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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 23]


Friedhelm Boll
Thesen zur Wahrnehmung der politischen Repression in der SBZ/DDR seit der Wende


Hiermit möchte ich Ihnen einige Thesen vortragen über die Wahrnehmung der politischen Repression der SBZ/DDR seit der Wende 1989/90. Dabei steht das Wechselspiel von Öffentlichkeit und Zeitzeugen im Vordergrund. Neben einigen Umfragedaten wird eine Serie von 58 lebensgeschichtlichen Interviews mit Verfolgten der Jahre 1945 bis 1953 die Basis der hier vorgetragenen Überlegungen bilden.

1. These:

Das Wiederaufbrechen der Erinnerung an die stalinistisch-kommunistischen Verbrechen nach der Wende von 1989/90 läßt sich zureichend als unerwarteter Schock beschreiben, der weitreichende Folgen sowohl für die ehemaligen Häftlinge wie für die Öffentlichkeit hatte.

Das öffentliche Interesse der Wendezeit war gekennzeichnet durch das Strohfeuer eines Informations- und Aufklärungsbedürfnises, das überraschend schnell wieder erlosch. Dazu einige Daten: Nach einer Zeitreihenuntersuchung des IPOS-Instituts über „aktuelle Probleme der Innenpolitik" wurde die Aufklärung über die SED - und insbesondere über die Stasivergangenheit - 1991, ein halbes Jahr nach der deutschen Vereinigung, als „eine äußerst wichtige Aufgabe angesehen". [ Siehe dazu: Dieter Roth, Vergeben und Vergessen? Die Meinung der Mehrheit heute, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig (Hrsg.), 6. Baut zen-Forum - Wahrheit, Gerechtigkeit - Versöhnung - menschliches Verhalten unter Gewaltherrschaft, Leipzig 1996, S. 115-120, hier S. 116. Die folgenden Grafiken sind abgedruckt ebd., S. 119f.]
94% der ostdeutschen Bevölkerung hielt damals die strafrechtliche Verfolgung der Haupttäter für „sehr wichtig" oder „wichtig". Ähnlich hoch lagen die Meinungswerte bei Fragen nach der „Zerschlagung noch bestehender Seilschaften", bei der „Sicherstellung der Stasi-Akten" und der „Aufklärung über das Unterdrückungssystem der SED". Diese Werte lassen sich stärker differenzieren, wenn man „sehr wichtig" und „wichtig" unterscheidet. 71% der Ostdeutschen hielten 1991 „die strafrechtliche Verfolgung der

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Haupttäter" für „sehr wichtig", die Aufklärung über das Unterdrückungssystem und die Wiedergutmachung an den SPD-Opfern schätzten aber nur noch 43% bzw. 42% als „sehr wichtig" ein. Von diesem Meinungstrend unterschieden sich damals nur die PDS-Anhänger, für die Aufklärung und Wiedergutmachung damals wie heute kein (wichtiges) Thema war. [ Ebd.] Nebenbemerkung: Daß intellektuelle Minderheiten aller politischen Strömungen anders denken, als die hier angegebenen Durchschnittswerte anzeigen, liegt auf der Hand.

Dieses außerordentliche Interesse an der DDR-Vergangenheit hat auf dramatische Weise abgenommen, was die Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim präzise registrieren konnte. Sie stellte mehrere Jahre lang die Frage. „Sollte man möglichst bald einen Schlußstrich ziehen und die Vergangenheit ruhen lassen, oder sollte man alles aufdecken, auch wenn dabei viel Unangenehmes zutage kommt?"

Entsprechend dem Meinungstrend von 1991 waren ca. 70% der Westdeutschen und ca. 63% der Ostdeutschen für das „Aufdecken" und 20% der Westler bzw. 36% der Ostler für den „Schlußstrich". Differenziert nach politischer Anhängerschaft, waren damals schon 64% der PDS-Anhänger für Schlußstrich und nur 36% für Aufdecken. Das ist nicht überraschend. Eher erstaunen muß die Tatsache, daß innerhalb weniger Monate schon Ende 1991 und im Laufe des Jahres 1992 das Meinungsklima in weiten Teilen Deutschlands völlig umschlug. Die Zahl derjenigen, die für „Schlußstrich" votierten, überstieg in Ostdeutschland schon Ende 1991, in Westdeutschland ein Jahr später die Zahl derer, die alles aufzudecken wünschten.

Seitdem blieb der Meinungstrend relativ konstant. Für Schlußstrich sprechen sich um die 60% der Ostdeutschen und um die 50% der Westdeutschen aus, für das Aufdecken sind nur noch zwischen 30 und 40%. Dieser auch für die Meinungsforschung überraschend schnelle Stimmungswandel bildet in unserem Zusammenhang das Hauptargument, von einem Strohfeuer des Aufklärungsbedürfnisses zu sprechen, das weiterer Erklärungen bedarf. Eine tiefergehende Erläuterung kann die Meinungsforschung allerdings nicht liefern, da sie sich zunächst auf die Darstellung der skizzierten Daten beschränken muß. [ Dies wird von Roth, ebd. eigens betont.]

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Bewältigung der DDR-Vergangenheit
West


Quelle:1991 - 1993 IPOS, Probleme der Innenpolitik, Mai 1995 FGW, Politbarometer





Bewältigung der DDR-Vergangenheit
Ost


Quelle: 1991 - 1993 IPOS, Probleme der Innenpolitik, Mai 1995 FGW, Politbarometer

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Bewältigung der DDR-Vergangenheit
Ost: CDU-Anhänger


Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer Ost Mai 1995





Bewältigung der DDR-Vergangenheit
Ost: Parteilich nicht festgelegt


Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer Ost Mai 1995

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Bewältigung der DDR-Vergangenheit
Ost: SPD-Anhänger


Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer Ost Mai 1995





Bewältigung der DDR-Vergangenheit
Ost: PDS-Anhänger


Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer Ost Mai 1995

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Um die Ursachen des raschen Umschlags im Meinungsklima der Nachwendezeit genauer herauszufiltern, ist es notwendig, die wichtigsten Anhaltspunkte des schockartigen Aufbrechens der Verbrechen der SBZ/DDR-Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dabei standen die Probleme des sogenannten Staatsterrorismus (u.a. die Morde an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze), Ausmaß und Umfang der Stasitätigkeit mit dem dazugehörigen Bespitzelungs- und Zersetzungsapparat sowie das Aufdecken der stalinistischen Verbrechen aus der Frühzeit der DDR im Vordergrund des Interesses der Wendezeit.

2. These:

Die Wirkung des Unerwarteten, des schockartigen Bewußtwerdens der stalinistischen Verbrechen, während der Wende hat viel zu tun mit der Suche und dem Freilegen der Gräberfelder, auf denen die Umgekommenen der Nachkriegsjahre verscharrt worden waren. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Aktivitäten ehemaliger Häftlinge, die häufig im Umkreis der ehemaligen Lager und Zuchthäuser der SBZ/DDR nach den Stellen suchten, an denen die in der Haft Verstorbenen namenlos unter die Erde gebracht worden waren. Nach dem Freilegen der Gräber verschwand dieses Thema aus den Schlagzeilen. Auch dies trug zum raschen Verlöschen des Aufklärungsstrohfeuers bei.

An allen Orten der 10 ehemaligen sowjetischen Speziallager der SBZ sowie im Umkreis der wichtigsten DDR-Zuchthäuser oder im Bereich von Stasi-Gefängnissen wurde nach den Bereichen gesucht, an denen die Überlebenden die Gräberfelder vermuteten. Berichte über das Aufspüren von entsprechenden Massengräbern der frühen Nachkriegszeit, ihre Freilegung und erste spontane Gedenkveranstaltungen wurden auch von westdeutschen, ja von internationalen Medien begierig aufgegriffen. Allein die Tatsache, daß in der Umgebung der ehemaligen sowjetischen Speziallager Zigtausende ehemaliger politischer Häftlinge verscharrt worden waren, wurde zum Symbol stalinistischer Unmenschlichkeit auf deutschem Boden. Wer und aus welchem Grunde in der frühen Nachkriegszeit hier eingesessen hatte, schien kaum von Bedeutung. Allein die Unmenschlichkeit des Verscharrens, das Verbot der Totenehrung, das Vertuschen der begange-

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nen Untaten und die Tabuisierung des Erinnerns waren Beweis genug für die Verbrechen Stalins und seiner deutschen Helfer.

Die Erfahrung des Todes und die Gefühle der eigenen damaligen Todesangst spielen in den Lebensberichten der direkt Betroffenen (Häftlinge und ihre Angehörigen) eine zentrale Rolle. Gerade für diejenigen, die als Ärzte, Krankenpfleger oder Beschäftigte der Beerdigungskommandos das Sterben tagtäglich miterlebten, stellt die Verpflichtung zum Gedenken der Toten den Dreh- und Angelpunkt ihrer Lebensberichte dar. Das Wiederauffinden der Namen der Verstorbenen, die Errichtung von Gedenksteinen, Tafeln oder - wie in Bautzen - einer Gedenkkapelle ist ihnen oft wichtiger als die historiographische Verarbeitung. Die Empfindungen der Scham und der Schuld, der persönlichen Erniedrigung aufgrund von Haftfolter und hoffnungslosem Ausgeliefertsein sowie aufgrund des sprichwörtlichen hygienischen Chaos in den Nachkriegslagern, finden die Betroffenen nicht selten in religiös geprägten Gedenkveranstaltungen besser aufgehoben als in öffentlichen Diskussionsrunden.

Die Umwandlung der provisorisch eingerichteten Gedenkorte und deren Verankerung in einer größere Teile der Öffentlichkeit umfassenden Gedenkkultur braucht jedoch Zeit, in der sowohl historische Forschung wie pädagogische und geschichtsdidaktische Reflexion ihre Wirkung entfalten kann. Eine zureichende Gedenkkultur mit entsprechenden Denkmälern und Forschungseinrichtungen, die die Thematik der stalinistischen Verbrechen breitenwirksamer hätte wachhalten können, war nicht von heute auf morgen aus dem Boden zu stampfen. Auch diese Umstände trugen zum Verlöschen des Strohfeuers der Aufarbeitungsbereitschaft bei.

3. These:

Für die meisten politischen Häftlingen aus der Frühzeit von SBZ/DDR bildete der Zusammenbruch der DDR die Erfüllung einer langersehnten Hoffnung, an der manche von ihnen kaum noch festzuhalten gewagt hatten. Allerdings provozierte dieses Ereignis eine außerordentlich tiefgehende Konfrontation mit einer teils vergessenen, teils verdrängten oder zumindest überwunden geglaubten Vergangenheit. Lange nicht alle empfanden die Konfrontation mit der Geschichte als Befreiung, eher schon als Belastung. So dauerte es manchmal Jahre, bis ehemalige Häftlinge mit der neuen Situation

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zurecht kamen, bis die Stasi-Akten gesichtet, ausgewertet, die damit verbundenen Schockerlebnisse und die Vertrauensverluste „verarbeitet" waren. Auch dieser Umstand ließ das öffentliche Interesse an den Opfern erkalten.

Eine Typologie der Reaktionsweisen auf diese neuerliche, von der Wende provozierte Herausforderung durch die Geschichte kann hier nicht entfaltet werden. Einige Beispiele müssen genügen: Da gibt es Personen, wie Hans Corbat und Benno von Heynitz vom Bautzen-Komitee, die den Sturz der DDR erlebten, als sie an der Grenze zum Rentenalter standen, und die die Aufgaben der Erinnerungsarbeit als neue, für sie durchaus befriedigende Herausforderung annahmen. Für manche aus dieser Gruppe brachten die neuen Aufgaben mehr Engagement und mehr Befriedigung mit sich als die vorangegangene Berufstätigkeit.

Es gibt aber auch diejenigen, die von den alten Erinnerungen in unerwartet starker Weise heimgesucht wurden und die lieber vergessen würden, als alles erneut durchleben zu müssen. Nur einem Teil von ihnen gelingt es, sich dies alles von der Seele zu schreiben. Einer davon ist Dieter Rieke, der formuliert:

„Man möchte die schreckliche Vergangenheit am liebsten vergessen, aber die Betroffenen können es leider nicht. Zu tief sitzen die Einschnitte in das damals noch junge Leben. Die Wunden sind vernarbt, aber die Schmerzen sind noch immer in der Seele. Sie denken an die erbarmungslosen Verhöre, an die Hungerjahre in Bautzen, Workuta, Waldheim, Hoheneck und in den vielen anderen Lagern. Sie denken vor allem aber auch an die vielen Freunde und Weggefährten, die diese Zeit der Entbehrungen und des Schreckens nicht überstanden haben." [ Zitiert nach „Ich möchte vergessen ...", in: Die Brücke, 48er Jg., 15.1.1994. Mit diesem Zitat wendet sich Dieter Rieke explizit gegen Äußerungen unter anderem von Helmut Kohl, die Stasi-Akten sollten wieder geschlossen werden.]

Schließlich gibt es auch solche, die erst jetzt wieder mit ihrer Haftzeit konfrontiert werden. „Nun kam alles wieder hoch" und wurde in Alpträumen, ständigem Unruhigsein, unmotivierten Angstzuständen und stark deprimierenden Gefühlen der persönlichen Ernied-

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rigung erlebt. Zum Teil waren diese körperlich wie seelisch massiv einsetzenden Reaktionen mit seelischen Zusammenbrüchen (manchmal auch während des Interviews) verbunden. Ich denke hier an einen Mann, der sich nach diesen durch die Wende ausgelösten Erfahrungen in therapeutische Behandlung begeben mußte, wobei das Vollbild der posttraumatischen Belastungsstörungen diagnostiziert wurde. [ Siehe: Doris Denis, Posttraumatische Störungen nach politischer Inhaftierung in der DDR, in: Klaus-Dieter Müller/Annegret Stephan (Hrsg.), Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1998, S. 209.] Erst jetzt, nach der Wende, fing er an, die bisher verdrängte Familiengeschichte aufzuarbeiten. Dabei wurde auch die lange vergessene Widerstandstätigkeit der Eltern während des Nationalsozialismus wieder aktuell, wie auch die intensiven Auseinandersetzungen seiner Mutter mit der eigenen Partei, der SED, und ihrer Führung. Obwohl die NS-Verfolgung noch länger als die Haft in Bautzen zurücklag, bemühte sich Hermann B. erst Jahre nach der Wende um seine Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes. Das gelang ihm 1998, als er fast gleichzeitig eine Zusatzrente wegen psychischer Spätfolgen der Haft in sowjetischen Nachkriegslagern zugesprochen bekam. Erst jetzt, 9 Jahre nach der Wende, ist sein Aufarbeitungsprozeß zu einem Abschluß gekommen, der es ihm erlaubt, ohne alptraumartige Rückfälle und emotionale Zusammenbrüche über seine Verfolgungszeit sprechen oder diesbezügliche Fernsehsendungen ansehen zu können.

Die individuelle, durch die Wende schockartig in Gang gesetzte Aufarbeitung bei den direkt Betroffenen muß als ein langjähriger Prozeß angesehen werden. Da die aus der stalinistischen Zeit zurückgebliebenen Traumata nur langsam in jüngeren Forschungen umrißhaft deutlich werden, kann auch eine diesbezügliche Gedenkpolitik erst nach und nach entwickelt werden. Auch dieser Umstand hat dazu beigetragen, daß die Berücksichtigung der stalinistischen Verbrechen auf deutschem Boden im kollektiven Gedächtnis nur sukzessive vor sich gehen konnte.

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4. These:

Angesichts einer stark entfalteten, auf den Nationalsozialismus bezogenen Gedenkkultur mußten das Freilegen der Massengräber und die ersten Gedenkveranstaltungen zu Ehren der Stalinismusopfer zwangsläufig zu einer spannungsreichen Konkurrenzsituation führen.

Ganz offensichtlich bildete die NS-Gedenkkultur eine Art Interpretationsfolie für das Verständnis der neu bzw. wieder aufgedeckten stalinistischen Verbrechen: Die Nachkriegslager wurden jetzt (wie zur Zeit des Kalten Krieges) als KZ (der Sowjets) bezeichnet; nicht wenige Wissenschaftler sprachen von den „beiden deutschen Diktaturen", womit sie trotz nachgeschobener Differenzierungen eine semantische Gleichordnung vornahmen; bei den Gestaltungsvorschlägen für die Einrichtung eines Dokumentenhauses des sowjetischen Speziallagers in der Gedenkstätte Buchenwald waren zunächst Symbolelemente wie Stelen und eine Rampe geplant, die eindeutig aus dem Gedenkkontext des Holocaust stammten. Eine Gedenkkultur, die nicht gleichsetzt, sondern die jeweiligen Verfolgungssysteme in ihrer Eigencharakteristik unterstreicht, ist erst noch zu entwickeln. Selbstverständlich ist dabei darauf zu achten, daß die Opfer des Stalinismus nicht als Opfer zweiter Klasse oder als nachgeordnete Opfer behandelt werden. Dies wird erst gelingen, wenn wir mehr über die deutsch-deutsche Vorgeschichte dieser Opferkonkurrenz wissen.

Eine der Erinnerung an die NS-Verbrechen vergleichbare Mahn- und Gedenkkultur hat sich im Westen nicht entwickeln können, auch wenn, nicht zuletzt auf Grund der Aktivitäten der Bundeszentrale für politische Bildung und des Innerdeutschen Ministeriums, das Bewußtsein von den Verfolgungen in der SBZ/DDR wachgehalten wurde. Das stärkste Symbol dieses Bereichs, der auf sozialdemokratisches Drängen eingerichtete Tag der Deutschen Einheit, der 17. Juni, hatte die Bedeutung eines Gedenktages zunehmend verloren, Gedenkstätten an den authentischen Orten der Verbrechen konnten aus naheliegenden Gründen nicht errichtet werden. So bildete die Frage einer historisch zureichenden, auf die stalinistisch-kommunistische Verfolgung bezogene Gedenkkultur ein zentrales Problem der Nachwendezeit, das insbesondere an den Gedenkstätten mit doppelter Vergangenheit zum Tragen kam.

Sollte nun das Rad der Geschichte zurückgedreht werden und eine Epoche beginnen, bei der die Erinnerung an die deutschen Opfer der

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Kriegs- und Nachkriegszeit die Erinnerung an die von Deutschen begangenen Verbrechen der NS-Zeit verdrängen würde?

In dieser Situation waren auch von wissenschaftlicher Seite eine zeitlang geschichtsrevisionistische Töne zu hören. So hoffte der bekannte, CDU-nahe Zeithistoriker und Adenauerbiograph Hans-Peter Schwarz, die Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen werde „für die künftigen Jahrzehnte das Hauptthema der Vergangenheitsbewältigung einer jüngeren Generation darstellen" und die politische Linke von ihrer „kollektiven Vergangenheitsneurose" und der ständigen Thematisierung der NS-Verbrechen befreien, so daß beides, die Erinnerung an den Stalinismus wie die an den Nationalsozialismus, dem Strom des Vergessens anheim gegeben werden könnten.

Daß die in diesem Bereich notwendigen Klärungen Zeit und andererseits auch öffentlichen Verständigungsbedarf brauchen, hat ebenfalls dazu beigetragen, das Aufarbeitungsbedürfnis zu dämpfen.

Wie bekannt ist, ist diese von Schwarz beschriebene Entwicklung bisher nicht eingetreten. Dazu hat eine für die Gedenkkultur wichtige Überzeugung beigetragen, die für die Gedenkstätten grundlegende Bedeutung hat: daß nämlich die stalinistische Verfolgung auf deutschem Boden ohne 1933, ohne die Verbrechen des NS, nicht möglich gewesen wäre.

Auch in der DDR gab es eine untergründige Opferkonkurrenz, die durch die Entfaltung des antifaschistischen Opferkults indirekt mit wachgehalten wurde. Viele der von uns interviewten Zeitzeugen der stalinistischen Verfolgungen berichten, daß sie bei DDR-offiziellen Besuchen der Gedenkstätten insbesondere in Buchenwald ebenfalls Blumen mitbrachten und im stillen Gedenken an ihre Haftkameraden niederlegten. Sie gedachten allerdings nicht der kommunistischen KZ-Opfer, sondern der stalinistischen Opfer der Nachkriegszeit. Ähnliche Beispiele aus Mühlberg und anderen Orten ehemaliger sowjetischer Speziallager sind überliefert. Von großer Bedeutung für die Opfer des Stalinismus waren auch die Aktivitäten der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, Informationen über verschwundene Personen zu sammeln und Berichte von freigelassenen Lagerhäftlingen an betroffene Angehörige weiterzugeben. Das Sammeln der Namen der verscharrten Kameraden bildete ebenfalls eine der wichtigsten Gedenkaktivitäten der ehemaligen Häftlinge

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- Aktivitäten, die bereits im Lager eingesetzt hatten und nun nach der Wende in verstärktem Maße wieder auflebten.

Schlußbemerkung

Das Strohfeuer der Aufarbeitungseuphorie ist verraucht. Allerdings hält die Meinungsforschung für diejenigen, die an weiterer Aufarbeitung/Geschichtsklärung interessiert sind, auch Tröstliches bereit: Es sind immer noch drei gesellschaftliche Gruppen, bei denen die Aufarbeitungsmotivation das Schlußstrichinteresse überwiegt. Dies ist so bei Anhängern von Bündnis90/Die Grünen, bei Jungwählern unter 25 Jahren und generell bei Befragten mit höheren Bildungsabschlüssen. Bedenkt man, daß auch im Bezug auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit diejenigen, die für Schlußstrich plädieren, konstant mindestens die Hälfte der Befragten ausmachen, so scheint auch hinsichtlich der DDR-Vergangenheit kein Sonderfall, sondern eine Art Normalität eingetreten zu sein.

[Seite der Druckausg.: 35 - 38]

    [Auf den Seiten 35 bis 38 der Druckausgabe wird ein Überblick über die Titel,
    die in der Reihe "Gesprächskreis Geschichte" erschienen sind, gegeben.]



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