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Erinnerungen an Gustav W. Heinemann : Vortrag einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Bundesarchivs am 25. Februar 1999 im Schloß Rastatt anläßlich der Eröffnung der Ausstellung "Gustav Heinemann und Raststatt" und der Präsentation des Buches "Gustav W. Heinemann: Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten" / Diether Posser. - [Electronic Ed.]. - Bonn, 1999. - 22 S. = 42 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 24). - ISBN 3-86077-810-2
Electronic edition: FES-Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT







[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelseiten]

[Seite der Druckausg.: 3]

Vorbemerkung des Herausgebers

Am 23. Juli 1999 wäre Gustav W. Heinemann 100 Jahre alt geworden. Mit Blick auf diesen Tag hatten das Bundesarchiv und die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer Veranstaltung am 25. Februar 1999 ins Schloß Rastatt mit einer doppelten Zielsetzung eingeladen. Zum einen wurde in der von Heinemann angeregten „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte" eine Sonderausstellung „Gustav W. Heinemann und Rastatt. Demokratische Tradition in Deutschland" eröffnet.

Zum anderen wurde das Buch „Gustav W. Heinemann: Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten" der Öffentlichkeit präsentiert, das auf Anregung der Gustav-Heinemann-Initiative herausgegeben und mit Mitteln der Erich-Brost-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung gedruckt worden ist. Der Herausgeber, Dr. Diether Koch, hat aus intimer Kenntnis des Werkes und des Wirkens Gustav Heinemanns ein Lesebuch mit Heinemann-Texten erarbeitet, das dem heutigen, vor allem dem jungen Leser die Tiefe und Folgerichtigkeit des Heinemannschen Denkens nahebringen soll. Der Ausdruck Denken trifft die Sache allerdings nur unvollständig. Denn nur wenige Menschen waren und sind so konsequent wie Heinemann in ihrem Einspruch „gegen obrigkeitsstaatliches Denken, gegen Kalte-Kriegs-Psychose, gegen wirtschaftlichen Egoismus, gegen nationalistische Borniertheit und politische Kurzsichtigkeit", wie es auf dem Umschlag des Buches heißt.

Der stets kritische, oft unbequeme Vor- und Querdenker Gustav Heinemann ist sich und seinen Überzeugungen immer treu geblieben und hat im Auf und Ab seines öffentlichen Lebens nicht selten die Position des Außenseiters in Kauf genommen. Als geschichtsbewußter Christ und Demokrat setzte er sich - unbeirrt von Widerständen in Kirche und Politik - für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in universellem Maßstab ein. Er weigerte sich standhaft, als richtig erkannte Grundpositionen zu relativieren und sich dem Diktat wirklicher oder vermeintlicher Zwangsläufigkeiten zu beugen. Dabei wich er auch den unbequemen Entwicklungen nicht aus, die viele zu verdrängen

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suchen. Ob als Mitglied der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit, als erster CDU-Bundesinnenminister oder als SPD-Bundesjustizminister und schließlich von 1969 bis 1974 als Bundespräsident - immer stellte Gustav W. Heinemann sich als Christ seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen.

Bei der Rastatter Veranstaltung trug Dr. Diether Posser persönliche Erinnerungen an Heinemann vor. Posser war eng mit Heinemann verbunden und seit 1952 als Sozius in dessen Kanzlei tätig. Von 1966-90 gehörte er ununterbrochen dem Landtag von Nordrhein-Westfalen an und war von 1968-88 Minister für Bundesangelegenheiten und Justiz bzw. Finanzminister, ab 1980 zusätzlich stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen.

Auf vielfachen Wunsch werden diese persönlichen Erinnerungen Diether Possers an Gustav Heinemann hiermit, etwas erweitert, im Druck vorgelegt. Wir hoffen, daß sie Licht auf die außergewöhnliche Persönlichkeit des ehemaligen Bundespräsidenten werfen.

Bonn, im März 1999

Dr. Dieter Dowe
Leiter des
Historischen Forchungszentrums
der Friedrich-Ebert-Stiftung



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Diether Posser:
Erinnerungen an Gustav W. Heinemann


Aus einer jahrzehntelangen beruflichen und politischen Zusammenarbeit sowie enger persönlichen Bindung an Gustav Heinemann möchte ich an Hand einiger Beispiele das Denken und Wirken dieses außergewöhnlichen Mannes erzählen.

Im Laufe unserer Zusammenarbeit berichtete Heinemann viel aus seiner Familiengeschichte; insbesondere konnte er fesselnd über die Revolutionsjahre 1848/49 erzählen. Zwei Brüder seines Urgroßvaters, Carl und Friedrich Walter, hatten in Baden mitgekämpft. Carl Walter starb nach schwerer Verwundung in der Nähe von Rastatt; seinem Bruder gelang die Flucht in die USA als Mitstreiter von Carl Schurz, der in den USA zum Senator und Innenminister aufstieg. Geradezu fasziniert war Heinemann von dem Rechtsanwalt Friedrich Hecker, dem Führer des badischen Aufstandes 1848, dem noch rechtzeitig die Flucht in die USA gelang, wo er als Oberst der Unionstruppen im Sezessionskrieg für die Abschaffung der Sklaverei kämpfte. Das berühmte Hecker-Lied habe ich von Gustav Heinemann gelernt. Er beklagte, daß in mehreren Staaten der USA den deutschen Revolutionären von 1848/49 Denkmäler errichtet wurden, während sie in Deutschland bis vor wenigen Jahren nahezu vergessen waren. Wie sehr demokratisch-freiheitliches Denken die mütterliche Familie Heinemanns prägte, ist auch daran zu erkennen, daß seine Mutter, die keine Brüder hatte, ihrem Erstgeborenen neben dem Vornamen Gustav ihren Familiennamen Walter gab, der also nicht als zweiter Vorname gesehen werden darf.

Folgerichtig betrieb Heinemann die Einrichtung einer „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte", die er - eine seiner letzten Amtshandlungen als Bundespräsident - im Juni 1974 im Rastatter Schloß eröffnete. Wie sehr ihm diese Erinnerungsstätte am Herzen lag, zeigt auch der Brief, den er am Morgen seines Todestages, am 7. Juli 1976, an den damaligen Bundesverteidi-

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gungsminister Georg Leber diktiert hatte, in dem es um eine räumliche Erweiterung der Erinnerungsstätte ging. Den Brief konnte er nicht mehr unterschreiben, weil er kurz nach dem Diktat verstarb. Georg Leber erfüllte Heinemanns letzte Bitte und trat zwei Räume des ihm unterstehenden wehrgeschichtlichen Museums an die Erinnerungsstätte ab.

Heinemann war ein außerordentlich sparsamer und persönlich bescheidener Mensch. Hinzu kam ein ungewöhnlich korrekter Umgang mit dem Geld der Steuerzahler. Dazu drei Erlebnisse:

Nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 5. März 1969 in Berlin dauerte es fast vier Monate bis zur Amtseinführung am 1. Juli 1969. Während dieser Zeit wollte Heinemann gern in Bonn sein, um u.a. enge zukünftige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (wie Persönlichen Referenten, Pressesprecher, Sekretärin) nach Vorstellungsgesprächen auszuwählen. Ich war damals Minister für Bundesangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen und Hausherr unserer Landesvertretung, in der es außer der Ministerwohnung noch einige Räume gab, in denen Mitglieder der Landesregierung oder Staatssekretäre, insbesondere bei mehrtägigen Sitzungen der Bundesratsausschüsse, unentgeltlich übernachten konnten.

Ich bot Heinemann für die wenigen Übergangsmonate für ihn und seine Frau ein Appartement in der Landesvertretung an, das aus einem Schlafzimmer, einem kleinen Arbeitsraum und einem Badezimmer bestand. Er akzeptierte lächelnd das Angebot, als designierter Bundespräsident Gast des Landes Nordrhein-Westfalen zu sein. Am nächsten Tag erschienen zu meiner Verblüffung Beamte des Hochbauamtes, die von Heinemann gebeten worden waren, den Mietwert seines Appartements festzusetzen. Die Miete für die vier Monate zahlte er an die Landeshauptkasse. Zusätzlich errichtete er für die in der Landesvertretung angebotenen Mahlzeiten ein Verpflegungsgeld, das ich wegen seiner unangemessenen Höhe nur unter Protest in die Haushaltskasse des Ministeriums einnehmen ließ.

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Heinemann spielte gern Skat. Nicht immer waren ausreichend Mitspieler zur Stelle, zu denen übrigens vor allem der CDU-Bundestagsabgeordnete Paul Mikat gehörte. An einem Freitagnachmittag kurz vor Dienstschluß rief Heinemann mich in der Landesvertretung an und fragte, ob ich zu der abendlichen Skatrunde einen dritten Mann mitbringen könne. Ich konnte gerade noch meinen damaligen Persönlichen Referenten erreichen, der zum Wochenende zu seiner Mutter nach Dortmund fahren wollte. Er war sofort zum Mitspielen in der Villa Hammerschmidt bereit.

Im Laufe des Abends holte Heinemann mehrfach Wein und notierte Anzahl und Etikett der Flaschen, die wir tranken. Den Preis zahlte er an die Kasse des Bundespräsidialamtes, weil unser Zusammensein nicht dienstlich, sondern privat veranlaßt war. Ich kannte diese Heinemannsche Angewohnheit von früheren Besuchen bei ihm, aber mein Persönlicher Referent war verblüfft und tief beeindruckt. Inzwischen Gruppenleiter im nordrhein-westfälischen Finanzministerium, erzählte er bei einem Treffen von Angehörigen des Ministeriums im vergangenen Jahr dieses Erlebnis, das über 25 Jahre zurücklag und nach seinen Worten für ihn unvergeßlich bleibe.

Man braucht nur an die vor einiger Zeit aufgedeckte Selbstbedienungsmentalität einiger Kommissare der Europäischen Union zu denken, um Heinemanns Verhalten richtig würdigen zu können.

Nur wenigen war bekannt, daß Heinemann eine Pension, die er für seine gut zwanzigjährige Tätigkeit in leitender Position bei den Rheinischen Stahlwerken bekam, vollständig an das Bundespräsidialamt zur Verwendung für soziale Zwecke überweisen ließ. Aus diesem Fonds wurden Zahlungen in solchen Fällen geleistet, die in dem amtlichen, d.h. im Bundeshaushalt ausgewiesenen Sozialfonds nicht unterzubringen waren, aber doch einer Hilfe bedürftig erschienen. Aus diesen aus Heinemanns Pension herrührenden Mitteln wurden u.a. Umzugskosten in Höhe von DM 3.000,- an den bei einem Attentat in Berlin schwer verletzten ehemaligen Studentenführer Rudi Dutschke gezahlt, der seinen Wohnsitz aus Deutschland nach Dänemark verlegte und dort an den Spätfolgen des Attentats verstarb.

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Der Vorgang wurde öffentlich bekannt, als ein Bundestagsabgeordneter Anfang 1975 in einer Anfrage an die Bundesregierung um Aufklärung ersuchte, ob es zutreffe, daß Heinemann während seiner Amtszeit Dutschke einen namhaften Betrag für Umzugskosten „aus Mitteln des Bundespräsidialamtes" zur Verfügung gestellte habe. Mehrere Zeitungen meldeten diese Anfrage, u.a. mit der Überschrift: „CDU nimmt Heinemann ins Visier". Das Bundespräsidialamt stellte sofort klar, daß „kein Pfennig aus öffentlichen Mitteln" an Dutschke gezahlt worden sei, doch wurde die Richtigstellung nur von einer einzigen Zeitung, der „Frankfurter Rundschau", gebracht. Diether Koch hat den entsprechenden Brief Heinemanns an den damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Karl Carstens, in seinem heute vorgestellten Buch [Gustav W. Heinemann, Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten. Herausgegeben von Diether Koch in Verbindung mit der Gustav-Heinemann-Initiative, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 1999, S. 170f.] veröffentlicht. Übrigens hat Heinemann nicht nur während seiner fünf Jahre als Bundespräsident diese Rheinstahl-Pension an das Bundespräsidialamt überweisen lassen, sondern auch nach seinem Ausscheiden bis zu seinem Tode, insgesamt immerhin DM 300.000,-.

Am nachhaltigsten wirkte Heinemann als Jurist, und zwar nicht nur als Bundesjustizminister in der Zeit der Großen Koalition. Es war und ist geradezu aufregend, wie sehr sich seine oft zunächst als abwegig bezeichneten Rechtsansichten nach Jahren, ja Jahrzehnten als richtig herausgestellt haben. Auch in diesem Bereich kann ich hier nur wenige Beispiele anführen.

Heinemann war 1950 als Bundesinnenminister aus der Bundesregierung ausgeschieden, weil er das ohne Unterrichtung des Kabinetts erfolgte Angebot des Bundeskanzlers an die Westalliierten, sich mit einem westdeutschen Kontingent von 150.000 Soldaten an der von Churchill angeregten Europa-Armee zu beteiligen, aus mehreren Gründen für verhängnisvoll hielt.

Dazu gehörte auch ein völkerrechtliches Argument, weil das Deutsche Reich sich noch im Kriegszustand mit der Sowjetunion befand.

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Deshalb betonte die von Heinemann und der Vorsitzenden der Zentrumspartei, Helene Wessel, 1951 gegründete „Notgemeinschaft für den Frieden Europas" in einer Petition an den Deutschen Bundestag u.a.: „Wehrpflicht wäre ein staatlicher Zwang zu völkerrechtswidrigem Verhalten". Ich besorgte Heinemann Urteile amerikanischer Gerichte, die Deutsche verurteilt hatten, die nach der bedingungslosen Kapitulation von 1945 auf Seiten Japans weitergekämpft oder als Volkspolizisten versehentlich in den amerikanischen Sektor Berlins geraten waren.

Es gelang uns, den Bundestag für das Thema zu interessieren, „den Völkerrechtsstatus etwaiger deutscher Soldaten eindeutig zu klären, insbesondere, ob sie „den völkerrechtlichen Schutz gegenüber allen Alliierten genießen" (Bundestagsprotokoll, S. 8176 und 8241). Der Bundestagsausschuß für Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten gab dazu im April 1952 eine Stellungnahme ab, in der es hieß, daß die Klärung dieses Status „mindestens gegenüber den Westalliierten" durch Verhandlungen mit diesen erfolgen werde. „Eine darüber hinausgehende Klärung dieses Status gegenüber allen Alliierten kann im Augenblick wohl nicht erwartet werden." (Bundestagsprotokoll, S. 8748)

Es ist das wenig bekannte Verdienst der amerikanischen Regierung, Adenauer in seinem Bestreben, möglichst schnell junge Deutsche in einer Europa-Armee unter Gewehr zu bringen, fünf Jahre gehindert zu haben. Zwar wünschten die Amerikaner eine westdeutsche Beteiligung an der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Der dazu am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichnete Vertrag, der die Verschmelzung der nationalen Streitkräfte von sechs europäischen Staaten mit 43 Divisionen, taktischer Luftwaffe und Marinestreitkräften für die Küstenverteidigung vorsah, scheiterte jedoch am 30. August 1954 in der französischen Nationalversammlung. Daraufhin betrieben vor allem die Amerikaner die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO. Der entsprechende Vertrag wurde zwar am 23. Oktober 1954 in Paris unterschrieben, trat aber erst am 5. Mai 1955 in Kraft. Allerdings haben die USA - nicht zuletzt wegen ihrer völkerrechtlichen Rechtsprechung - darauf geachtet, daß eine west-

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deutsche Aufrüstung erst stattfinde, wenn der Kriegszustand zwischen dem Deutschen Reich und auch der Sowjetunion für beendet erklärt worden sei. Dies geschah erst durch eine offizielle Erklärung des Obersten Sowjets der UdSSR am 25. Januar 1955. Die USA hielten - anders als Adenauer - die Beachtung des Völkerrechts für vorrangig. Dies wurde Heinemann auch bei einem Aufenthalt in den USA klar, als er im Anschluß an die Weltkirchenkonferenz in Evanston/Chicago im August 1954 Gespräche mit leitenden Beamten in der Deutschland-Abteilung des State Departments und mit den Fraktionsvorsitzenden im Senat, dem Demokraten und späteren Präsidenten Lyndon B. Johnson, und dem Republikaner Ralph Flanders führte, der kurz zuvor den erfolgreichen Tadelsantrag gegen McCarthy eingebracht hatte. [Vgl. auch Diether Posser, Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951 - 1968, 2. Aufl. , München 1991, S. 30 ff.]

Die völkerrechtliche Barriere, die die USA fünf Jahre lang dem Aufrüstungswunsch Adenauers entgegenstellten, hatte auch eine sehr erfreuliche Auswirkung für die deutschen Finanzen: Adenauer hatte durch Verhandlungen mit den Bundesländern erreicht, daß der Bund bei der Aufteilung der Umsatzsteuer wegen der geplanten Aufstellung militärischer Verbände einen höheren Anteil erhielt. Das Geld wurde aber fünf Jahre nicht benötigt, so daß ein hoher Milliardenbetrag bei der Bundesbank verzinslich angesammelt wurde, der eine Finanzierung der ab 1956 entstehenden Bundeswehr ohne eine DM Kreditaufnahme möglich machte.

Mit Nachdruck setzte sich Heinemann auch für die Gewährleistung des im Grundgesetz verbürgten Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein. Dabei machten wir öffentlich und auch bei der Beratung uns aufsuchender Mandanten deutlich, daß es sich um eine Gewissensentscheidung handeln müsse und nicht etwa um Zweckmäßigkeitserwägungen oder rein politische Motive.

Von besonderer Bedeutung wurde in diesem Bereich die Behandlung der Zeugen Jehovas, die zwar durchweg als Kriegsdienstverwei-

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gerer anerkannt, aber vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, weil sie sich auch weigerten, den zivilen Ersatzdienst zu leisten. Die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft sehen auch in der Ableistung des zivilen Ersatzdienstes eine Verletzung des für ihre Einstellung typischen Neutralitätsprinzips gegenüber dem Staat, weil dieser den Ersatzdienst organisiert und in ihm eben einen Ersatz für den Wehrdienst erblickt. Wenn auch diese Erklärung für Außenstehende vernunftmäßig nicht nachvollziehbar ist, so hielten wir zumindest die wiederholte Bestrafung der Zeugen Jehovas für unerträglich, ja verfassungswidrig.

Übereifrige Beamte in dem für die Ableistung des Ersatzdienstes zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hatten planmäßig dafür gesorgt, daß den Zeugen Jehovas kurz vor der Entlassung aus dem Gefängnis eine erneute Einberufung zum Ersatzdienst zugestellt wurde, der sie wiederum nicht Folge leisteten. Dies führte zu erneuter Anklage und Verurteilung wegen Dienstflucht, wobei das Strafmaß immer über dem der ersten Verurteilung lag. Kurz vor der vollen Verbüßung der zweiten Strafe wurde dann die dritte Aufforderung zur Ableistung des Ersatzdienstes geschickt. Regelmäßig blieb der Zeuge Jehovas bei seiner Weigerung und wurde wieder vor Gericht gestellt.

In unserer Praxis mehrten sich die Fälle, daß Zeugen Jehovas schon dreimal wegen ihrer Weigerung, den Ersatzdienst zu leisten, verurteilt worden und die vierte Aufforderung ergangen war. Sollten die Zeugen Jehovas jahrzehntelang im Gefängnis gehalten werden? Ein unerträglicher Gedanke! Heinemann formulierte einen Antrag seiner Fraktion im Bundestag, in dem der Verzicht auf die wiederholte Bestrafung gefordert wurde, weil sie das im Grundgesetz fixierte Verbot der Mehrfachbestrafung wegen derselben Tat verletze, also verfassungswidrig sei. Leider lehnte eine knappe Mehrheit des Bundestages den Antrag ab.

Heinemann setzte seine Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht, dem mehrere Verfassungsbeschwerden vorlagen. Zu unserer Überraschung lehnte der aus drei Bundesverfassungsrichtern beste-

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hende Vorprüfungsaussschuß des Ersten Senats am 24. Mai 1966 die Annahme einer entsprechenden Verfassungsbeschwerde ab. Heinemanns Antwort hieß: „Weiterkämpfen". Die immer zahlreicher werdenden Verfahren stellten nicht nur eine Belastung für die Strafrechtspflege dar, sondern führten auch zu einer Gewissensbelastung für die Staatsanwälte und Richter, die die im übrigen tadelsfreie Lebensführung dieser Gewissenstäter stets lobend hervorhoben und die wiederholte Bestrafung überwiegend als ungerechtfertigt empfanden. Auch Gerichte beschlossen Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse an das Bundesverfassungsgericht, weil sie die Mehrfachbestrafung für verfassungswidrig hielten, dies aber nur das Bundesverfassungsgericht feststellen konnte.

Heinemanns Beharrlichkeit hatte schließlich Erfolg. Am 7. März 1968 entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts gegen den Vorprüfungsausschuß des Ersten Senats, daß die Mehrfachbestrafung verfassungswidrig sei, weil dieselbe Tat im Sinne des Grundgesetzes auch vorliege, wenn die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst auf die ein für allemal getroffene und fortwirkende Gewissensentscheidung des Täters zurückgehe. Auch hier zeigte sich das untrügliche Gespür Gustav Heinemanns für die verfassungsgerechte Lösung.

Über Jahre hin erstreckte sich unser Kampf gegen das politische Strafrecht, das 1951 in einer Hoch-Zeit des Kalten Krieges eingeführt worden war und sich weit schlimmer auswirkte als der etwa gleichzeitig wütende McCarthyismus in den USA. Mehr als 125.000 Anklagen wegen sogenannter Staatsgefährdung gegen Kommunisten oder des Kommunismus verdächtigte Personen hatten viel Leid über die Betroffenen gebracht, weil die fast regelmäßig angeordnete Untersuchungshaft auch den Verlust des Arbeitsplatzes und der Werkswohnung nach sich zog. Die KPD wurde schon vor ihrem Verbot als eine kriminelle Organisation angesehen nach einer Strafvorschrift, die im kaiserlichen Deutschland gegen Vereine von Berufsverbrechern eingeführt worden war.

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Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956 die KPD wegen einiger ihrer Programmpunkte als verfassungswidrig erklärt und aufgelöst hatte sowie ihr Vermögen zugunsten der Bundesrepublik Deutschland zu gemeinnützigen Zwecken eingezogen worden war, begann eine verstärkte Strafverfolgung der Kommunisten. Sie wurden sogar nach dem Verbot ihrer Partei für ihr Verhalten vor dem Verbot bestraft. Wir hielten die Strafvorschrift, die das ermöglichte, aus mehreren Gründen für verfassungswidrig. Ich legte mit einem Heidelberger Kollegen eine Verfassungsbeschwerde ein, über die mündlich verhandelt wurde. In der Verhandlung am 31. Januar 1961 plädierte Heinemann. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 21. März 1961, daß die angefochtene Strafvorschrift wegen Verfassungswidrigkeit nichtig sei. Die Kernsätze des Urteils entsprachen der Heinemannschen Argumentationslinie:

„Die Freiheit, eine politische Partei zu gründen, und ihr Recht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, sind verfassungskräftig verbürgt. Daraus folgt die Legalität des Handelns der Parteigründer und der für die Partei tätigen Personen selbst dann, wenn die Partei später für verfassungswidrig erklärt wird. Die Anhänger und Funktionäre einer solchen Partei handeln, wenn sie Ziele ihrer Partei propagieren und fördern, sich an Wahlen beteiligen, im Wahlkampf aktiv werden, Spenden sammeln, im Parteiapparat tätig sind oder gar als Abgeordnete sich um ihren Wahlkreis bemühen, im Rahmen einer verfassungsmäßig verbürgten Toleranz. Die Rechtsordnung kann nicht ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit die zunächst eingeräumte Freiheit, eine Partei zu gründen und für sie im Verfassungsleben zu wirken, nachträglich als rechtswidrig behandeln. Was das Grundgesetz gestattet, kann das Strafgesetz nicht verhindern."

Mit diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war ein wichtiger Durchbruch erreicht. Das oberste Gericht entschied folgerichtig auch, daß die Strafvorschrift gegen Berufsverbrechervereine nicht auf Parteien anzuwenden sei und auch ihre Tageszeitungen und sonstiges Schrifttum nicht als verfassungsfeindliches Schrifttum behandelt werden dürfen.

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Die durch das KPD-Verbotsurteil aufgeworfene Frage, was eine „Ersatzorganisation" der aufgelösten KPD sei, spielte beim politischen Strafsenat des Bundesgerichtshofs und bei den Staatsschutz-Strafkammern eine große Rolle. Der Bundesgerichtshof fand in seinem Urteil vom 18. September 1961 eine fast perfekte Definition: „Eine Ersatzorganisation ist ein Personenzusammenschluß, der an Stelle der aufgelösten Partei deren verfassungsfeindliche Nah-, Teil- oder Endziele ganz oder teilweise, kürzere oder längere Zeit, örtlich oder überörtlich, offen oder verhüllt weiterverfolgt oder weiterverfolgen will".

Aber wie sollte ein Gericht, ohne zu spekulieren, feststellen, ob ein Personenzusammenschluß verfassungsfeindliche Nahziele teilweise, kürzere Zeit, örtlich, verhüllt weiterverfolgen wollte?

Jedenfalls wurden praktisch alle politischen Organisationen in der DDR zu Ersatzorganisationen der im Bundesgebiet verbotenen KPD erklärt, u.a. die Konsumgenossenschaften, der Deutsche Städte- und Gemeindetag und der Deutsche Turn- und Sportbund.

Die Charakterisierung des Deutschen Turn- und Sportbundes als Ersatzorganisation, z.B. in einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. März 1961, gefährdete auch die Durchführung der Olympischen Spiele 1972, die das Internationale Olympische Komitee am 26. April 1966 nach München vergeben hatte, das sich gegen die Mitbewerber Montreal, Madrid und Detroit durchsetzte.

Im Bundestag wurden Stimmen laut, man solle die Teilnahme ostdeutscher Sportler, Trainer und Funktionäre bei den Sommerspielen in München dadurch ermöglichen, daß durch Bundesgesetz die Mitglieder und Funktionäre des Deutschen Turn- und Sportbundes für die Dauer der Spiele von der westdeutschen Gerichtsbarkeit freigestellt würden. Ein „Gesetz über die befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit" war schon einmal im Sommer 1966 beschlossen worden, um den von der DDR-Führung vorgeschlagenen Redneraustausch zu ermöglichen, der aber nicht zustande gekommen war, weil die DDR dieses Gesetz als „Handschellengesetz" denunzierte.

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Bald setzte sich in Bundestag und Bundesrat die Überzeugung durch, daß nur eine gründliche Reform des politischen Strafrechts einen störungsfreien Ablauf der Olympischen Sommerspiele und anderer internationaler Sportbegegnungen mit Beteiligung der DDR garantieren konnte.

Heinemann hatte schon frühzeitig die Initiative ergriffen. Aufgrund von Vorarbeiten einiger sozialdemokratischer Rechtspolitiker reichte die SPD-Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf zur Reform des politischen Strafrechts ein, den Heinemann am 13. Januar 1966 im Bundestag begründete. Selbstverständlich bejahten wir den Schutz des Staates gegen gewaltsamen Umsturz und gegen Geheimnisverrat, lehnten aber strikt die „Vorverlegung" des Staatsschutzes in den Bereich der Grundrechte ab, wie sie sich in jahrelanger Praxis ereignet hatte.

Der Entwurf wurde an den „Sonderausschuß für die Strafrechts-reform" überwiesen. Dessen Vorsitzender war der CDU-Abgeordnete Max Güde, der bis Herbst 1961 als Generalbundesanwalt der oberste Ankläger in Staatsschutzsachen war. Güde, ursprünglich ein Befürworter eines weitgehenden politischen Strafrechts, war im Laufe mehrerer Jahre zum entschiedensten Gegner geworden und hatte auch öffentlich die Fragwürdigkeit dieses Justizbereichs beklagt. In einem langen Interview im „Spiegel" vom 5. August 1961 ließ Güde seine vernichtende Kritik in zwei Feststellungen gipfeln: „Die Bundestagsabgeordneten wissen überhaupt nicht, was sie (1951) beschlossen haben", und noch schärfer: „Die heutige politische Justiz judiziert aus dem gleichen gebrochenen Rückgrat heraus, aus dem das Sondergerichtswesen (Hitlers) zu erklären ist." Es war klar, daß Güde nach dieser Kritik nicht Generalbundesanwalt bleiben konnte. Er, Mitbegründer der badischen CDU, gab freiwillig sein Amt auf und ließ sich in den Bundestag wählen.

Mit der Bildung der Großen Koalition im Dezember 1966 übernahm Gustav Heinemann das Justizressort. Damit waren zwei erfahrene Gegner des seit 1951 geltenden Staatsschutzstrafrechts in den Schlüsselpositionen. Der von Güde geleitete Sonderausschuß leistete

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eine gründliche Arbeit und hörte zahlreiche Sachverständige. Anfang 1968 erzählte mir Heinemann, daß im Bundeskabinett der Durchbruch zugunsten einer umfassenden Reform gelungen sei; auch Franz Josef Strauß (CSU) ziehe mit. Am 29. Mai 1968 beschloß der Bundestag das Änderungsgesetz ohne Enthaltungen gegen zehn Stimmen aus der CSU, die trotz des Einsatzes von Strauß als einzige politische Gruppe nicht geschlossen votierte, weil die ablehnende Haltung von Richard Jäger nicht vollständig zu überwinden war. Der Bundesrat billigte das Reformgesetz einstimmig, so daß es am 1. August 1968 in Kraft treten konnte, also fast 17 Jahre nach Einführung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Zugleich beschloß der Bundestag ohne Gegenstimmen und Enthaltungen eine Amnestie für alle bis zum 1. Juli 1968 begangenen politischen Straftaten; nur Landesverrat war ausgeschlossen.

Gleichzeitig mit der Beschränkung des politischen Strafrechts auf die unstreitig schutzwürdigen Staatsinteressen lief die nun von Strafsanktionen befreite Neuorientierung der Deutschland- und Ostpolitik, die die gewaltfreie Wiedervereinigung des in zwei Staaten lebenden deutschen Volkes durch Selbstbestimmung ermöglichte.

Bei der Einziehung des KPD-Vermögens gingen die Beamten des Bundesministers des Innern rigoros vor. Nach der Feststellung, daß eine Grundstücksgesellschaft GmbH zum Vermögen der KPD gehört habe, wurde sie im Handelsregister gelöscht und die Bundesrepublik als Eigentümer des Grundstücks in das Grundbuch eingetragen. Die GmbH hatte 1952 das Grundstück mit einer Darlehenshypothek über DM 90.000,- belastet. Die Hypothek wurde vom Bundesminister des Innern für erloschen erklärt. Heinemann war empört und erklärte, die gingen in diesem Zusammenhang noch weiter, als es in Vergleichsfällen die Nazis nach 1933 getan hatten. Zu unserer Überraschung entschieden das Landgericht Essen und das Oberlandesgericht Hamm gegen die betreffende Bank. Heinemann ermutigte den Vorstand der Bank, Revision beim Bundesgerichtshof einzulegen. Dessen 5. Zivilsenat hob die Urteile der Vorinstanzen auf. In seinem Urteil vom 24. Januar 1966, das in die amtliche Entscheidungssammlung des Bun-

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desgerichtshofs in Zivilsachen aufgenommen wurde, formulierte das höchste deutsche Zivilgericht zu unserer Genugtuung:

„Mit Recht weist die Revision auch darauf hin, daß selbst der Gesetzgeber des sog. Dritten Reiches trotz der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit in der Durchsetzung seiner Ziele doch in §3 des Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens vom 26. März 1933 immerhin die Grundpfandrechte an eingezogenen Grundstücken bestehen ließ. Es kann auch keine Rede davon sein, daß die mit der Einziehung des Vermögens der aufgelösten KPD verfolgten Zwecke den Untergang der Rechte Dritter an den eingezogenen Gegenständen erforderten. Es liegt auf der Hand, daß es insbesondere für die Verhinderung der Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhalts der aufgelösten KPD belanglos ist, ob derartige Rechte - hier die Hypothek der Bank - fortbestehen oder nicht.

Am 28. Januar 1972 beschlossen der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder den sogenannten Radikalenerlaß, der den Öffentlichen Dienst vor Verfassungsfeinden schützen sollte. Heinemann hielt diesen Beschluß für überflüssig, weil die Beamtengesetze einen ausreichenden Schutz vor Verfassungsfeinden boten und ein Bewerber ohnehin die Gewähr dafür bieten muß, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Aufgrund dieses Beschlusses kam es bei Bewerbungen im Lauf der Zeit in Zehntausenden von Fällen zu Regelanfragen beim Verfassungsschutz. Besonders die Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei, die 1968 gegründet worden war, oder der Besuch von Veranstaltungen, bei denen Kommunisten mitgewirkt hatten, spielten bei der Ablehnung von Bewerbern eine wichtige Rolle.

Auf einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Schleswig entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 22. Mai 1975, daß zu den subjektiven Zulassungsvoraussetzungen zum Öffentlichen Dienst auch das Erfordernis gehört, daß der Bewerber die Gewähr bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintritt. Das ist allerdings nie ernstlich

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bestritten worden. Das Verfassungsgericht erwähnte zwar wörtlich den Radikalenerlaß vom 28. Januar 1972, bewertete ihn aber nicht. Nur aus den abweichenden Meinungen von zwei Mitgliedern des Senats, darunter dem Vorsitzenden Walter Seufert, ergibt sich, daß außer der bloßen Mitgliedschaft in der DKP nichts Nachteiliges gegen den betreffenden Bewerber vorlag. Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei, die vom Bundesverfassungsgericht nicht für verfassungswidrig erklärt worden ist, hielten die beiden Verfassungsrichter nicht für ausreichend, den Bewerber vom Öffentlichen Dienst fernzuhalten. Da aber die Mehrheit des Verfassungsgerichts den Radikalenerlaß nicht beanstandet hatte, wurde er weiter angewandt. Einige Länder hatten allerdings zwischenzeitlich auf die Regelanfrage beim Verfassungsschutz verzichtet.

Heinemann, der sich während seiner Amtszeit als Bundespräsident öffentlich niemals kritisch mit dem Radikalenerlaß befaßt hatte, verfolgte die Entwicklung dennoch aufmerksam. Aufgrund ihm zugegangener Berichte meldete er sich noch einmal zu Wort und schrieb seinen Aufsatz „Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat" in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" zur Wochenzeitung „Das Parlament". Der Aufsatz erschien am 22. Mai 1976, also nur wenige Wochen vor Heinemanns Tod. Darin heißt es:

„Bei der Diskussion um die Auswirkungen der jetzt überschaubaren Praxis des sog. Radikalenerlasses handelt es sich um nichts Geringeres als um die Geltung des Grundgesetzes für unser öffentliches Leben [...] Sicher gehört es zum Schutz unserer Verfassung, ihre Feinde vom Staatsdienst als Beamte fernzuhalten. Aber auch dieses Bemühen muß im Einklang mit der Verfassung stehen. Es muß darauf geachtet werden, daß das Grundgesetz nicht mit Methoden geschützt wird, die seinem Ziel und seinem Geist zuwider sind." Heinemann beklagte „die in Gang gekommene Überprüfung ganzer Jahrgänge von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst", hielt die Abwehr gegen Kommunisten für „übertrieben" und beanstandete, daß „die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung geschürt" werde.

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23 Jahre nach Inkrafttreten des Radikalenerlasses hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg aufgrund der Beschwerde einer wegen des Radikalenerlasses nicht in den Schuldienst übernommenen niedersächsischen Lehrerin 1995 festgestellt, daß die in Deutschland mit dem Radikalenerlaß verbundene Einstellungspraxis mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar ist. Da der Spruch des Gerichtshofes für alle Beteiligten verbindlich ist, hat auch die Regelanfrage beim Verfassungsschutz für alle Bewerber für den Öffentlichen Dienst ihr Ende gefunden. Auch in dieser Frage hatte Heinemann schließlich das richtige rechtliche Gespür gehabt.

Ich konnte hier nur wenige Beispiele aus meiner langen Zusammenarbeit mit meinem Partner und väterlichen Freund als persönliche Erinnerungen berichten. Ich freue mich, daß Diether Koch mit den von ihm sorgfältig ausgesuchten Texten aus Heinemanns Aufsätzen, Reden, Tagebüchern und Briefen einer breiten Öffentlichkeit überzeugend vermittelt hat, wie sehr sich Gustav Heinemann um die freiheitliche Demokratie und den Rechtsstaat verdient gemacht hat.

[Seite der Druckausg.: 20-22:
Überblick über die bisher erschienenen Hefte
der Reihe Gesprächskreis Geschichte]


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