänzungen von 1992 und 1993
  2. „Gemeinsame Erklärung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und Präsident Boris N. Jelzin über die Rehabilitierung unschuldig Verfolgter" vom 16. Dezember 1992
  3. Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichts Rußlands zum Rehabilitierungsverfahren in Fällen der Verurteilung nach UKAS 43 („Kriegsverbrechen") vom 7. April 1998
  4. Verbalnote Nr. 1268 der Deutschen Botschaft Moskau vom 17. Juni 1996 zur Frage der Rehabilitierung der „administrativ Repressierten"
  5. Projekt der Arbeitsgruppe der Kommission beim Präsidenten der RF zur „Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen" vom 26. Mai 1999 für die Änderung und Ergänzung des Gesetzes „Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen"

Im III. Teil sollen schließlich das Rehabilitierungsverfahren und die notwendigen Schritte im Sinne eines Wegweisers verständlich gemacht werden. Dazu gehören auch Ratschläge zur Vermeidung von

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Fehlern und Irrtümern sowie die Probleme der Akteneinsicht und ablehnender Bescheide.

Nach der deutschen Rechtsprechung, vor allem im Bundesverwaltungsgericht, hat die Rehabilitierung in Rußland eines Antragstellers in den neuen Bundesländern, der damals von den sowjetischen Besatzungsbehörden enteignet wurde, Auswirkungen auf die Regelung der Vermögensverhältnisse. Hier ist es also besonders wichtig, Fehler zu vermeiden, die zur Nichtbearbeitung oder Ablehnung des Antrages in Moskau führen können.

So hat unser Wegweiser unmittelbare Bedeutung für die Betroffenen. Voraussetzung für die richtigen Ratschläge ist allerdings die Kenntnis der russischen Verhältnisse. Vor allem das russische Rechtswesen ist im ständigen Umbruch begriffen. Dies nachzuvollziehen ist nur möglich durch kontinuierliche Zusammenarbeit.

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Deutsch-russische Zusammenarbeit

Am 6. Oktober 1992 nahm ich an einer Fernsehdiskussion in „Club 2" in Wien über Kriegsakten in den russischen Archiven teil und lernte dort Wladimir Tarasov vom Staatlichen Archivdienst ROSARCHIV und den Grazer Professor Stefan Karner kennen, der als erster aus dem Westen in den Moskauer Archiven forschte. Lächelnd fragte mich mein Nachbar aus der Schweiz: „Sonst seid Ihr Deutschen immer so schnell; aber die Öffnung der russischen Archive habt Ihr verschlafen. Warum waren denn da die Österreicher schneller?"

Ich gab ihm recht, fügte aber hinzu: „Das werde ich ändern." Und so begann meine Zusammenarbeit mit Stefan Karner. Das erste Archiv in Moskau, das ich von innen sah, war das ehemalige „Sonderarchiv" mit 6 Millionen Akten und Unterlagen von Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Darunter mußte auch meine eigene Akte aus meiner sowjetischen Gefangenschaft 1945-1955 sein. Tatsächlich wurde sie gefunden und mir von Archivdirektor Bondarev feierlich übergeben. Ich war im Dezember 1992 als Journalist in Begleitung des Bundeskanzlers nach Moskau gereist. Das war eine gute Gelegenheit, im Flugzeug auf dem Rückweg Bundesfinanzminister Theo Waigel diese Akte mit über 100 Seiten zu erläutern - mit dem Zusatz, daß ich nun genügend Geld brauche, um die Akten der verurteilten

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Kriegsgefangenen auszuwerten. Denn seitdem ich nun wußte, daß in den russischen Archiven alle Akten der Gefangenen lagern, stand mein Entschluß fest, diese Akten - und zwar von allen verurteilten Deutschen - aufzuspüren und für Dokumentationen auszuwerten.

Mit diesem 16. Dezember 1992 begannen meine organisatorischen und finanziellen Vorbereitungen in Deutschland für die Realisierung des Pilotprojektes in Rußland. Es gelang, die Bundesregierung und auch den Bundestag dafür zu gewinnen; denn ohne offizielle deutsche Unterstützung hätte sich die russische Seite versagt.

Den ersten Vertrag schloß ich am 6. September 1993 in Moskau mit ROSARCHIV. Mir wurden 25 russische Archiv-Angestellte, die ich in der Art einer Joint Venture bezahlte, zur Arbeit an 4 gekauften Computern zur Verfügung gestellt. Mit Prof. Karner als Berater lernten sie Programme und tippten Datensätze mit 38 Daten für jeden Verurteilten ein. Zunächst mußten die verurteilten Deutschen aus den 6 Millionen herausgesucht und dann die Datensätze erstellt werden. Nach drei Jahren hatten wir über 37.000 Datensätze.

Wir lernten schon 1994, daß die wichtigsten Informationen in den Strafakten des Zentralarchivs des Innenministeriums (MWD) steckten. Um diese ebenfalls auswerten zu können, bedurfte es eines Schriftwechsels der beiden Innenminister und danach mehrerer Verträge. Dann funktionierte die Auswertung nach dem gleichen Schema mit einem russischen Team im MWD-Zentralarchiv, aber per Hand, weil westliche Computer im MWD nicht zugelassen wurden.

Im Prinzip ähnlich, aber unter anderen Arbeitsbedingungen, gelang das seit 1996 auch mit dem Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB - früher KGB). Am 31. März 1998 wurden Verträge mit dem FSB über die Lieferung aller Informationen mit CD-Roms abgeschlossen.

So gelang es, bis jetzt die benötigten Daten zu ca. 50.000 verurteilten Deutschen aus den einschlägigen russischen Geheimarchiven zu erhalten. Die restlichen etwa 30.000 sind vertraglich zugesichert. Wir hatten anfangs mit viel weniger gerechnet und waren gut beraten, diese Auswertung von Anfang an auf Computer anzulegen.

Die Auswertung der russischen Geheimakten ist in jeder Hinsicht erfolgreich verlaufen. Die Schlüsselrolle für diesen Erfolg spielt, daß es sich um ein deutsch-russisches Gemeinschaftsprojekt handelt. Wir haben auf russischer Seite Partner gesucht, die wir gefunden haben.

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Das Gemeinsame für Arbeit und Zielsetzung dieses Vorhabens zwischen Russen und Deutschen ist die grundsätzlich negative Einstellung gegenüber den totalitären Systemen in der deutschen und russischen Vergangenheit. Konkret handelt es sich hier darum, durch die Aufarbeitung der Strafakten die Wahrheit über Stalins Strafsystem zu finden. Denn nur die Wahrheit über die Vergangenheit kann zu einer besseren Zukunft zwischen Deutschland und Rußland führen. Zur gemeinsamen Grundhaltung der Partner dieses Projektes gehört, daß dieses schlimmste Kapitel der deutsch-russischen Vergangenheit der gegenseitigen Bestrafung und Vernichtung nur gemeinsam aufgearbeitet werden kann.

Ich habe russische Partner gefunden, weil ich zu den Opfern Stalins gehöre, mehrfach wegen eines Aufstands im Kriegsgefangenenlager Schachty verurteilt. Auf allen Ebenen, von der Arbeitsebene in den Archiven und Verwaltungen bis zum Marschall der Sowjetunion Viktor Kulikow ist die Bereitschaft zur Mitarbeit vorhanden, gibt es also Partner für dieses deutsch-russische Projekt. Wenn die Opfer mit dieser Aufgabe nicht beginnen, wer soll es denn sonst tun.

Vor diesem Hintergrund ist auch das erste Schreiben an mich aus der Generalstaatsanwaltschaft vom 26. Dezember 1994 zu sehen. Der zuständige Oberst Kopalin schickte mir den Bescheid über meine Rehabilitierung für die Verurteilungen vom 22.12.1949 und 21.06.1951 mit einem Begleitschreiben, in dem er die Zusammenarbeit in der Zukunft anregte. Ich stimmte zu, und am 24. Februar 1995 bekräftigte Kopalin sie in der Hoffnung auf „eine erfolgreiche Zusammenarbeit für die Wiederherstellung der Rechte der Opfer des Totalitarismus".

In diesem Geiste ist unsere Zusammenarbeit bis heute verlaufen, auch wenn es um heikle und schwierige Probleme ging. Die Resultate kommen den Antragstellern zugute und schlagen sich in den Ratschlägen im III. Teil dieser Schrift nieder.

Die deutsch-russische Zusammenarbeit für unser Projekt hat sich in zahlreichen Besuchsreisen russischer Delegationen für wissenschaftlich-technischen Erfahrungsaustausch in die Bundesrepublik Deutschland bewährt. Vor allem das MWD-Zentralarchiv will aus den deutschen Erfahrungen lernen, wenn die Geheimarchive im Zuge der Demokratisierung in Rußland aus dem Lubjanka-Bereich ausgegliedert und dann auch interessierten Besuchern zugänglich gemacht werden sollen. Die zuständigen Offiziere und Fachbeamten der russischen Ar-

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chive, aus MWD oder FSB, müssen solche demokratischen Neuerungen intern durchsetzen und benötigen die Genehmigung des Ministers für Reisen ins westliche Ausland. Das wiederum hat unsere Bereitschaft und Einladung auf der entsprechenden Ebene zur Voraussetzung. Und dazu gehören auch Vortragsreisen.

Repräsentanten der Generalstaatsanwaltschaft, Hauptmilitärstaatsanwalt Generaloberst Djomin, General Nikitin, General Kupez und immer wieder Kopalin waren in Bonn und Berlin, trafen in Diskussionen mit deutschen Stalin-Opfern und ihren Verbänden zusammen. Vor allem die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in Bonn, aber auch über ihr Leipziger Büro das Bautzen-Forum hat seit 1993 dazu eingeladen; aber auch der Bundeswehrverband, die Konrad-Adenauer-Stiftung und Lagergemeinschaften sowjetischer Lager von Asbest, Stalingrad bis Workuta.

Auf der anderen Seite wurden mit Zustimmung durch MWD und FSB Reisen von ehemaligen Lagerinsassen der Regime-Lager nach Rußland durchgeführt. Abgeordnete des Deutschen Bundestages reisten nach Moskau und verhandelten mit der Staatsduma, in den Ministerien oder in der Generalstaatsanwaltschaft.

Zu diesen konstruktiven Elementen des Erfahrungsaustausches gehören die wissenschaftlichen Diskussionen mit MWD-Experten ebenso wie die vom Heimkehrerverband veranstalteten sechs deutsch-russischen Seminare in Bonn und Moskau, die letzten vier mit Marschall Kulikow.

Sehr wichtig für die wissenschaftliche Bewältigung des Stoffes sind die deutsch-russischen Konferenzen zur Thematik in Wologda und Dresden mit Historikern und Archivaren. Als Tagungsbände liegen vor „Probleme der Kriegsgefangenen: Geschichte und Gegenwart" Wologda 1997 (in Russisch) und „Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941-1956", herausgegeben von Klaus-Dieter Müller, Konstantin Nikischkin und Günther Wagenlehner, Köln-Weimar 1998, Tagungsband der vom Hannah-Arendt-Institut Dresden in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv und dem Institut für Archivauswertung veranstalteten Konferenz im Juli 1997.

Ohne diese zahlreichen Treffen der Veteranen und Opfer der damaligen Verfolgung sowie auch der für die Rehabilitierung in Rußland Zuständigen hätte sich die Zusammenarbeit mit den Organen der russischen Generalstaatsanwaltschaft nicht so positiv und konstruktiv

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entwickeln können. Denn Worte allein hätten das Mißtrauen der Vergangenheit nicht überwunden.

Zur Wahrheit der in den russischen Akten dokumentierten Verfolgung unschuldiger Menschen gehört eben auch die Wahrheit der deutschen Verbrechen in Rußland. Sie werden durch die Aufdeckung der ungerechtfertigten Verfolgung durch NKWD, MWD und KGB nicht getilgt. Das sollte den Lesern dieser Schrift über die Rehabilitierung bewußt sein.

Als die gezielt von Deutschen verübten Verbrechen in der Sowjetunion 1942/43 ruchbar wurden, befahl Stalin nicht etwa rechtsstaatliche Ermittlungen und Bestrafung der Täter, sondern die Aburteilung einer angemessenen Zahl von Deutschen in der ihm gewohnten Art, wie die „Säuberungen" der 30er Jahre gehandhabt worden waren. So haben die sowjetischen Verfolgungsorgane das verstanden und durchgeführt. Wer in ein Untersuchungsverfahren geriet, der wurde verurteilt, gleichgültig ob er das behauptete Verbrechen verübt hatte oder nicht.

Bei der Rehabilitierung geht es heute in Rußland um die Frage, ob der damals Verurteilte aus heutiger Sicht schuldig gewesen sein kann oder ob er unschuldig war und zu rehabilitieren ist. Für rund 75% der Verurteilten heißt das heutige Urteil: unschuldig.

Die relativ hohe Zahl der Rehabilitierungen bringt Oberst Kopalin in kommunistischen und nationalistischen Kreisen der Duma den Vorwurf ein, er rehabilitiere „deutsche Faschisten". Er pflegt darauf zu antworten: Nein, nicht Faschisten, sondern rehabilitiert werden unschuldig Verurteilte, wie das Gesetz es vorschreibt.

Es bleiben die etwa 25% der Verurteilten, bei denen die damalige Aktenlage nach heutiger Prüfung keine Rehabilitierung zuläßt. Die Betroffenen oder ihre Angehörigen führen Argumente ins Feld, daß die Ablehnung der Rehabilitierung ungerecht sei. Wir werden im Teil III auf solche Fälle eingehen. Hier soll nur das schwierige Problem deutlich gemacht werden, nach der damaligen Aktenlage mit teilweise gepreßten Zeugen und Unterschriften heute ein gerechtes Urteil zu finden. Oberst Kopalin ist um seine Aufgabe wahrlich nicht zu beneiden.

Aber auch wenn alle verurteilten Deutschen tatsächlich unschuldig wären, so hieße das nur, daß Stalins System unfähig war, die tatsächlich Schuldigen zu entdecken; denn die Verbrechen bleiben, ob die

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Täter gefunden werden oder nicht. Wenn das der Ausgangspunkt der Betrachtungen ist, wird diese Schrift ihren Zweck erfüllen.

Für mein Institut für Archivauswertung erhoffe ich mir dadurch Entlastung von den immer häufigeren Fragen nach der Rehabilitierung. Ursprünglich waren die meisten Anfragen auf Akteneinsicht und Aufklärung von Schicksalen gerichtet. Heute hat sich der Schwerpunkt auf die Rehabilitierung verlagert. Viele Fragen ähneln sich. Hier kann die vorliegende Publikation vielen Betroffenen, ihren Angehörigen und allgemein Interessierten zu Antworten verhelfen.

Auch dafür gilt der Friedrich-Ebert-Stiftung und allen, die dazu beigetragen haben, Dank für diese Initiative.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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