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TITELINFO


Carlo Schmid 1896 - 1979 : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 16. Oktober 1996 / Helmut Schmidt. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 24 S. = 42 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 16). - ISBN 3-86077-573-1
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Carlo Schmid habe ich über ein Vierteljahrhundert gekannt, und ich habe ihn bewundert. Ich bin der Autorin der heute vorzustellenden Biographie, Petra Weber, sehr dankbar, die im Detail seinen Lebensweg nachgezeichnet hat. Es war richtig, daß diese akribische, wissenschaftliche und zugleich doch sehr einfühlsame Arbeit durch die Friedrich-Ebert-Stiftung und durch die Zeit-Stiftung gefördert worden ist. Wir, die Älteren im Saal, die wir dem Menschen und dem Politiker Carlo Schmid verbunden gewesen sind, haben sicherlich denselben Wunsch, den ich aussprechen möchte: Daß dieses Buch zu einer Fundgrube werde, nicht nur für jüngere Historiker oder Politikwissenschaftler, sondern auch für jüngere Politiker.

Carlo Schmid ist mittlerweile eine Art von Legende geworden. Ich nehme an, ihm selber würde das höchstens zur Hälfte gefallen, insbesondere dann, wenn man darüber die Inhalte übersähe oder gar vergäße, für die er Zeit seines Lebens gestanden hat. Für mich ist Carlo Schmid, dem ich zuerst 1953 begegnet bin, sehr schnell eines meiner Vorbilder geworden. Er war ein ideeller Vorreiter für vieles, das heute selbstverständlich erscheinen mag. Er war einer, der trotz vorhersehbarer Nachteile für ihn selbst oft gegen den Strom geschwommen ist und nicht anderen Leuten nach dem Mund geredet hat, der jüngeren Leuten Rat gegeben hat, ohne dafür irgend einen Preis zu verlangen.

Ich möchte mit dem, was ich heute morgen Ihnen zu sagen beabsichtige, dazu beitragen, daß diese Biographie wirklich gelesen werde, denn ohne solche Vorbilder wie den Carlo wären wir alle arm und blieben wir ohne wichtige Orientierung. Ich habe "Carlo" gesagt. Es ist eine der Eigenarten innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, daß manche beliebte Leute nur bei ihrem Vornamen genannt werden. Er hieß nicht Carlo, er hieß "der Carlo", genauso wie Erler "der Fritz" geheißen hat, wie früher Erich Ollenhauer "der Erich" hieß und später

Willy Brandt "der Willy". Herbert Wehner hieß übrigens nicht "der Herbert", er hieß "der Onkel". Ich rede hier also von "dem Carlo".

Carlos Devise, kann man sagen, sei nach der Nazigeschichte gewesen: "Tua res agitur", d.h. für jeden, da vorne wird über deine Sache verhandelt, du sollst dich also einmischen. Nach dieser Devise hat er sich bis zu seinem Tode gerichtet. Nun können ältere Leute, so wie ich, freier reflektieren als jüngere, jüngere müssen noch wiedergewählt werden, ältere brauchen überhaupt nicht mehr gewählt zu werden. Gleichwohl - den Jüngeren paßt das manchmal nicht - halten auch wir Älteren uns mitverantwortlich nach dem Motto: "Tua res agitur". Und in der Beziehung ist der Carlo ein leuchtendes Beispiel gewesen. Ich erinnere mich an das Jahr 1979, da war er 83 Jahre alt. Er saß auf einem Parteitag, einem Bundesparteitag der SPD in Berlin, todkrank, wie wir wußten, aber geistig ganz präsent, inmitten seiner Partei, der er nach den überkommenen Maßstäben der großbürgerlichen Bildung seiner eigenen Jugendzeit eigentlich nicht hätte angehören dürfen, die er aber trotz aller Rückschläge sein ganzes Leben lang als seine Heimat und Familie empfunden hat. Zumindest den Abschnitt im Leben, den ich zu überblicken vermag, hat er diese SPD als seine Heimat und als seine Familie empfunden.

Vorbilder prägen, Vorbilder machen deutlich, wie klein wir selbst eigentlich doch nur sind, sie machen deutlich, was andere gedacht haben, was andere geleistet haben; sie fordern auf zum Nacheifern, und sie machen auch neidisch; auf Carlos Bildung bin ich häufig neidisch gewesen. Nun haben Vorbilder ihrerseits auch Vorbilder. So hat der Carlo über Wilhelm Kaisen, über Herbert Weichmann, über Paul Löbe, über Jakob Kaiser, über Fritz Erler und über Thomas Dehler, alle zusammenfassend, in einem Satz gesagt: "Von ihnen war keiner in die Politik gegangen, weil ihn die Chance reizte, Macht zu gewinnen und Karriere machen zu wollen. Sie kamen, weil sie darunter litten, daß die Welt, in der ihresgleichen lebte, mangelhafter eingerichtet war, als es in Anbetracht der Möglichkeiten, es besser zu machen, der Fall sein könnte. Wenn nur die Menschen mehr guten Willen, mehr Verstand, mehr mitmenschliches Fühlen walten ließen. Sie gingen in die Politik, um Wandel zu schaffen, auf daß Idee und Wirklichkeit des Menschen sich decken können." Und das, was er hier über Menschen, die er als vorbildhaft empfunden hat, gesagt hat, das hat er auch selbst gelebt.

Man hat den Carlo nie zu mahnen brauchen, seine Begabungen als Bringschuld dem Gemeinwohl zur Verfügung zu stellen. Das hat er vielmehr bis zur körperlichen Erschöpfung getan, auch weil sein eigenes Engagement für ihn eine Bringfreude gewesen ist; es hat ihm auch Spaß gemacht. Seinen Eintritt in die Politik, das war offiziell nach Kriegsende, hat er moralisch begründet mit folgenden Worten: "Ich war entschlossen, mich dem zu stellen, was mit der Zerschlagung Deutschlands auf unser Volk und auf jeden von uns zukommen mußte. Wer hat Schuld, daß die Macht in die Hände von Unmenschen kommen konnte? Wer trägt Schuld, daß dieses Volk sich täuschen, sich überrumpeln ließ? Meine Antwort hieß: Ich und meinesgleichen sind schuld, weil wir uns zu gut waren. Wenn du nicht wieder schuldig werden willst, so sagte ich, wirst du dein Leben ändern müssen. Ich werde also in die Politik gehen."

In die Politik gehen hieß für ihn damals in die SPD, und die SPD war nach Kriegsende durchaus nicht ohne Mißtrauen gegen das Bürgertum, sie war ganz gewiß kein Paradies für Intellektuelle. Carlo hat später einmal über seine Partei gesagt, sie sei "eine brave alte Madka, die mich auch noch aushalten wird". Und über die Arbeit im Parlament hat er gemeint, Opposition sei der andere Beweger in der Politik. Er hat einiges selbst auch bewegt und war bis zuletzt oft in der undankbaren Rolle des Vorreiters. Er hat als seine Pflicht erkannt - und das gilt insbesondere für die Phase vor Godesberg, vor 1959 -, die Sozialdemokratie zu öffnen gegenüber den Kirchen, insbesondere gegenüber der katholischen Kirche, zu öffnen gegenüber den Intellektuellen, zu öffnen gegenüber allen Bereichen der Kultur, Mißtrauen abzubauen, seine Partei in einen Dialog zu führen mit der Wirtschaft, mit der Wissenschaft. Er hat es als seine Aufgabe angesehen, dem Prinzip der Aussöhnung den Weg zu ebnen, auch gegenüber Osteuropa, die SPD zu sensibilisieren gegenüber den östlichen Nachbarn, und sie zu gewinnen für das Europa nach den Vorstellungen eines Jean Monet oder eines Robert Schuman oder, um es mit seinem Wort zusammenzufassen, sie dafür zu gewinnen, den "toten Ballast" abzuwerfen, der herübergeschleppt war aus der Weimarer Zeit und zum Teil sogar aus der Zeit vor 1914. Auf diesen Feldern ist ihm eine ganze Menge gelungen, eigentlich nicht so sehr durch das, was er geschrieben hat, sondern, wenn ich ein heute gängiges Wort benutzen darf, durch seine Fähigkeit als Kommunikator, früher hätte man gesagt - und er hätte gesagt - als Rhetor, als jemand, der unmittelbare Wirkung auf Menschen ausstrahlte.

Man kann nicht sagen, daß der Carlo eine große politische Autorität gewesen sei, sondern er war eine Autorität aufgrund seines Geistes, aufgrund seiner Bildung und dadurch, daß er menschliche Beziehungen, Kontakte hatte zu vielen anderen Menschen des geistigen, des öffentlichen Lebens insgesamt. Seine geistige Autorität hat ausgestrahlt auf die Politik, nicht umgekehrt. Und die in seiner Person begründete Autorität, die in seinen jungen Jahren, als er Universitätslehrer gewesen ist, auf jüngere Menschen prägend gewirkt hat, hinterließ später tiefen Eindruck bei allen, die politisch mit ihm zu tun gehabt haben. Seine Autorität ist nicht leicht meßbar an Ergebnissen, aber sie hat auch bei allen Kontroversen Menschen beeindruckt wie Adenauer oder Ben Gurion oder Nell-Breuning oder auch die damaligen Herren im Kreml, Chruschtschow und Genossen. Seine Autorität hat ihn zu einer Instanz gemacht.

Ich selbst habe mich, wenn der Carlo im Plenum des Parlaments sprach oder in der Fraktion, häufig sehr klein und sehr unbedeutend gefühlt - ich war ein ganz junger Mann, als ich ihn kennenlernte, noch keine 40 Jahre alt -, ob der Weite seines Horizonts und im Angesicht seines literarischen Wissens, seines kulturhistorischen Überblicks, auch seiner juristischen Kenntnisse, die das Staatsrecht und das Völkerrecht gleicherweise umfaßt haben.

Manche haben über ihn geredet oder auch in den Zeitungen geschrieben, die ihn als Amalgam oder als Symbiose von Geist und Macht verstanden haben. Er war aber, und, wenn man in diesem Buch liest, findet man das bestätigt, weit mehr ein Mann des Geistes als ein Mann der Macht. Er sei zwar ein Mann der Politik, aber er hat kurz vor dem Ende seines Lebens über sich selbst gesagt, "eigentlich hat es mir dazu an der nötigen Härte gefehlt. Ich bin kein Mann der Macht, ich bin nur ein Machtkenner." Auch das Wort über die fehlende Härte ist genau richtig.

Gleichwohl, Carlo hat in den Anfangsjahren unseres Staates eine bedeutende politische Rolle mit ganz erheblichem Einfluß und ganz erheblichen Wirkungen gespielt, und zwar als Vorsitzender des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz gemacht hat. Der Carlo war wirklich einer der später häufig apostrophierten "Väter des Grundgesetzes". Von ihm zum Beispiel stammt die alte Formulierung in der Präambel: "Die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden und in einem geeinten Europa dem Frieden zu dienen." Nach meiner Einschätzung war die Rolle im Parlamentarischen Rat die wichtigste, die Carlo gespielt hat.

Er ist dann 1949 Vizepräsident des ersten Bundestages geworden, er war damals 53 Jahre alt, Professor für öffentliches Recht, für Völkerrecht auch, er war schon Ministerpräsident des damaligen kleinen Landes Württemberg-Hohenzollern, er war kommissarischer Justizminister dort gewesen. In Bonn war er immer wieder ein Befürworter einer großen Koalition, nicht sehr laut, aber doch hörbar. Deswegen wurde er bisweilen für das Palais Schaumburg als möglicher Bundeskanzler oder auch für die Villa Hammerschmidt als möglicher Bundespräsident gehandelt. Tatsächlich hat er dann 1959 für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert und ist im zweiten Wahlgang Heinrich Lübke unterlegen gewesen. Das weiß heute auch kaum einer mehr. Es ist immer mißlich zu philosophieren über die Frage, was wäre gewesen wenn, aber das, glaube ich, kann man sagen: Wenn man die beiden Kontrahenten des damaligen Wahlgangs sich noch einmal in Erinnerung ruft, Heinrich Lübke und Carlo Schmid, dann darf man sagen, der Carlo hätte dieses Amt mit Überlegenheit, mit Weisheit und mit Witz ausgefüllt.

In den unmittelbar davorliegenden Jahren hat er eine wichtige Faktorrolle bei den innerparteilichen Debatten der Sozialdemokratie über das neue Grundsatzprogramm gespielt, das wir uns vorgenommen hatten, später das Godesberger Programm genannt. Es wird, wenn einmal die Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert geschrieben werden wird, ein bedeutendes Dokument bleiben. Er hat sehr dazu beigetragen, daß diese Partei sich öffnete, eine Volkspartei wurde, die sich mit dem liberalen Bürgertum versöhnen wollte, die nicht länger das Ziel der Verstaatlichung von allen möglichen Unternehmungen verfolgte, sondern das Ziel der Vermenschlichung von Staat und Gesellschaft.

Wenn ich es richtig erinnere, und ich war damals einer der ganz jungen Beteiligten, ein Berichterstatter auf dem Godesberger Programmparteitag neben vielen anderen, gewichtigeren Berichterstattern, stammt kaum eine Zeile in dem Godesberger Programm aus seiner Feder. Aber insgesamt, ideell gesehen, darf man sagen, daß das, was hier in der Stadthalle von Godesberg 1959 verabschiedet worden ist, auf vielen Feldern gegründet hat auf Carlo Schmids Gedanken. Natürlich spielten auch andere dabei eine wichtige Rolle, ich denke an Willi Eichler, ich denke an Adolf Arndt, an Heinrich Deist, auch an Karl Schiller. Carlos Anliegen war die breite Öffnung.

Übrigens ist es ganz erstaunlich, er hat seine breite Tätigkeit betrieben als Mitglied des Parlaments und Parteivorstands. Er vertrat für die SPD den Wahlkreis Mannheim. Das war nun in der Tat in ganz Süddeutschland der proletarischste Wahlkreis, den man eigentlich hätte finden können. Er war nicht der Typ des Arbeiterführers, ganz gewiß nicht. Aber die Kerle da in Mannheim mochten den Mann, haben ihn immer wieder gewählt, und noch das letzte Mal mit einer sehr schönen absoluten Mehrheit von 55 Prozent. Er hat nie viel Zeit gehabt, um seinen Wahlkreis zu pflegen, gleichwohl haben sie immer wieder für ihn gestimmt, auch diejenigen, die eigentlich der SPD nicht so furchtbar nahe standen. Er war eben eine überzeugende Autorität.

Übrigens war er außerdem auch einer der außenpolitischen Sprecher der Fraktion. Am Anfang war die überragende außenpolitische Sprecherfigur Kurt Schumacher gewesen. Und vor dem Aufstieg Fritz Erlers war Carlo in der Zwischenzeit der maßgebende außenpolitische Sprecher. Er hat sich nicht nur mit der Regierung gerieben, sondern auch bei den notwendigen neuen Weichenstellungen und bei den notwendigen unkonventionellen Öffnungen und Ansätzen mit der eigenen Partei, z.B. wenn er im Verhältnis zu Polen die Respektierung der bestehenden Grenzen verlangt hat. Es war damals "politically incorrect", so etwas zu sagen. Oder z.B., wenn er dafür geworben hat, mehr Augenmerk auf Israel zu richten, mehr Aufmerksamkeit zu verwenden auf Amerika, auf die USA.

Als ich 1953 in den Bundestag kam, ist mir der Carlo als das moralische Gewissen erschienen, das über unsere Politik wachte. Er hat damals nicht sehr oft gesprochen, aber wenn, dann hat es mich als sehr fundiert beeindruckt. Bisweilen wurden lässige Bonmots. untergemischt, aber der Gedankenkern war ernst, und manche der Jüngeren, so auch ich, waren von diesem Mann tief beeindruckt. Für uns war er die Inkarnation eines Europäers. In seiner Person verkörperte er das Europa, von dem wir eigentlich nur träumen konnten. Dazu spielten seine Sprachkenntnisse eine große Rolle, sein Werben für Aufklärung, für Humanismus, für Menschenrechte. Wie kaum ein anderer im damaligen Parlament - ich nehme an, das hat sich seit 1953 bis heute, 1996, nicht geändert -, wie kaum ein anderer kannte er sich aus in dem ganzen großen, bunten Mosaik der europäischen Literatur und der europäischen Kunst. Deshalb war es für den Carlo selbstverständlich, Europa nicht als die Summe aller Regierungen oder gar aller Bürokratien zu verstehen. Wenn ich mir vorstelle, er lebte heute, läse die Zeitungen und würde gebeten um ein Interview, dann würden wir bittere Bemerkungen hören über die Brüsseler Verordnungswut bis hin zu den Beschlüssen über die Qualität von Bananen und Salatgurken. Er hätte ganz andere Säulen errichtet, er hätte sich mehr Parlament, mehr Kontrolle gewünscht, er hätte sich Europa gewünscht als die neue Gestaltung einer alten Idee.

Posthum kann man von Carlo beinahe sagen, daß er als ein Mann mit einem Heiligenschein um den Kopf erscheint. Runde Geburtstage, ein 100. Geburtstag zumal, wirbeln natürlicherweise immer ein bißchen Weihrauch auf. Aber dieses Buch, über das wir hier heute sprechen, legt andererseits auf 900 oder mehr Seiten auch dar, wie schwierig - privat und öffentlich - der Lebensweg dieses Mannes gewesen ist; es zeigt ein Leben voller Brüche, voller Täuschungen, voller Enttäuschungen, mehr Enttäuschungen, als man vielleicht denken möchte, und voller Niederlagen. Es war das Ergebnis dieses enttäuschungsreichen Weges, zugleich das Ergebnis von viel Arbeit, viel Lesen und von schwierigen Erkenntnisprozessen, wenn wir in seinen späteren Jahren die Leichtigkeit miterlebt haben, mit der er über das Leben und über die Menschen und über die kulturelle Evolution gesprochen hat. Diese Leichtigkeit war auch das Ergebnis der Rückschläge, der Zurückweisungen und bisweilen seiner schwermütigen Reflexion, wie sie nun einmal zu einem reichen Leben gehören. Ich fühle mich nicht ganz sicher, wenn ich darüber nachdenke, wie sich Carlo wohl gegenwärtig äußern oder wie er denken würde über die Benediktionen, die anläßlich seines 100. Geburtstages und anläßlich dieses Buches zu lesen oder heute morgen hier zu hören sind. Vielleicht hätte er sie zurückgewiesen mit Augenzwinkern, vielleicht mit Amüsement, vielleicht mit ein wenig Sarkasmus untermischt, vielleicht hätte er einen Spottvers darüber formuliert. Andererseits hätte er sich durchaus auch gefreut, daran zweifele ich nicht. Am Ende seiner Tage gesundheitlich sehr beeinträchtigt, aufgerieben auch durch körperliche Anstrengungen, abgewählt, ins Abseits gestellt, hat er gelitten unter der Erkenntnis, nicht mehr gebraucht zu werden.

Zu der einzigartigen Lichtseite dieser Gestalt gehört, daß er neben seiner Emsigkeit als Politiker und allen möglichen Funktionen außerdem ein begabter, ein tüchtiger Schriftsteller war, der persönlich das Staunen nicht verloren hat, ein unabhängiger Denker in dem, was er geschrieben hat, unabhängig auch von seiner Partei, die ihn von Fall zu Fall geschmückt hat und geschmäht. Ihn hat nicht geschert, was die Partei beim letzten Mal oder beim vorletzten Mal beschlossen haben mochte. Heute nennt man so etwas eine Beschlußlage. Darüber hätte Carlo nur einen Spottvers gedichtet. Diese Beschlußlage war für ihn keine Richtschnur, und bindend war sie für ihn schon überhaupt nicht. Er hat auch zu Unzeiten, taktischen Unzeiten, sein Mißbehagen über die jeweilige Beschlußlage deutlich zum Ausdruck gebracht. Übrigens hat er ungerne lange Papiere gelesen, er hat auch Akten nicht gerne gelesen, sondern lieber gute Bücher. Und wenn etwas für ihn in die Mottenkiste gehörte, dann hat er das auch laut genug gesagt.

Er war übrigens ein Anhänger der Bildung von Eliten, auch dies natürlich beinahe Sakrileg in den Ohren mancher Sozialdemokraten. Die Schule war für ihn ein Ort, an dem "Lernen schwer sein mußte". Er wollte, daß gelernt werde. Und übrigens hat er einigen linken Professoren der damaligen Universitäten Ende der 60er und in den 70er Jahren ihre Willfährigkeit gegenüber der damaligen außerparlamentarischen Opposition um die Ohren geschlagen. Er hat mehrfach der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß die Autorität des Staates verfallen könnte. "Politik hat einen großen Feind", hat er gesagt, "die Befriedigung von Gemütsbedürfnissen".

Bei alledem hat eigentlich niemand in seiner Partei einen Zweifel gehabt über seine feste innere, von ihm gewollte Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie. Und viele Sozialdemokraten haben sich immer wieder darüber gefreut, wenn der Carlo ihrem eigenen moralischen Empfinden, ihrem eigenen philosophischen Empfinden einen Ausdruck gab und eine Tiefe, die sie selbst so nicht hätten formulieren können. Der Carlo hat insbesondere in den 50er Jahren, als der Parlamentarismus in Gang kam in Deutschland, vielen von uns Jüngeren - da schließe ich meinen lange verstorbenen Freund Fritz Erler, der fünf Jahre älter war als ich, mit ein - eine Selbstbestätigung gegeben, die wir von unserem damaligen Fraktionsvorsitzenden nicht haben empfangen können.

Für mich hat es wohl ein oder zwei Jahre gedauert, bis ich zum erstenmal den Mut faßte, den großen Mann überhaupt anzusprechen. Es kann auch umgekehrt gewesen sein, daß er mich in ein Gespräch gezogen hat. Immerhin betrug der Altersunterschied beinahe ein Vierteljahrhundert. Später, als ich dem Fraktionsvorstand angehört habe, habe ich den Carlo des öfteren etwas gefragt. Er war immer freundlich in der Antwort, manchmal etwas weitschweifig. Besonders ist mir eine Begegnung in Erinnerung: Aus irgendeinem Grunde war der Carlo in Hamburg, wo ich wohnte. Irgend jemand klingelte an der Tür, und da stand der Carlo vor der Tür, unangemeldet, vielleicht hatte er ein bißchen Zeit zwischen zwei Terminen, vielleicht brauchte er ein bißchen menschliche Nähe oder Mitteilung. Jedenfalls Loki, meine Frau, und ich hatten am Abend vorher im Theater Shakespeares "Sturm" gesehen, hatten ihn überhaupt nicht verstanden, waren auch unvorbereitet ins Theater gegangen. Nun war der Carlo da, und wir fragten ihn. Aus dem Ärmel schüttelte er den ganzen Shakespeare und erklärte uns den Prospero und den Ariel und den Caliban, und wir saßen da und haben nur zugehört und gestaunt und nachträglich begriffen, was wir am Vorabend auf der Bühne gesehen hatten.

Später, sehr viel später habe ich vielfach den Carlo um Rat gefragt, jetzt allerdings nicht zu literarischen Inhalten und nicht zu Shakespeare, sondern zu politischen Fragen. Carlo war schon seit langen Jahren Koordinator für die Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Franzosen, er war dafür prädestiniert, wie hier jeder weiß, er war von einer französischen Mutter auf Französischem Boden geboren, bis zu seinem 12. Lebensjahr dort in Frankreich aufgewachsen. Und so hat er nicht etwa koordiniert, sondern er hat Einblicke vermittelt. Er kannte Frankreich besser als irgend jemand sonst in Deutschland, als irgend jemand jedenfalls von uns im Parlament. Er wußte ganz genau Bescheid über die Tragik des Verhältnisses zwischen Franzosen und Deutschen, aber er hatte auch ein Gespür für die schöpferischen Möglichkeiten in der Entwicklung, in der Entfaltung der Politik zwischen Deutschen und Franzosen. Wenn man so will, kann man sagen, er war ein Grenzgänger in persona et in spiritu. Er kannte natürlich die französische Literatur, er kannte die französische Philosophie, er hatte den Baudelaire ins Deutsche übersetzt, den Malraux, er hatte den De Gaulle ins Deutsche übersetzt und übrigens nebenher auch noch den Spanier Calderon und die Italiener Machiavelli und Dante. Unglaublich, daß ein Politiker das nebenher machte. Stellen Sie sich die heutigen Politiker vor - hier sitzen einige - wie sie nebenher Calderon übersetzen.

Seine Ratschläge an mich betrafen natürlich vornehmlich die Zusammenarbeit mit Frankreich. Er hat einmal gesagt, die Enge unserer Beziehungen zu Frankreich, die sich mehr und mehr institutionalisieren, übersteigt alles bisher unter Staaten Übliche. Das war damals richtig, es ist heute noch richtiger als damals, Gott sei Dank. Ich habe ihn mehrfach, wenn ich große Reden halten mußte, vorher um Rat gefragt, z.B. als ich einmal in der Kölner Synagoge 40 Jahre nach dem Pogrom vom 9. November 1938 zu reden hatte, oder einmal, als ich eine Parteitagerede vorbereitet habe, oder auch manchmal, wenn ich nur ein Zitat brauchte; Carlo konnte die Zitate aus dem Ärmel schütteln. Einmal hatte De Gaulle gesagt: "Auch Sartre ist Frankreich". Eine ganze Menge für diesen konservativen General. Und der Carlo hat sich in einer seiner letzten großen Reden im Parlament an General De Gaulle angelehnt und hat gesagt: "Auch Marx ist Deutschland". Ich habe das mit Fleiß viele Male anschließend zitiert. Ich sprach vorhin von dem Berliner Parteitag im Jahre 1979. Da gibt es ein Schriftstück von Carlo Schmid an mich, einen Ratschlag für eine Rede, die ich selbst dort zu halten hatte, und da stehen zur Nation die folgenden Sätze: "Nation, begreift man dieses Wort nur im Sinne der Nachwirkung des Glanzes spektakulärer Ereignisse in der Vergangenheit, so wird es uns nicht viel bringen, anders wenn wir die Nation als ein täglich in unmerklichen Zeichen sich bestätigenden Entschluß eines Volks begreifen, aus gemeinsamer Liebe zu hohen Menschlichkeitswerten eine Gemeinschaft zu bilden, die es ihm erlaubt, diese Werte auf dem ihm von der Geschichte gewiesenen Boden zu verwirklichen". Da ist in einen langen Bandwurmsatz eine ganze Menge hineingepackt. Ich habe ihn sicherlich so nicht verwendet in meiner Rede. Es ist mehr eine Schreibe als eine Rede, aber allein die letzten zwei Zeilen (diese Werte zu verwirklichen, auf dem ihm von der Geschichte zugewiesenen Boden) haben manche noch 1989 nicht recht akzeptieren wollen: Daß wir uns zurechtzufinden haben auf dem uns von der Geschichte des 20. Jahrhunderts zugewiesenen Boden und nicht außerhalb.

Der Carlo war ein Humanist, er war auch, ich habe einige Beispiele genannt, ein Literat, er war auch ein Lyriker übrigens, aber politisch war er doch ein Realist. Wenige Wochen vor seinem Tode, also in den späten 70er Jahren, hat er gar nicht altersmüde und überhaupt nicht melancholisch gesagt: "Es ist die Feigheit des Staates, der häufig nicht den Mut aufbringt, um der Würde des Menschen willen, ihm, dem Menschen, auch ein bestimmtes Verhalten abzufordern." Die Feigheit des Staates, der seinen Bürgern ein bestimmtes Verhalten nicht abfordert, um der Würde des Menschen willen! Das war damals in einer spezifischen Situation gesagt. Wir hatten es zu tun mit dem Terrorismus, aber es gilt heute, und es wird auch für die kommende Generation und für die darauf folgende Generation gelten müssen. Damals gab es junge Idealisten, phantastische Ideologen, aber auch Gesindel, die alle möglichen gewalttätigen Ausschreitungen verübten. Der Carlo hat mir damals einen Brief geschrieben, aus dem ich einen Satz zitiere: "Ich brauche Dir nicht zu sagen, wie sehr ich bei dem bitteren Geschäft des Regierens mit meinen Gedanken bei Dir bin." Das bezog sich auf den Kampf gegen den Terrorismus.

Übrigens hat der Humanist Carlo Schmid schon vor einem Vierteljahrhundert die Gefahren gesehen, die wir heute als glotzende Gesellschaft aus den Videos und aus dem Fernsehen in uns hineinsaugen. Carlo, der heute in jeder Talk-Show durch seine Persönlichkeit, auch durch seine äußere Erscheinung, anderen die Schau stehlen würde, hat bereits vor der Erfindung dieser Quasselbuden, genannt Talk-Show, gesagt: "Die Praxis, über Fernsehen und Rundfunk vor das Volk zu treten, vermag nicht politisches Handeln zu provozieren, vermag nur Stimmungen zu erzeugen. Stimmungen aber sind das Schrecklichste in der Politik. Sie haben mehr Unglück gebracht als falsche Gedanken dies getan haben."

Nun habe ich viel Lobendes über ihn gesagt, aber ich möchte nicht unterlassen zu sagen, daß er im Gespräch keineswegs ein moralinsaurer Mahner gewesen ist, sondern daß er Epikurs Lehre vom klugen Lebensgenuß durchaus zugeneigt gewesen ist. Und als Bonvivant, als charmanter Plauderer, der er auch war, ist er Gegenstand einer Fülle von Anekdoten gewesen. Um ein Beispiel zu geben: Willy Brandt hat einmal wortreich - neben ihm saß der Carlo, barocke Figur, Löwenmähne - vor der Auslandspresse referiert über die Geschichte der Sozialdemokratie in Deutschland, über Elend und Ausbeutung der Arbeiterklasse, und Flora Lewis, die eben nicht nur eine spitze Feder hat, hat dann den Willy unterbrochen, mit der Zigarette in der Hand auf den Carlo gezeigt und gesagt: "And how does this guy fit into your picture?"

Wir haben die Weisheit und die Güte des alten Mannes wohlgetan. Es hat mir auch wohlgetan, wenn ich ihn habe reden hören von den Tugenden, so von der Tugend der Tapferkeit, die es gebiete, trotz allem doch immer das Notwendige zu tun. Und wenn ich ihn habe reden hören von der Tugend der Freundschaft. Als Carlo 1979 gestorben war, habe ich einen Kondolenzbrief von John McCloy bekommen, der für mich eine andere Art von Autorität gewesen ist und den ich, als ich Regierungschef war, auch ein- oder zweimal um Rat gefragt habe, er war längst ein Privatmann in New York-City. McCloy schrieb anläßlich des Todes von Carlo über seine "warm admiration for one of the founding fathers and my deep appreciation of these significant contributions he made to the welfare of this fellow citizens", die bedeutenden Beiträge, die Carlo gemacht habe zur Wohlfahrt seiner deutschen Mitbürger.

Übrigens, ein Ereignis muß ich nachtragen, es liegt 40 Jahre zurück. Es gab 1956 in München im Deutschen Museum einen großen Parteitag der SPD mit zwei herausragenden Starrednern, der eine war Leo Brandt, auch schon lange nicht mehr unter uns, der andere war Carlo Schmid, und beide Vorträge galten dem Thema der zweiten industriellen Revolution. Es ging um Computer, um Automatisierung der Produktion und um Kernkraftwerke. Carlo hielt alle diese sich damals erst am Horizont abzeichnenden, ahnbaren technischen Entwicklungen erstens für zwangsläufig und zweitens für Deutschland für dringend notwendig. Es war ein umfassender Vortrag, den er gehalten hat, in dem er die mit den neuen Techniken - heute sagt man Technologien, es ist aber dasselbe - verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen, wirtschaftlichen Veränderungen, geistigen Veränderungen, vorhersah. Er hat dazu dann eine Reihe von Vorschlägen gemacht, eine z.B. an die Adresse von Ernst Breit, der hier vorne sitzt, von der Gewerkschaft. Allerdings, Du warst damals noch nicht DGB-Vorsitzender, Ernst, Du warst damals ein junger Mann im DGB. Carlo sah nämlich voraus, daß das, was wir damals die zweite industrielle Revolution nannten, jetzt sind wir in der dritten, mit dem Übergang zur fälschlich so genannten Kommunikationsgesellschaft, daß diese neuen Produktionsmethoden zu sehr viel mehr Freizeit für die arbeitenden Menschen führen konnten. Das war 1956, damals war die 48-Stunden-Woche selbstverständlich, der 8-Stunden-Tag. Ich kann mich erinnern, die Jüngeren hier werden staunen, als ich ins Berufsleben eintrat, 1949, habe ich 54 Stunden gearbeitet, und das war damals auch ganz in Ordnung. Heute sind wir bald bei 34.

Der Carlo hat diese Entwicklung vorhergesehen, und er hat sich gesorgt, daß dieser viel größere Freizeitraum für den einzelnen arbeitenden Menschen zu seelischer und geistiger Verödung führen könne. Er hat auf diesem Hintergrund plädiert für die Ausweitung der geistigen Bildung, der moralischen Bildung, der ästhetischen Bildung, der intellektuellen Bildung. Für mich war damals, und das galt wohl für fast alle der Anwesenden, dieser Vortrag, heute vor 40 Jahren, ein großartiges Beispiel für umfassenden Weitblick, Überblick, ein Paradebeispiel auch für Carlos einzigartige Fähigkeit zur Symbiose von Politik mit Geist. Am Schluß, sagt das Protokoll, ich habe das vor einiger Zeit noch mal aufgeschlagen, lang anhaltender, begeisterter Beifall. Stellen Sie sich mal die heutige Sozialdemokratie vor, wo einer über die Notwendigkeit von Kernkraftwerken spricht, langanhaltender, begeisterter Beifall. Die Entschließung, die der Carlo und der Leo Brandt begründet hatten, fand am Ende der Diskussion eine einmütige, nahezu einstimmige Annahme. Sie schloß den Atomplan der Sozialdemokraten ein, nicht nur wissenschaftlich-technische Entwicklung im allgemeinen, nicht nur die Forderungen in Richtung auf Bildung, Wissenschaft, Forderungen in Richtung der Wirtschaft und der Sozialordnung, die Carlo begründet hatte, sondern auch einen Atomplan. Der begründete übrigens die Notwendigkeit von Elektrizitätsgewinnung aus Kernkraftwerken und wies nota bene ausdrücklich hin auch auf Gefährdungen, die damit verbunden sein könnten, und erläuterte in großer Sorgfalt, wie solchen Gefährdungen zu begegnen sei. Aber nicht etwa mit der Schlußfolgerung, deswegen das Ganze zu lassen und auch für Windräder zu plädieren und dann fünf Jahre später wieder die Windräder zu regulieren, was wir heute erleben. Der ganze Parteitag der damaligen Sozialdemokratie, personifiziert in diesen beiden Hauptrednern, niedergelegt in seinen Beschlüssen, spiegelte einen Geist der Zuversicht, des Vertrauens in den technischen Fortschritt und seine Nutzbarkeit zum kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritt, des Vertrauens in die Fähigkeiten des Menschen, wie er solches Vertrauen seither weder in der SPD noch sonstwo in Deutschland jemals wieder begegnet ist.

Heute sind die Deutschen die Europameister der Angst und des Angstmachens. Alles, was neu ist, muß ja schlecht sein, muß ja abgelehnt werden. Wer diese über 900 Seiten der Biographie nicht ganz lesen will, soll wenigstens die Rede von Carlo lesen aus dem Münchner Parteitag von 1956 und sich fragen, ob die Schwarzmalerei von heute, diese Sucht, vor allem und jedem Angst zu haben, wirklich eine Haltung ist, mit der wir das neue Jahrhundert betreten dürfen. Wir haben heute in Deutschland offiziell vier Millionen Arbeitslose, in Wirklichkeit zwischen fünf und sechs, und die Arbeitslosigkeit steigt auch nächstes Jahr, und wie es aussieht, fürchte ich, auch noch übernächstes Jahr, wenn alles so bleibt, wie es heute angeordnet und geordnet ist. Wenn man ein bißchen weiter in die Zukunft schaut, in das Jahr 2016, heute in 20 Jahren, dann wird kein in Wolfsburg gebautes Auto in die Welt mehr exportiert werden können, einfach deswegen, weil andere Leute die Autos mit derselben Qualität bauen, aber billiger, als wir das können. Und das erleben wir nicht nur bei Autos, das haben wir erlebt bei der Textilindustrie, bei der Lederindustrie, das kommt bei der Automobilindustrie im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte. Es wird kommen, daß wir heute in 30 Jahren Propellerflugzeuge nicht in Europa bauen, sondern wir werden sie aus Indonesien importieren, vielleicht in 35 Jahren sogar große Passagierdüsenjets aus China. Diese Völker sind alle ganz gewaltig im Vormarsch, mit unglaublichem Optimismus und mit unglaublichem Fleiß, mit einem erstaunlichen Maß von persönlicher Bescheidenheit verbunden. Und wenn wir uns nicht befähigen, dann in 15 oder 20 oder 25 Jahren, mit Erzeugnissen auftreten zu können, die die anderen noch nicht produzieren können, dann werden wir bei 6 Millionen Arbeitslosen nicht stehen bleiben, aber dann wird inzwischen diese Demokratie wegen der Arbeitslosigkeit eine andere geworden sein.

Deswegen liegt mir so am Herzen der Hinweis auf jene Rede von Carlo Schmid und die von Leo Brandt aus dem Jahre 1956. Damals gab es Leute in Deutschland, Sozialdemokraten, die darauf hingewiesen haben, die verlangt haben, daß wir uns für neue Techniken öffnen, und die gleichzeitig gesagt haben: Was bedeutet es psychisch, was bedeutet es geistig, was bedeutet es gesellschaftlich, was bedeutet es für unsere wirtschaftliche, für unsere politische Verfassung? Die Sozialdemokratie von heute würde ein ganz großes Verdienst sich erwerben, wenn sie Vorreiter und Wortführer würde der Erneuerung in Deutschland. Das ist der Carlo gewesen, ein Wortführer der Erneuerung.

Als ich die Nachricht erhielt von Carlos Tode, das ist nun schon eineinhalb Jahrzehnte her, habe ich das Gefühl eines entsetzlichen Verlustes gehabt. Und als ich Petra Webers Buch in die Hand bekam und darin gelesen habe, habe ich es beinahe noch einmal so empfunden wie damals. Es hat auch dunkle Stationen gegeben im Leben dieses Mannes, Schattenseiten. Eine seiner Lieblingsmetaphern ist aber gewesen, daß man sich von den schwarzen Sonnen der Melancholie nicht verbrennen lassen dürfe. Vor ein paar Tagen, als dieses Buch auf den Markt gekommen ist, hat Kurt Sontheimer in der Süddeutschen Zeitung in einer ausführlichen, verdienstvollen Besprechung des Buches von Frau Weber den Willy Brandt zitiert mit den Worten aus seiner Trauerrede im Jahre 1979, wo er den Carlo Schmid einen "heimlichen Vater des freiheitlichen Deutschland" genannt und an die Mahnung Carlo Schmids erinnert hat, daß "die Qualität des Staates rasch zum Teufel gehen kann, wenn seine Bürger gegen die geistigen und gegen die moralischen Impulse stumpf werden". Ihr Beifall gilt dem Carlo, den der Willy damals zitiert hat und den der Sontheimer wieder ans Licht gezogen hat.

Lassen Sie mich schließen mit einem Wort aus einer anderen Buchbesprechung dieser Tage. In der FAZ hat Wilhelm Hennis, der früher einmal Mitarbeiter von Carlo gewesen ist in seinen jungen Jahren, in einer Buchbesprechung über dieses Buch geschrieben:

"Eine Figur wie Carlo Schmid, auf den sich immer alle gerne beriefen, fehlt heute im geistigen Haushalt der Nation. Und niemand, der ihm auch von ferne gleichen würde, ist seitdem nachgewachsen". Dem schließe ich mich an. Herzlichen Dank.


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